Unendlicher Deutung voll

Wolfram Groddeck geht Friedrich Hölderlins Elegie „Brod und Wein“ philologisch-poetologisch kommentierend nach

Von Daniel Tobias SegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Tobias Seger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lyrik ist eine schwierige Gattung. Für Leser – die es ernst meinen – wie für Deuter – die den Anspruch haben, den Text wirklich als Ganzen zu erfassen, ihn nicht einfach umstellen wollen mit Zeitumständen, Kontexten und Versmaßen.

Blickt man auf ‚Definitionen‘, was Lyrik sei – ratlos bleibt der willige Leser zurück. Besonders schön sind da Beiträge aus den frühen 1960er-Jahren. Etwa die Worte Gero von Wilperts, der sich nun wahrlich um die Lyrik verdient gemacht hat: Lyrik sei die „Gestaltung seelischer Vorgänge im Dichter“, die durch „erlebnishafte Weltbegegnung“ entstehe, ins „Allgemeingültige, Symbolische“ erhoben werde und sich dem Leser durch aufnehmendes und einfühlendes „Mitschwingen“ erschließe. Der Objektivierung in Epik und Dramatik stünde in der Lyrik eine „ästhetische Formprägung im Sprachkunstwerk“ gegenüber, die vom „ausströmenden Seelenlied“ bis zur „bewusstesten und durchgeistigsten“ Form reiche und mit Reim- und Versregeln nur ansatzweise zu beschreiben sei.

Lyrik entzieht sich. Aber wenn ihr Sich-Entziehen nicht einfach eine ‚Masche‘ ist (wie es bei Texten heutiger ‚Dichter‘ häufig vorkommt), ist Lyrik in der Tat die höchste Kunst. Und blickt man auf die Zeit der sogenannten ‚Kunstperiode‘, der Zeit also, als alles von der Kunst erhofft und erwartet wurde, der Zeit um 1800, dann ist Hölderlin derjenige, der am radikalsten das Höchste, will sagen das Göttliche, mit der höchsten Kunst in Korrespondenz gebracht hat. Das Gedicht ist ‚unendlicher Deutung voll‘, ‚nah, und doch schwer zu fassen‘, ein ‚Gefäß, mit Nektar gefüllt‘, doch in seinem Gefülltsein schwer zu erfassen. So nur einige Formulierungen Hölderlins im korrespondierenden Bannkreis von Gott – Gefäß – Gedicht.

Hölderlins Elegie „Brod und Wein“, entstanden wahrscheinlich im Winter des Jahres 1800, ist ein Gefäß im soeben beschriebenen Sinn. Es ist die im Aufbau gesetzmäßigste Elegie des Dichters: neun Strophen, drei Strophentriaden, die Strophe in 9 Distichen, syntaktisch (bis auf eine Ausnahme) mit 3×3 Distichen gestaltet. Ein schönes Gefäß, das zunächst auch zum „Mitschwingen“ einlädt. Kein Gedicht deutscher Sprache lässt so betörend den Abend vor dem inneren Auge des Lesers heraufziehen: Ruhe und Frieden kehrt ein in der Stadt, Fackeln werden entzündet, Saitenspiel aus Gärten ist zu hören, Brunnen plätschern, Glocken läuten, der Nachtwächter ruft die Stunde aus – und dann steigt der Mond auf:

Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf,
Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond
Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht kommt,
Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns,
Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen
Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.

Dann jedoch, in der zweiten Strophe, verändert sich der Ton. Schauplätze wechseln, Namen von antiken Helden tauchen auf, Orte in Griechenland werden genannt, die Distichen bekommen einen anderen ‚Schlag‘, brechen um, fallen aus dem Duktus und stimmen wieder ein. Das Gefäß füllt sich und wird übervoll. Wo die (vielleicht schwäbische) Stadt mit ihrer Abendstimmung war, geht es nun (2. Strophe) philosophisch um den Charakter der Nacht, um Vergessen und Erinnerung. Dann (3. Strophe) um Griechenland und einen kommenden Gott, um die Imagination eines ‚Götterhimmels‘ aus griechischem Geist (4. Strophe), der Vorstellung einer Anwesenheit des Göttlichen (5. Strophe) bei tatsächlicher Abwesenheit desselben (6. Strophe), was den Dichter in der 7. Strophe an seinem Beruf zweifeln lässt. In der 8. Strophe erfährt er dann Trost über die von den Göttern zurückgelassenen Zeichen von Brot und Wein, womit der griechische Kontext mit dem Gedanken des christlichen Abendmahls verbunden, und in der Schlussstrophe weiter vertieft wird.

Das Gedicht „Brod und Wein“ wird in der Forschung immer wieder als „beste Grundlage zum Eindringen in Hölderlins Gedankenwelt“ angesehen. Aber obwohl bereits einige monografische Auseinandersetzungen mit diesem übervollen Text  (etwa die Arbeiten von Petzold (1896), Schmidt (1968), Böschenstein (1991)) und zahlreiche Aufsätze zu Einzelproblemen vorhanden sind, die Überblicksdarstellungen zur Elegie (etwa in der Hölderlin-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlages (Band 1, 1992) oder im Hölderlin Handbuch (2002)) machen deutlich, wie schwierig es ist, den 160 Versen gerecht zu werden.

Ein neuer Versuch, sich Hölderlins „Brod und Wein“ zu nähern, stellt Wolfram Groddecks umfangreiche Studie dar, die unlängst im Stroemfeld Verlag erschienen ist und deren immenser Gehalt sich wohl erst im Wechselspiel kommender Arbeiten zum Gedicht ganz entfalten wird. Denn nicht um eine interpretierende Gesamtdeutung geht es Groddeck auf den über 300 Seiten, kein Erkenntnisinteresse, angeführt etwa durch eine geistesgeschichtliche, mythologische, religiöse, politische, geschichtsphilosophische oder psychologische Lektüre wird an den Text herangetragen. Vielmehr geht es Groddeck um das „Jetzt der Lektüre“, was für ihn heißt, das Gedicht „als Ort poetischer Denkerfahrung“, als „Resonanzraum komplex auf einander bezogener Klänge, Bilder, Gnomen“ zu erschließen. Dieses Lektüre-Verfahren veranschaulicht er am Modell der Architekturmetapher: Der Text wird in seinem Bau sichtbar, „als begehbarer Ort, in dem man sich lesend bewegt und wo die verschiedenen formalen, rhythmischen, proportionalen und semantischen Aspekte der Elegie, abhängig von der eigenen vor- und zurückgehenden Bewegung durch den Text, als korrespondierende Elemente wahrgenommen werden und sich zu kohärenten oder sprunghaften Bedeutungen zusammenfügen“. Was Groddeck anbietet, mit einer Übersicht, Umsicht und Genauigkeit, die den Leser bisweilen einzuschüchtern vermag, ist ein philologisch-poetologischer Gang durch „Brod und Wein“, der auch der bemerkenswerten Überlieferungssituation Rechnung trägt. Denn Hölderlin hat seine Elegie nie zum Druck gegeben. Unter dem Titel „Die Nacht“ ist die erste Strophe von „Brod und Wein“ im Musenalmanach auf das Jahr 1807 in einer durch Seckendorf redigierten Fassung erschienen. Der eigentliche Text jedoch ist in drei Handschriften überliefert: einem Entwurf, einer ersten Reinschrift mit späteren Änderungen und einer zweiten Handschrift mit bemerkenswerten Stil- und Konzeptionsänderungen. Es gehört zur Stärke von Groddecks Ansatz, der Überlieferungssituation nicht mit einer Textrekonstruktion zu begegnen, sondern die Differenz der widersprechenden und widerstreitenden poetologischen Konzepte als solche darzustellen und als Bestandteil seines auslotenden Gangs durch die ‚Räume‘ des Gedichts zu begreifen.

Immer wieder zeigt Groddeck überzeugend auf, dass Hölderlin den Verweiszusammenhang des Gedichts mit dem Unsagbaren nicht über ein Was oder Wie bewerkstelligt, sondern über ein Wo. Nicht (feststellbare) Inhalte, sondern die Bewegung der Sprache selbst, also das ‚Gemachtsein‘ des Gedichts aus Sprache konstituiert nach Groddeck einen Raum, dessen Bedeutungsfülle unendlich erscheint, der aber gleichwohl in seiner Einfachheit, mit Hölderlin gesprochen: seiner Einfalt erhalten bleibt.

Das Paradox jedoch bleibt bestehen – nicht nur als Paradox der Zeit um 1800, sondern auch als Paradox gegenwärtiger Lektüre(n): Die Bewegung der Sprache ist bei Hölderlin eine Bewegung auf der Grundlage härtester Regularien, die der griechischen Antike entstammen: Wortbetonungen, rhetorische Mittel, Versmaße, Strophenformen. Unendlichkeit, Undurchdringlichkeit – aber eben auf der Grundlage eines für Hölderlin wichtigen, unhintergehbaren Kontrakts mit der Tradition.

Das ist eine bekannte Diskussion der Zeit. Die Diskussion etwa zum Genie- und Graziebegriff nimmt sich diesem Problem an. Jochen Schmidt hat das bei Hölderlin treffend als die „idealistische Sublimation des naturhaften Genies zum poetisch-philosophischen Geist“ beschrieben.

Kunst ist etwas Gemachtes – im Falle von Hölderlins „Brot und Wein“ ein präzise gestimmter Resonanzraum. Daran lässt Groddeck keinen Zweifel – und in der Beschreibung den Leser manches Mal ratlos zurück. Denn ob sich auch bei diesem der Eindruck einstellt, dass ein Vers (V. 57) aus drei Isokola besteht und sich der Hexameter durch zwei Zäsuren, eine Trithemimeres und eine Penthemimeres gliedert, der eine metrische Gradatio bewirkt; und ob danach der Chorjambus tatsächlich hörbar ist und danach ein akephaler Pherekrateus? In jedem Fall hätte dem Buch ein kleines Glossar gut getan, mit den zur Sprache gebrachten metrischen Formen und all jenen Begrifflichkeiten, die Hölderlin wohlbekannt, vertraut und organisch waren, uns Heutigen hingegen fremd und mechanistisch vorkommen müssen.

Groddecks Buch ist ein Arbeitsbuch, das mit Blick auf den vielgestaltigen Wechsel der Töne jede Wendung erfasst und mit vollzieht, das Geheimnis von Hölderlins Dichtung jedoch unberührt lässt und lassen will. Philologie im Wortsinn, was mit Friedrich Nietzsche gesprochen heißt, „Tatsachen ablesen können, ohne sie durch Interpretation zu fälschen, ohne im Verlangen nach Verständnis die Vorsicht, die Geduld und die Feinheit zu verlieren“. Dieser Maxime, die Groddeck zu Beginn seiner Studie zitiert, bleibt er auf jeder Seite treu.

Kein Bild

Wolfram Groddeck: Hölderlins Elegie ‚Brod & Wein‘ oder ‚Die Nacht‘.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2012.
340 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783866001404

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch