Arno Schmidt – Sagn Se mal, könnse den eigentlich noch lesen?
Ein informeller Bericht aus der Bargfelder Arbeitstube zum 100. Geburtstag des Autors
Von Susanne Fischer
Die titelgebende Frage ist eine der liebsten aus meinem Berufsleben. Sie wurde mir in den vergangenen 25 Jahren gar nicht mal so selten gestellt. Häufiger höre ich nur noch, daß man „Zettel’s Traum“ ja wohl nicht im Bett lesen könne, was übrigens jeder, der das zu mir als Herausgeberin sagt, für einen bemerkenswert originellen Witz hält. In meinem nächsten Leben werde ich Hirnforscherin.
Die Frage, ob man es als Mitarbeiterin der Arno Schmidt Stiftung noch erträgt, die Werke dieses Autors zu lesen, verdient zwei überaus wahre Antworten:
a) Zum Lesen habe ich leider überhaupt keine Zeit.
b) Natürlich ja, Sie unverschämter Troglodyt!
Zunächst zu Antwort a): Die Frage geht von mehreren falschen Voraussetzungen aus, deren blödeste die Annahme ist, daß ich sowieso nie einen anderen Schriftsteller lese oder allenfalls von Schmidt empfohlene Autoren, weil ich mich auf eine Art „Jüngerschaft“ eingelassen hätte – das ist so albern, daß es hier unberücksichtigt bleibt. Die Frage insinuiert aber außerdem, daß ich während der Arbeit Zeit zum Lesen habe und/oder Zeit, mich eingehend mit dem Werk zu beschäftigen. Dahinter steht, wenn überhaupt, die Überlegung: Was machen die in Bargfeld – wir sind ja immerhin zu dritt im Büro: Bernd und Petra Rauschenbach und ich – da eigentlich den ganzen Tag?
Ein großer Teil meiner Arbeit besteht langweiligerweise aus dem, was alle Büros in Betrieb hält und gleichzeitig lahmlegt: Kommunikation. Ja, ich weiß, daß die zwei oder drei Leute, deren Mails manchmal monatelang auf Antwort warten, jetzt höhnisch schnauben werden. Ich entschuldige mich hiermit bei Ihnen tausendmal, was mir gleich wieder tausend Mails spart. Es ist aber so, daß gerade Ihre Mails dazu führen, daß ich andere Menschen anmailen muß, um dies und das nachzufragen. Jene ziehen dann wiederum weitere Beteiligte hinzu. Ab irgendwann läuft die Lawine dann in die andere Richtung, und dann bekommen Sie doch noch Antwort, falls Sie nicht inzwischen von „Zettel’s Traum“ erschlagen wurden. Manchmal frage ich mich, wie solche Prozesse wohl in Großkonzernen mit vielen tausenden Beschäftigten ablaufen.
Der Vorstand der Stiftung arbeitet mit Ausnahme von Bernd Rauschenbach in Hamburg. Jan Philipp Reemtsma gründete die Stiftung gemeinsam mit Alice Schmidt und engagiert sich nach wie vor für unsere Arbeit, wie auch Joachim Kersten. Von den Schmidt-Lesungen der drei könnte ich hier stundenlang schwärmen, aber es soll ja um meine Arbeit gehen, zu der Schwärmen nur am Rande gehört. Der Buchgestalter Friedrich Forssman, der all unsere Publikationen, Werbemittel und Ausstellungen betreut, sitzt in Kassel. Der Suhrkamp Verlag, bei dem unsere Bücher erscheinen, ist in Berlin zu Hause, der S. Fischer Verlag, der die Übersetzungs- und Nachdrucklizenzen verwaltet, residiert in Frankfurt, der Verlag Hoffmann und Campe, bei dem wiederum die Schmidt-Hörbücher erscheinen, in Hamburg. Soviel zum intern erzeugten Verkehrsaufkommen.
Wir arbeiten mit verschiedenen Institutionen zusammen, zum Beispiel dem Deutschen Literatur-Archiv in Marbach in Sachen Peter Rühmkorf (dessen Urheberrechte die Arno Schmidt Stiftung geerbt hat); mit immer neuen Museen, die die Wanderausstellung mit Arno Schmidts Fotografien zeigen, mit Universitäten, mit dem Celler Museumsverbund, mit diversen Veranstaltern von Lesungen und Tagungen und mit dem Celler Schloß-Theater. Alle Anfragen nach Fotografien von Arno Schmidt laufen über unser Bargfelder Büro, außerdem Stipendiumsanträge von Autoren und Nachwuchswissenschaftlern, ab und zu Leseranfragen. Wir machen unsere Prospekte und Anzeigen selbst. Wir betreuen fremdsprachige Übersetzer und Journalisten, unter anderem 2011 und 2012/13 zwei Dokumentarfilmteams, die aufwendige Dreharbeiten in Bargfeld realisierten, mit unserer requisitenschleppenden Unterstützung. Mitarbeiter der Stiftung haben in den vergangenen Jahren die Erschließung des fotografischen Nachlasses Schmidts betreut und die Inventarisierung der Schmidtschen Graphiksammlung. Derzeit werden mit Unterstützung des Celler Museumsverbunds sämtliche Textilien aus dem Nachlaß Arno und Alice Schmidts inventarisiert.
Ab und zu frage ich mich selbst, wann ich wohl mal zum Arbeiten komme, wenn ich wieder einen Tag lang ausschließlich E-Mails beantwortet, Termine organisiert und telefoniert habe, oder kompliziert aus der Provinz in die Welt zu einem Meeting gereist bin, das bei uns noch Besprechung heißt. Ach so, das ist die Arbeit? Ja, dann…
Meine Lieblingsarbeit bleibt trotzdem die Edition. Es ist, scheint mir, ein großes Privileg, eine Arbeit zu tun, bei der ich ein Projekt von der ersten Idee bis zu einem im besten Sinne greifbaren Ende bearbeiten und begleiten kann, noch dazu gemeinsam mit Spitzenkollegen.
Der Abschluß der Bargfelder Ausgabe mit „Zettel’s Traum“ ist vielleicht nicht das allerbeste Beispiel, weil durch den schieren Umfang des Buches und die Fülle kniffliger Entscheidungen sich die Arbeit zeitlich wie inhaltlich in absurden Regionen bewegte. Versuchen Sie mal, Ihre Freunde zu behalten, wenn Sie beim Feierabendbier darüber räsonieren, ob ein erforderliches Komma, das Arno Schmidt handschriftlich in den Text korrigierte und später widersinnigerweise wieder ausradierte, in die Edition aufgenommen werden soll oder nicht. Versuchen Sie, den Mut nicht zu verlieren, wenn sie erst auf Seite 243 von 1500 sind und sich ausrechnen können, daß die erste Durchsicht des Satzes noch mindestens ein Jahr dauern wird. Netto, plus Mailverkehr mit Setzer, Typograf und Korrektoren. Und zwei weitere Durchsichten folgen übrigens noch, und der siebenmal verschobene Erscheinungstermin wird nicht zum achten Mal verschoben, und die Herstellung wird auf jeden Fall länger dauern als geplant, weil „Zettel’s Traum“ dem Buchbinder die Maschinen ruiniert, aber das wissen Sie auf Seite 243 noch nicht und können es nicht im Zeitplan berücksichtigen. Editoren von „Zettel’s Traum“ sind mit einer Nußschale auf einem Weltmeer unterwegs – da scheint zwar oft die Sonne, aber die Gesamtperspektive wirkt trotzdem eher unbehaglich. Zumal man sich trotz aller penibel geführter Listen irgendwann nicht mehr genau an den Beginn der Reise erinnert. Vielleicht hatten wir doch schon einmal ein ausradiertes Komma aufgenommen, vor 500 Seiten…? Umso schöner, wenn das Buch dann wirklich fertig ist. Später kam mir die Zeit, in der ich am Ende tage- und abendelang den Satz noch einmal durchsah, um das ordnungsgemäße Vorhandensein von 15.000 Marginalien zu überprüfen (tatsächlich waren drei bei Korrekturarbeiten verlorengegangen), irgendwie romantisch vor. Marginalien auf der Flucht gestoppt! Buch gerettet! – Freunde werden im übrigen ja auch überschätzt.
Die Arbeit an anderen Büchern, beispielsweise Alice Schmidts Tagebüchern, gestaltet sich übersichtlicher. Es sind Bände mit einem Stellenkommentar, an dem ich gerne herumtüftele. Das Internet erleichtert alle notwendigen Recherchen enorm, und wenn ich mich hier überhaupt über etwas beschweren sollte, dann darüber, daß das Internet auf dem Dorf so langsam ist. Gerade bei der Beschäftigung mit den Tagebüchern lerne ich selbst eine Menge über die Zeit und Mentalität der 50er Jahre, und Arbeiten, bei denen ich hinterher mehr weiß als vorher, sind mir ohnehin die liebsten. Vielleicht auch kein Thema für das Bier bei der Freiwilligen Feuerwehr, aber ich kann ja ausnahmsweise auch mal was für mich behalten.
Beschweren können sich eher die anderen: Friedrich Forssman, der Text und Anmerkungen von mir oft in einem fragwürdigen Formatierungsgeschlamp zugeschoben bekommt und zusehen kann, wie er sich darin zurechtfindet. Was ihm bemerkenswert gut gelingt; die nunmehr über zwanzigjährige Zusammenarbeit ergibt nicht nur preisgekrönt gestaltete Bücher, sondern bereitet auch noch Vergnügen. Die tägliche gemeinsame Büroexistenz mit Petra und Bernd Rauschenbach erlebe ich nicht weniger angenehm. Erika Knop ist die netteste Kollegin der Welt. Meine Chefs kann ich hier jetzt nicht auch noch loben, sonst beneidet man mich zu sehr. Ich beneide mich ja selbst schon. Auf Verlangen schwärme ich trotzdem gern weiter. Schicken Sie mir am besten eine Mail.
Beschweren könnten sich auch die Korrektoren: Meist sind es Hajo Lüst und Hermann Wiedenroth, die in den Editionen hinter mir aufräumen müssen (und es zuverlässig und manchmal unter schlimmem Zeitdruck tun), und das macht natürlich viel weniger Spaß, als vorher alles durcheinanderzubringen. Die beiden kennen meine dümmsten Fehler. Schicken Sie ihnen bitte keine Mail.
Wenn ich gar nichts anderes tun dürfte als Edieren und Kommunizieren, wäre ich längst an meinem Computer festgewachsen. Damit das nicht passiert, hat das Arno-Schmidt-Haus mehrere hundert Besucher pro Jahr, auch heute wie bei Schmidts immer noch „Leser“ genannt, um die sich zwar in erster Linie Erika Knop und Petra Rauschenbach kümmern, aber Bernd Rauschenbach und ich gelegentlich ebenfalls. Wer schon einmal im Arno-Schmidt-Haus war, weiß, daß es dort keinerlei Absperrungen gibt. Es wirkt wie ein eben verlassenes Wohnhaus aus einer anderen Epoche. Die meisten unserer Besucher sind von dieser Atmosphäre sehr berührt, und das macht die Leser-Visiten angenehm und schön, auch wenn ich zum dreihundertsten Mal dasselbe erzähle, denn die Variationsmöglichkeiten bei der Präsentation der wichtigen Informationen erweisen sich im Lauf der Jahre als erschreckend gering. Natürlich kommen auch Besucher, um Schmidt oder sein Haus gezielt blöd zu finden. Das ist aber erfreulich selten der Fall, und diese mißgeleiteten Personen haben sich ihre Nicht-Erlebnisse selbst zuzuschreiben.
Neulich wurde ich nach den lästigsten Besuchern in Bargfeld gefragt: Ich erinnere mich sehr ungern an einen Journalisten, der sich auf Arno Schmidts Gartenstuhl warf und mir erklärte, er brauche das jetzt. An einen, der von Schmidt selbst nicht vorgelassen worden war und nun triumphierend in seinem Wohnzimmer stand. Die Männer, die mir oder ihrer Begleitung etwas über Arno Schmidt erzählen wollen, wirken dagegen eher unterhaltsam. (Es handelt sich immer um Männer.) „Da, Heidi, da ist die Sprechanlage; am Ende hat er mit seiner Frau nur noch durch die Sprechanlage gesprochen. So war der.“ – „Der Krawehl hat dem eine Million über den Zaun geworfen.“ – „Der hat doch das geschrieben, warte mal, Heidi, wo die mit dem Schiff auswandern wegen der Nazis.“ – (Ich, mit schmerzverzerrtem Gesicht und gepreßter Stimme): „Nein, Entschuldigung, das war Alfred Andersch.“ – „Nein, das war Arno Schmidt. Das weiß ich doch, ich habe es doch gelesen!“
Na, der hat es jedenfalls gelesen und weiß etwas. Wohingegen spätestens jetzt hinreichend deutlich sein sollte, daß die Stiftungs-Mitarbeiter zum Lesen nicht kommen, denn auch für Editionen liest man ja nicht wirklich, sondern sammelt Material, vergleicht, sucht gezielt nach bestimmten Dingen.
Die einzige Gelegenheit, bei der Arbeit Schmidts Bücher zu lesen, sind die Rendsburger Arno-Schmidt-Seminare („Kanalrunden“). Ein sensationell treuer Zirkel von rund 25 Menschen trifft sich dort im nordkolleg alle anderthalb Jahre für ein Wochenende und liest gemeinsam je ein Werk von Arno Schmidt. Inzwischen haben wir uns einmal durch das Gesamtwerk gearbeitet und werden, dann wohl in neuer Runde, im nächsten Herbst von vorn beginnen. Nur „Zettel’s Traum“ haben wir ausgelassen, aber ich habe vergessen, warum. Bernd Rauschenbach und ich leiten in der Regel die Seminare, manchmal mit Jan Philipp Reemtsma, und „leiten“ heißt hier nur, daß wir mindestens genauso gut vorbereitet sind wie die Teilnehmer. Dafür müssen wir intensiv lesen. Das ist die reine Freude, schon weil auch wir in den gemeinsamen Leserunden stets etwas dazulernen. Das führt mich zwanglos zu Antwort b) auf die Frage, ob ich Arno Schmidt eigentlich noch lesen kann.
Natürlich ja, Sie unverschämter Troglodyt! Das habe ich leider noch nie geantwortet, aber verdient hätten es die, die mit der Frage andeuten, sie selbst seien über Schmidt ja längst hinaus. Wenn diese Frager überhaupt argumentieren, führen sie meist ins Feld: Die unerfreuliche Besserwisserei Schmidts, die unerträgliche Piefigkeit seiner Settings, den vorlauten Ton. Der war mal ganz toll, aber da sei man drüber weg, das habe man nicht mehr nötig.
Mir kommt es vor, als müsse das wohl ein sehr vordergründiges Lesen gewesen sein, das so umstandslos zu den Akten gelegt wird. Piefigkeit? Was wollen die Leute denn, Romane von der „Königlichen Hoheit“? Künstler-Kitsch vom freien Leben? Das Tolle an Schmidt ist doch, was er aus diesen Settings macht. Was für großartige Figuren laufen da in kleinbürgerlichsten Anzügen herum. Mit welcher Kunst sind die Texte dicht montiert, so daß man immer wieder etwas Neues findet, wie wunderbar bewahren sie ihre Zeit für die Zukunft auf, verflechten ihre Themen subtil und in sprachlicher Brillanz. Was für ein begnadeter Humor obendrein, da nehme ich Besserwisserei doch mal in Kauf. Das kann ich nun wirklich immer wieder lesen – wenn ich mal dazu komme.
Und eigentlich wollen mir die Frager ja auch nur sagen, daß sie selbst überhaupt nicht piefig sind, sondern, im Gegensatz zu Schmidt, ganz vorne dran. Leider langweile ich mich in ihrer Gesellschaft sehr viel schneller, als beim schon sieben Mal gelesenen „Steinernen Herz“. Das liegt gewiß an einem bedauerlichen Defekt in mir.
So, und jetzt reichen Sie mir bitte mal „Zettel’s Traum“ rüber. Genug geplaudert, Zeit, ins Bett zu gehen.