Gut gelaunt verachten

Warum in „Enzensbergers Panoptikum“ die Vor- die Nachteile überwiegen

Von Markus JochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Joch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aber den schönsten Essay hat wieder unser Hans Magnus geschrieben, werden die Freunde der FDP finden. Dabei fängt „Geschenkt!“, einer der noch nicht im „Spiegel“ vorab gedruckten Versuche, ganz harmlos an, mit der Begründung nämlich, warum Marx’ Wort, der Kapitalismus lasse zwischen den Menschen kein anderes Band übrig als die bare Zahlung, arg versimpelt. Es ignoriert alles, was nur gewährt, nicht gefordert werden kann, die freiwilligen Gaben – vom Verdienstkreuz über das Spenden und Stiften bis zur selbstlosen Hilfe in Familien. Stimmt. Und?

Jetzt kommt der Clou: Da die Gabe zu den vornehmsten Traditionen des Menschengeschlechts gehört, wie schon ein französischer Anthropologe am Beispiel der Maori zeigte, dürfe sich jener deutsche Philosoph bestätigt sehen, der 2009 forderte, Zwangssteuern abzuschaffen und sie in freiwillige Zuwendungen an die Allgemeinheit umzuwandeln. Mit Marcel Mauss und den Südsee-Insulanern für den Steuerrebellen Peter Sloterdijk, gegen die leidigen Ansprüche des Sozialstaats – ein Witz für alle, die beim Wort Steuern ums Menschenrecht auf Dritturlaub bangen (,Neoliberale‘), und bizarr schon deshalb, weil die Anthropologie gekapert wird. Mauss selbst schätzte den Gabentausch in archaischen Gesellschaften als Ritual der Noblesse und des sozialen Zusammenhalts. Genau auf den pfeift der Intellektuellentypus, der sich durch Geschenke Steuerpflichten entziehen will. Auch bestaunt Enzensberger gerade mal zwanzig Seiten zuvor den funktionierenden Öffentlichen Nahverkehr als eines der „normalen Wunder“ – „Der Bus kommt wirklich“ –, ohne sich zu fragen, ob das Mysterium womöglich ausbleibt, wenn man verpflichtende Abgaben auf Almosen umstellt.

Recht ungehalten äußert sich der sonst so Vergnügte im Übrigen über die Gegner des armen Peter, die auf denselben „eingeschlagen“ hätten, „voller Wut und Häme“. Gemach. Umverteilungen durch den Staat, hatte Hauptkritiker Axel Honneth seinerzeit eingewandt, sind nötig, da die Einkommensdifferenzen in Marktwirtschaften so krass ausfallen, dass sie dem bürgerlichen Leistungsprinzip selbst widersprechen. So etwas nennt man ein Argument, zumal mit Blick auf die Fehlleistungsträger der Banken.

Enzensberger übergeht es, weil er eine milde symbolische Gabe spenden will. Lobt er den „Mut“ Sloterdijks, belohnt er dessen Wohlverhalten. Der Karlsruher Aufruf zum Aufstand der Steuerzahler („Revolution der gebenden Hand“) folgte ja einer Umsturz-Metaphorik aus dem Hause Enzensberger, kreiert 1998, als der frisch gekürte Träger des Heinrich-Heine-Preises die Sozialdemokraten zu neuen Aristokraten stilisierte, die ein viel zu duldsames deutsches Bürgertum unter schweren Abgabenlasten ächzen ließen. „Laßt ab!“, denn „die Gutmütigkeit [ist] eine knappe Ressource, die nicht Ausbeutung verdient, sondern Schonung“, lautete damals die versteckte Drohung. Aus ihr eine offene gemacht hat Meisterschüler Sloterdijk, stellvertretend für die zu Sozialzynikern mutierte 68er-Fraktion, die ihrem Schwabinger Schrittmacher verlässlich, wenn auch mit der üblichen Zehn-Jahres-Verspätung hinterher trottet.

Und doch, so trübe diese Allianz anmutet, wirkliche Lust auf Enzensberger-Schelte will nicht aufkommen. Zum einen, weil man sich erinnert, dass er das Überzeugendere, den Vorbehalt gegen marxistische Reduktionismen, bereits äußerte, als sie noch schick waren, tief in den 1970er-Jahren Jahren. Konjunkturhörigkeit zu unterstellen wäre also schon mal falsch. Vor allem aber wirkt das Wohlfeilere, die Volte gegen Steuerlasten, eher untypisch für die jüngsten Essays, nur wie die Endmoräne der Routineprovokation, als Ex-Wortführer der Neuen Linken ihren Veteranen und Nachfahren eins auszuwischen. Wohl auch, weil sich der Neuigkeitswert dieser Übung in den letzten dreißig Jahren verschlissen hat, richten sich die polemischen und/oder ridikülisierenden Energien nicht mehr primär gegen die ehemaligen Genossen. Der marxistische Ökonomismus wird eher beiläufig aufs Korn genommen, dafür umso intensiver der entgegengesetzte. Richtig zu leiden im „Panoptikum“ haben die Prediger des freien Marktes.

Heißt es von Ökonomen der neoklassischen Schule, ihre Rede von einem unvermeidlich dem Gleichgewicht zustrebenden Markt versetze einen „in eine idyllische Welt mit märchenhaften Zügen“, klingt das zunächst nur nach einer der zahllosen Kapitalismuskritiken, die seit der Finanzkrise wieder en vogue sind. Unter ihnen aber bleibt Enzensbergers Stimme eine besondere. Wenn er besagten Wirtschaftswissenschaftlern eine blamable Prognostik bescheinigt und nebenbei den Rat gibt, „die Wissenschaft den Wissenschaftlern [zu] überlassen, auch wenn das dem Fachmann nicht erlaubt ist“; Fondsmanagern und Anlageberatern nachsagt, ihre durchschnittliche Trefferquote komme „der eines Zufallsgenerators nahe“, vernehmen wir mehr als nur hübsche Bonmots. Der Spott macht zudem den entscheidenden Unterschied zu „Ego“ aus, Frank Schirrmachers scheinbar verwandtem Bestseller.

Bekanntlich rechnet auch der „F.A.Z.“-Herausgeber mit der Lehre ab, nach der die Menschen nur ihren ökonomischen Vorteil suchen, ausschließlich den rationalen Eigennutz kennen, sonst nichts. Schirrmacher jedoch, alarmistisch, sieht in der neoliberalen Ideologie eine allmächtig gewordene Mentalität, die unseren Seelenhaushalt zu kolonisieren, auch jenseits von Finanzplätzen unsere Interaktionen zu steuern beginne. Ganz anders der Entwarnungston bei Enzensberger, er will auf Ohnmacht und Pleiten der Ideologen hinaus. Mikroökonomisch entgehe ihnen, dass reale Wirtschaftsakteure, „die Leute“, vom rationalen Eigennutz häufig meilenweit entfernt handeln, vorsätzlich verschwenderisch etwa. Makroökonomisch stoße die Lehrbuchvernunft erst recht an ihre Grenzen: „Systeme wie die globalisierte Wirtschaft, die einen gewissen Grad von Komplexität überschreiten, sind einfach nicht mehr berechenbar. Wundern kann man sich höchstens über das Selbstbewusstsein der sogenannten Analysten, die Tag für Tag ihren nächsten Irrtum verkünden, ohne je an ihrer Unfehlbarkeit zu zweifeln.“

Das liest man gern, als Dämpfer für Gestalten, die das Gefühl der Peinlichkeit nicht kennen, wie auch als Ohrfeige für alle, die der „Börse vor acht“ so ergeben lauschen wie einst Opa und Oma dem Volksempfänger. Man liest den Befund auch dann gern, wenn man seinen blinden Fleck bedenkt. Wer, wie Enzensberger durchgehend, Chaos und Unberechenbarkeit zu schicksalhaften Marktmerkmalen erklärt, die die Ökonomen wie das politische Personal überforderten, sagt nur die halbe Wahrheit, blendet die Kategorie Verantwortung aus. Zu fragen bleibt nun mal, was die Politik, von Thatcher bis zum ,wirtschaftsnahen‘ Flügel von Rot-Grün, zur Deregulierung der Finanzmärkte gezwungen hat. Die Gene?

Dass, von dieser Schwäche abgesehen, „Mikroökonomie“ und „Über unlösbare Probleme“ überzeugen, hängt mit ihrem Datum zusammen. Die beiden Texte wider die Marktanbetung erschienen bereits in „Spiegel“-Ausgaben vom Oktober 2011 – ein gutes Jahr vor „Ego“ und fast zwei, bevor Jochen Hörisch in „Man muss dran glauben“ die sensationelle Entdeckung machte, dass Zweifel an der segensreichen Wirkung der invisible hand für die meisten Ökonomen ein tabubewehrtes Sakrileg darstellen. Für Enzensbergers Vorsprung auf dem neuen Markt der Marktschelte, erst im Lauf dieses Jahres deutlich geworden, gibt es zwei Gründe.

Anders als die diskursive Nachhut, die er ermutigte, musste dieser Autor Distanz zum Markt nicht erst nach 2008 aufbauen. In Verteilungsfragen spricht der Spitzenverdiener unter Deutschlands Schriftstellern zwar ganz im neoliberalen Geiste (siehe oben), als Lyriker jedoch steht er ihm seit je fern, namentlich dem Glauben, dass nur, was sich ökonomisch rechnet, von Wert sei. „Ein Marktwirtschaftler würde sagen, daß es die Poesie eigentlich gar nicht geben dürfte. Wenn sie nach Stücklohnkosten und Umsatz, Angebot und Nachfrage, Aufwand und Ertrag schauen, hat der Mann recht. Aber die Marktwirtschaft ist zum Glück nicht der Stein der Weisen“, bemerkte er einmal 1994 − als der Markt noch als solche Gesteinsart galt. Der eingefleischte Anti-Ökonomismus des Lyrikers färbt auf den Essayisten ab, was diesem nun zum Vorteil gereicht.

Zudem verfügt Enzensberger über ein rhetorisches Muster, mit dem sich die Akteure der Finanzwirtschaft elegant vorführen lassen. Sie schrecken vor Aussagen über die Zukunft nicht zurück, obwohl sie damit regelmäßig auf die Nase fallen? Scheitern mit ihren schönen Abstraktionen und Berechnungen ständig an Widerspenstigkeit und ,Unvernunft’ „der Leute“? Genau so hat der gleiche Autor vor ein paar Jahrzehnten allzu zukunftsgewisse und theorieverliebte Linke bespöttelt; auch sie sah er am Störfaktor der „Leute“ verzweifeln („Über die Schwierigkeiten der Umerziehung“ 1971, „Politische Brosamen“ 1982). Er ist in der komfortablen Lage, eine ältere Argumentationsfigur beibehalten zu können, nur das Angriffsobjekt austauschen zu müssen – nicht der kleinste Grund für seine gute Laune.

Auch versteht sich niemand so gut auf den Hohn im Gewand des Mitgefühls. Soll man die Berufspolitik, wie es das landläufige Genörgel will, machtversessen nennen, visionslos oder korrupt? Nicht doch, für sie gibt es ein höflicheres, zugleich verletzenderes Attribut: „bedauernswert“. Vom Bildungs- über das Gesundheits- bis zum Finanzministerium verhedderten sich die Herrschaften in einem Gestrüpp unvereinbarer Interessen; mit dem Handlungsspielraum der selbst ernannten Gestalter ist es demnach nicht weit her. „Bedauernswert“ zählt zu den wenigen rekurrenten Vokabeln im „Panoptikum“; aus ihr spricht die Generallinie, so genannten Eliten statt Machtmissbrauch Ohnmacht nachzuweisen, sie zu bemitleiden, also zu demütigen, statt sich über sie zu beklagen.

Den Hohn auf die Spitze treibt ein heiteres Berufsgruppen-Bashing, das vorgibt, Erfolgsgeschichten zu erzählen. „So ist der Marktschreier im zwanzigsten Jahrhundert zum Chef von bedeutenden Konzernen der Werbebranche aufgestiegen; der Possenreißer mutierte zum Entertainer, Moderator und Showmaster, selbst der bescheidene Bader hat sich zum Schönheitschirurgen, und der Wahrsager auf dem Jahrmarkt zum wohlbestallten Chefökonomen gemausert“: Angeblich den „Triumphzug einst geschmähter Berufe“ festzustellen, tatsächlich auf ihre mindere Abkunft abzuheben, zählt zu den ausgesuchtesten Frechheiten. Immer schon beherrschte es Enzensberger, den Kreisen, bei denen zwischen Selbstbewusstsein und Bedeutung ein besonders steiles Gefälle besteht, die Luft süffisant herauszulassen. So gewinnt man fast alle Lesergruppen, bis auf die gerade betroffene vielleicht.

Von der angemessenen Herablassung ist es allerdings nicht weit zur Überheblichkeit. Ein Beispiel für sie bieten die über weite Strecken weisen Überlegungen zu den „Tücken der Transparenz“. Eine Sache ist es hervorzuheben, dass die durchs Internet geförderte Flut von Enthüllungen auf nur mehr mattes Interesse stößt, weil das Publikum durch die schiere Masse an Information überlastet ist. Und ja, man kann pointieren, dass das Transparenzgebot, ein Zentralprojekt der Aufklärung, durch Verwirklichung zu scheitern droht, daran, dass wir „bereits bis zur Erschöpfung aufgeklärt sind“. Etwas anderes ist es, die negative Dialektik überzustrapazieren, weil man mal wieder besonders kaltblütig wirken will. Das geschieht, wenn man die Leistungen von WikiLeaks kleinredet durch die Behauptung, Bradley Mannings Irak-Kriegs-Enthüllungen mit Hilfe der Plattform seien „auffallend wirkungslos“ geblieben.

Die Begründung: „Guantanamo ist nach wie vor ein rechtsfreier Raum. Entführungen und gezielte Tötungen gehören nicht nur in den USA zur Praxis der ,Spezialeinheiten‘“, trifft zu, ändert aber wenig an einer sehr wohl angebbaren Wirkung: WikiLeaks’ Bordvideo des „Apache“-Hubschraubers vom Juli 2007, das zeigt, wie die Besatzung in der Nähe von Bagdad eine Gruppe Zivilisten zusammenschießt, hat sich dem kollektiven Gedächtnis weltweit als Inbild der Menschenverachtung eingebrannt, die Legitimation eines Kriegsunternehmens nachhaltiger beschädigt als alle Protesttexte zusammen. Wenn Enzensberger einen mit Händen greifbaren Effekt nicht sehen will, spielt ihm das Unbewusste einen Streich. Er missgönnt den jungen Leuten um Assange, mit gewaltigem Erfolg verwirklicht zu haben, was er selbst einmal mit Anfang vierzig projektierte: aggressive Formen der Öffentlichkeit („Baukasten zu einer Theorie der Medien“, 1970).

Das war es aber schon mit den Alterserscheinungen, und man sollte sie nicht überbewerten. Genau so wahr ist, dass er unlängst die Größe zeigte, sich vor den Jüngeren zu verbeugen. „Die als Verräter gebrandmarkten Pfeifenbläser wie Mr. Ellsberg, Mr. Drake, Mr. Brown, Mr. Manning und Mr. Snowden sind es, die der Verfassung ihres Landes die Treue halten“, stellte er im „Spiegel“ fest (5. August), um sie dann in „Titel, Thesen, Temperamente“ (18. August) zu „Helden des 21. Jahrhunderts“ zu erklären. Wahr gesprochen. Beachtenswert ist die Fähigkeit des Mittachtzigers, den falschen Zungenschlag einer seiner Essays beiläufig zu korrigieren, womit er der Gattungsbezeichnung die Treue hält.

(Überhaupt, alles Störrische, Verknöcherte, Bräsige geht ihm ab. Weiterer Unterschied zu Grass: Die Finger von einem Thema zu lassen, zu dem man sich als Deutscher der 1920er-Jahrgänge nur sehr vorsichtig äußern sollte. Irgendwelche Mahnungen zu, gar Warnungen vor israelischer Politik hat man von Enzensberger nie vernommen, so auch hier nicht. Kein Essay zu Israel ist schon ein Gedicht, Verdienst nur durch Verzicht. Mit Schweigen und Nachdenken könnte es auch mal der Nahost-Experte zu Lübeck versuchen.)

Bisweilen hält sich die Originalität der neuen Texte in Grenzen. Dass es, zum Beispiel, den Künstlern immer weniger gelingen will, das Publikum zu provozieren, sie an seiner grenzenlosen Geduld scheitern, was immer sie auch anstellen, wird kaum jemanden überraschen und las man beim gleichen Autor bereits 1982. Doch Wiederholungen und/oder Gemeinplätze sind die Ausnahme. Die Regel sind hellwache Essays, Werbungen für die Gattung, die wohl auch Michel de Montaigne, den Ahnherrn der kleinen Form, beeindruckt hätten.

Wer außer Enzensberger könnte auf sechs Seiten den Siegeszug der Fotografie erklären? Eine höchst gehaltvolle Ehrung, die die Mutter aller modernen visuellen Medien für Omnipräsenz und Wandelbarkeit auszeichnet, überdies eine medientheoretische Pointe andeutet. Walter Benjamins These, die Fotografie führe aufgrund ihrer Reproduzierbarkeit zum Aura-Verlust von Kunst, wird unausgesprochen umgekehrt: Das Lichtbild selbst hat es, zumindest in manchen seiner Exemplare und Handhabungen, zu Aura und Kunstwert gebracht.

Wahrscheinlich verdankt sich diese Verbeugung auch der homologen Stellung von Fotografie und Essay. Die eine hatte lange um Aufnahme in die Reihe der Bildenden Künste zu kämpfen, der andere um die Anerkennung als vierte literarische Gattung. Künstlerische Legitimität erlangt hat die eine wie der andere dank der versiertesten Vertreter. Was für die Fotografie heute Gerhard Richter und Andreas Gursky sind, ist für den Essay – genau.

Enzensbergers Raffinesse in eigener Sache ist beträchtlich. Wer schon im Titel nicht weniger als eine panoptische Sicht beansprucht, sich einem Patchwork von zwanzig denkbar diversen Themen widmet, dabei auf kaum eines mehr als sechs Seiten verwendet (um „weder den Leser noch den Gegenstand zu erschöpfen“) – also die Rundum-Zuständigkeit mit dem Willen zur Kürze paart – der weiß, dass Hüter der Gründlichkeit das schwer bedenklich finden werden, oberflächlich, anmaßend, unseriös. Typisch essayistisch! Umso ausgekochter, weil damit scheinbar gar nicht zusammenhängend, die Kurz-Abhandlung zu „Sechs Milliarden Experten“: Vorderhand präsentiert sie nur allerlei putzige Beispiele für privat anhäufbare Kenntnisse, Freakwissen inklusive („Auch auf dem Gebiet der Erdalfrösche kann er als Autorität gelten“). Tatsächlich aber geht es darum, Expertisen durch den Nachweis ihrer Inflationierung zu entwerten. Besitzt fast jeder auf seine Art Expertenwissen, gibt es niemanden, der sich viel darauf einbilden könnte. Womit dem gegen Essayisten gern gerichteten Inkompetenz-Vorwurf indirekt geantwortet wird, nicht seriös zwar, aber pfiffig.

Journalismus und Internet, den Aufmerksamkeitskonkurrenten, die Montaigne in den 1580er-Jahren noch nicht am Hals hatte, zeigt sich Enzensberger bereits durch Witz und Verdichtungskunst überlegen. Hinzu aber kommt der Biss, von dem in den bisherigen Besprechungen leider kaum die Rede war. Im Gegenteil, Helmut Mayer rühmt in einer kreuzbraven „F.A.Z.“-Rezension, wie unaufgeregt dieser Autor doch sei, allzeit ruhig und entspannt. Beleg: Seine Überlegungen zur Abschaffung der Privatsphäre im Zeichen von Online-Existenz und Datenauswertung liefen darauf hinaus, „dass die Durchmusterung unseres Lebens nach Kosten-Nutzen-Rechnung funktioniert – und darin ihre Grenze findet. Die letzten Widerspenstigen auszuforschen und zu disziplinieren – ein viel zu teures Unterfangen. Bei fünf Prozent, also immerhin vier Millionen Bürgern, sieht Enzensberger die Grenze. Und das sei doch gar nicht schlecht. ,Also: Nur keine Panik!‘ Die traut man Enzensberger ohnehin nicht zu.“

Das ist nicht mal die halbe Wahrheit. Natürlich gibt Enzensberger gern den Gelassenen, auf die handelsübliche Ablehnung von Kulturpessimismus versteht er sich. Am besten aber ist er, wenn er dieses ganze Abgeklärtheits-Gehabe abstreift. Gerade im Text zur Online-Überwachung, dem angeblichen Beweisstück für Gelassenheit, brodelt der ewig junge Sarkasmus.

Denn „Armer Orwell!“, das Glanzstück, begnügt sich nicht mit der Feststellung, dass der Zangengriff von IT-Firmen und Regierungen auf unsere Freiheit erfolgreich ist. Auch nicht damit, dass die Überwachung aller sich ganz ohne Gewaltanwendung erreichen lässt, anders als Orwell wähnte. Nein, der springende, der heikle Punkt ist die Willfährigkeit, mit der die meisten die Zerstörung ihrer Privatsphäre hinnehmen – wenn sie ihr nicht zuarbeiten, wie die Anhänger der sozialen Netzwerke in ihrem Exhibitionismus. Facebook-Menschen und nicht nur sie stellen ihre Daten eben freiwillig zur Verfügung. Was der Internetkritiker Evgeny Morozov im vergangenen Sommer unter großem Medienecho kritisierte – als sei er der einsame Rufer in digitalenthusiastischer Wüste –, problematisierte Enzensberger schon im März 2012 (ebenfalls im „Spiegel“).

Kein Zufall, dass unser Autor aus dem Bildungsfrüchtekorb das genau passende, von einem Jugendfreund Montaignes stammende Werk herausgreift, den Traktat über die Freiwillige Knechtschaft. Die Zustimmung der Beherrschten zum Beherrscht-Werden treibt Enzensberger seit Ewigkeiten um; ihr gilt seine lebenslange Verachtung; man erinnere sich an seinen Erstling „verteidigung der wölfe gegen die lämmer“ (1957). So viele Standpunkte er verlassen hat, mindestens einer thematischen Obsession ist er treu geblieben – mit dem Ergebnis, dem intellektuellen Feld der Gegenwart erneut voraus zu sein.

„Zehn-Minuten-Essays“ nennt Hans Magnus Enzensberger die neuesten Abhandlungen, doch das Understatement lügt. Viele von ihnen liest man so oft, dass selbst „fünfzig Minuten“ untertrieben wären. Manche entfalten ihre volle analytische Kraft erst nach einem Jahr aufwärts. Und womöglich ist sogar ein Klassiker dabei. Die Zeit mahlt alles, aber „Armer Orwell!“ hat eine sehr gute Halbwertszeit.

Titelbild

Hans Magnus Enzensberger: Enzensbergers Panoptikum. Zwanzig Zehn-Minuten-Essays.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
141 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518069011

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