Eine stumme Landschaft erzählt

Gunther Geltingers überambitionierter Roman „Moor“ macht keine Freude

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein erster Satz muss seine Leser packen. Er muss gut klingen. Er sollte schön sein. Und im Idealfall entpuppt er sich als Quintessenz des gesamten folgenden Textes. All dies gelingt Gunther Geltinger in seinem neuen, schlicht „Moor“ betitelten Roman. Ein packender, guter, schöner erster Satz: „Niemand spricht hier.“ Aber leider, leider ist damit auch schon alles über die folgenden, weit über vierhundert Seiten gesagt.

Dabei ist Geltingers Konstruktion äußerst vielversprechend, denn er lässt seinen Erzähler, das norddeutsche Moor selbst, aus der Du-Perspektive berichten. So eröffnet sich eine Art Zwiegespräch: Das Moor erzählt dem Protagonisten Dion Katthusen, was mit ihm geschehen ist. Ein schöner Einfall, der zu einem spannenden Ergebnis hätte führen können, wenn Geltinger nicht zu viel gewollt und eine tragfähigere Handlung gewählt hätte.

Die Geschichte von Dion und seiner Mutter ist nämlich denkbar uninspiriert: Sie, die erfolglose Malerin mit schwerer Kindheit, die ihren Lebensunterhalt als Prostituierte im nahen Hamburg verdient, hat eine inzestuöse Obsession in Bezug auf ihren Sohn. Er, dreizehn und von Geburt an stotternd, durchlebt ebenfalls eine schwere Kindheit, zugleich abgestoßen und angezogen von der Mutter. Beide sind Außenseiter im kleinen Heimatdorf, der Vater ist entweder ertrunken oder ertränkt worden, genau erfährt man das nicht – das Moor ist ein äußerst unzuverlässiger Erzähler. Auf jeden Fall beschäftigt sich der einsame Dion gleichermaßen mit Libellen, seiner Klassenkameradin Tanja und seinem etwas älteren Cousin Hannes.

Diese kaum Gutes verheißende Ausgangslage führt in der Folge zu einer Parade von Klischees: Dion fühlt sich mehr und mehr zu seinem Cousin hingezogen, fantasiert masochistische Träume zusammen, ist aber auch irgendwie in Tanja verliebt, die ihrerseits wieder – oder vielleicht auch nicht – nur an Hannes interessiert ist. Die Mutter, ohnehin labil, scheitert als Malerin endgültig, versucht sich das Leben zu nehmen, wird eingewiesen, lernt jemanden kennen, für eine kurze Zeit gibt es nach ihrer Rückkehr sogar eine Art Familienidylle (nicht ohne inzestuöse Andeutungen), doch dann zerbricht auch das wieder – bis sie schließlich das Haus verkauft und Dion mit Hannes flieht, der es im Dorf ebenfalls nicht mehr aushält. Dieses Gemisch aus psychoanalytischen Klischees und altbekannter Familientragödie präsentiert sich dem Leser in einer Sprache, die so unbedingt pubertär sein möchte, dass es kaum auszuhalten ist. Und als wäre all das noch nicht genug, wird auch noch die Chronologie über Bord geworfen, sodass immer wieder aufscheint, wie die deutlich gealterte Mutter einsam in ihrer Wohnung verkommt und einen Roman ihres nun fast vierzigjährigen Sohnes liest, der offensichtlich genau das behandelt, was auch in „Moor“ erzählt wird – Dions Kindheit. Ein Spiel auf allen Ebenen also, mit der Zeit, der Erzählperspektive, der Sprache. Ein Spiel, das Geltinger verliert, weil er sich in den vielen losen Enden selbst verstrickt. Je deutlicher das erzählerische Experiment scheitert, desto klarer tritt die dürftige Geschichte hervor und desto missmutiger wird der Leser. Das Ende setzt dem Ganzen dann die Krone auf, indem alles exakt so kommt, wie man es von Anfang an erwartete. Oder ist das nur eine Finte des gerissenen Moors, dieses unpersönlichen, wahnwitzigen Beobachters aller Geschehnisse? Schwer zu sagen. Im Grunde aber auch unwichtig.

So bleibt nach dem Zuklappen nur der Nachklang jenes ersten Satzes übrig: Niemand sprach hier. Ein ganzer Roman über einen, der nicht richtig sprechen kann, erzählt von einer stummen Landschaft – ein Roman, der viele Worte macht, aber rein gar nichts zu sagen hat. Das ist sehr enttäuschend, mit einer weniger platten Handlung und einer etwas weniger affektierten Sprache wäre schließlich Großes möglich gewesen. Vielleicht soll die Trostlosigkeit in Dions Leben aber auch durch die Trostlosigkeit des Lesers nach der Lektüre erfahrbar gemacht werden. Dieser Versuch wäre dann immerhin geglückt.

Titelbild

Gunther Geltinger: Moor. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
441 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423936

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch