Eine Idee von gestern?

Mark Mazower liefert in „Die Welt regieren“ die facettenreiche Geschichte einer Idee mit pessimistischer Perspektive

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der ewige Friede sei ein Traum und nicht einmal ein schöner, schrieb mit kaum verholender Herablassung der preußische Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke im Dezember 1880 an den Schweizer Professor Johann Kaspar Bluntlischi. Anders als der damals im badischen Karlsruhe lehrende Völkerrechtler, der dem Feldherrn der Einigungskriege sein Handbuch des Kriegsvölkerrechts mit der Bitte um eine Würdigung zugesandt hatte, sah Moltke wenig Sinn in internationalen Rechtsvereinbarungen, da nach seiner Ansicht jedes Gesetz einer Autorität bedürfe, die seine Ausführung überwache und handhabe. Dies aber könne nach seiner Überzeugung immer nur die eigene Regierung sein, denn welcher dritte Staat würde wohl zu den Waffen greifen, weil von zwei kriegführenden Mächten durch eine – oder beide – Parteien die lois de la guerre verletzt seien?

Der renommierte Sieger von Königgrätz und Sedan hätte sich damals kaum vorstellen können, dass einmal eine Großmacht wie die Vereinigten Staaten im Falle Syriens ernsthaft erwägen könnte, wegen massiver Völkerrechtsverletzungen in einen langwierigen Bürgerkrieg einzugreifen, ohne dass ihre Interessen erkennbar berührt wären.

Allerdings war auch Moltke, der für einen Militär über eine außergewöhnliche literarische Bildung verfügte, keineswegs entgangen, dass der Gedanke internatonaler Vereinbarungen, die nationales Recht binden könnten, zu seiner Zeit bereits eine erhebliche Aufwertung erfahren hatten und insbesondere von Vertretern der angelsächsischen Welt und Angehörigen kleinerer Staaten mit wachsendem Eifer und Erfolg verbreitet wurde.

Seit nur ein Jahrhundert zuvor der britische Philosoph Jeremy Bentham den Begriff des „Internationalismus“ geprägt hatte, war die Vision des Grafen Saint Simon und seiner Schüler, dass die „Evolution“ die Nationalstaaten schließlich zu einer Weltregierung führen würde, zum gängigen Credo aller Internationalisten geworden.

Der in New York lehrende Historiker Mark Mazower hat in seiner nun auch in deutscher Übersetzung erschienenen Studie der Idee von einer Weltregierung nachgespürt und zwar von ihren euphorischen Anfängen im Vorfeld der französischen Revolution bis zu den jüngsten Ernüchterungen, welche das wiederholte Versagen der so genannten Weltgemeinschaft angesichts der globalen Probleme verursacht hat. Mazower zufolge wurde schon auf dem Wiener Kongress von 1815 der erste bedeutsame Versuch unternommen, internationale Konflikte durch ein Netz gemeinsamer Absprachen und Verpflichtungen beizulegen oder sie sogar im Ansatz zu verhindern.

Vielen Visionären eines neuen Zeitalters des Völkerfriedens und der Brüderlichkeit, darunter vor allem Vertreter der evangelikalen Bewegungen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, ging dies damals nicht weit genug. Sie sahen in dem neuen „Konzert der Großmächte“ nur eine Fortsetzung des üblichen diplomatischen Geschachers der in ihren Augen degenerierten europäischen Höfe und träumten stattdessen von einer neuen Weltregierung, in der Aggressoren keinen Platz mehr haben sollten. So veranstalteten sie eine Reihe von Friedenskongressen oder verfassten futuristische Schriften wie der britische Journalist George Griffith. In dessen 1892 erschienenem Roman „Angel of the Revolution“ gelangt eine „Bruderschaft der Freiheit“ in den Besitz einer Flotte von neuartigen Luftschiffen mit einer gewaltigen Zerstörungskraft und zwingt die versammelten Vertreter der rivalisierenden europäischen Großmächte, sich ihren Forderungen nach einer allgemeinen Entwaffnung und einer Umverteilung des Bodens zu unterwerfen. Dass allein der deutsche Kaiser gegen diesen „Despotismus des Friedens“ aufbegehrt, wenn auch vergeblich, dürfte Griffiths Leser im Vereinigten Königreich kaum gewundert haben. Die Preußen galten von jeher als Internationalisten ohne jeden Enthusiasmus und schickten lediglich deshalb ihre Vertreter zu den beiden Haager Abrüstungskonferenzen, um gegenüber der europäischen Öffentlichkeit den Schein zu wahren. Wie absurd gerade deutschen Staatsrechtlern der Gedanke eines internationalen, verpflichtenden Rechts erschien, zeigt auch der von Mazower zitierte Carl Schmidt, der den westlichen Völkerrechtlern vorhielt, sie redeten über ihren Gegenstand, als ob es jenseits der vorherrschenden Machtverhältnisse einen quasi-metaphysischen Ort seiner Existenz gäbe. Hinter supranationalen Organisationen und deren Ansprüchen argwöhnten deutsche Staatsrechtler vor allem nach den Erfahrungen von Versailles nur neuerliche Versuche einer Einschränkung staatlicher Souveränität. Daher überrascht es Mazower auch nicht, dass die Nationalsozialisten, als sie dann 1942 Europa vom Atlantik bis zum Kaukasus beherrschten, nur mit Widerwillen an die unvermeidliche Neuordnung des Kontinents dachten. Dass aber die Welt umspannende Bünde wie der Völkerbund von 1919 oder die Vereinten Nationen keineswegs das Ende nationaler Politik bedeuten mussten, macht Mazower in der zweiten Hälfte seines Buches deutlich. Es war nach seiner Ansicht eher eine nur halbherzige betriebene Propaganda, die Präsident Woodrow Wilsons beglückende Idee vom ewigen Völkerfrieden 1919 ausgerechnet in den Vereinigten Staaten scheitern ließ. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begriff Washington, dass sich eine internationale Organisation wie die UNO durchaus in den Dienst seiner neuen Weltmachtpolitik stellen ließ und sich damit sogar die eigenen Handlungsoptionen erweiterten. Harry S. Trumans militärische Intervention in Korea unter dem Dach der Vereinten Nationen war dafür das prominenteste Beispiel, ebenso gelang es auch George Bush sich 40 Jahre später die Unterstützung der so genannten Weltgemeinschaft für den zweiten Golfkrieg zu sichern, während sein Sohn daran scheiterte, gleichwohl aber seinen Kriegskurs gegen den Irak unilateral fortsetzte.

Doch es sind nicht derartige Alleingänge der Supermächte, die nach Mazowers Ansicht der Idee einer Weltregierung in erster Linie entgegenstehen. Die neue Bedrohung der internationalen Politik scheint nicht mehr von nationalen Regierungen auszugehen, sondern inzwischen eher von einer wachsenden Zahl internationaler Netzwerke aus Finanzkonzernen, so genannten Experten der mittleren Ebene und superreichen Philanthropen. Dieses kaum noch zu durchschauende Geflecht von Beziehungen und Interessen, das in den letzten drei Dekaden gigantische Ausmaße erreicht hat, unterliegt immer weniger einer demokratischen Kontrolle. Ganz im Gegenteil könnten sie mit ihrer finanziellen und publizistischen Macht zu einer ernsthaften Bedrohung gerade für die erodierenden Demokratien in Europa werden. In diesem wenig verheißungsvollen Kontext einer zunehmenden Atomisierung der westlichen Gesellschaften und einer wachsenden Machtlosigkeit oder Gleichgültigkeit ihrer gewählten Repräsentanten erscheint Mazower der beinahe 200-jährige Traum von einer Weltregierung längst schon als eine „Idee von gestern“. Sollte er mit seiner pessimistischen Einschätzung recht behalten, wären es wohl die inzwischen gründlich zum Internationalismus bekehrten Deutschen, die mit ihrem unverbrüchlichen Festhalten an der Vision eines vereinten Europas ihrem Ruf als verspätete Nation einmal mehr bestätigten.

Titelbild

Mark Mazower: Die Welt regieren. Eine Idee und ihre Geschichte.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulla Höber und Karin Wördemann.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
464 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783406648694

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