Unvergessen

Jutta Friederich hat eine Biografie der Individualpsychologin Alice Rühle-Gerstel (1894-1943) geschrieben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nun gibt es auch 30 Jahre nach der Neuen Frauenbewegung sicherlich noch viele, allzu viele Literatinnen und Wissenschaftlerinnen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die heutzutage ganz zu Unrecht kein Mensch mehr kennt. Nicht selten trieb der Nationalsozialismus sie ins Exil, warf ihre Publikationen auf den Scheiterhaufen und stieß ihr Andenken in den Brunnen des Vergessens, wenn er sie nicht gar in Konzentrationslager verschleppte und ermordete. Alice Rühle-Gerstel gehörte zu denjenigen, deren Bücher verbrannt und die ins Exil getrieben wurden. Doch war sie nie ganz so vergessen, wie der Titel der jüngst erschienenen Biografie aus der Feder von Jutta Friederich „Alice Rühle-Gerstel (1894-1943) – eine in Vergessenheit geratene Individualpsychologin“ glauben machen will.

Zumindest nicht seit der Studierendenbewegung. 1972 brachte der damals junge Verlag Neue Kritik ihre Studie „Die Frau und der Kapitalismus“ unter dem Titel „Das Frauenproblem der Gegenwart“ neu auf den Markt. Im gleichen Jahr erschienen im Karin Kramer Verlag der Band „Erziehung und Gesellschaft“ mit Texten von Rühle-Gerstel und ihrem Mann Otto Rühle. Ende des Jahrzehnts folgten ihre „Tagebuchaufzeichnungen aus Mexico“ unter dem Titel „Kein Gedicht für Trotzki“, 1980 ihr „Versuch einer Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie“. 1984 veröffentlichte der S. Fischer Verlag ihren Exil-Roman „Umbruch oder Hannah und die Freiheit“, der sich so erfolgreich verkaufte, dass bereits ein Jahr später eine Neuauflage notwendig wurde. Ende der 1980er-Jahre wiederum wurde ihr Buch über „Freud und Adler“ neu aufgelegt. 1998 brachte ein Innsbrucker Verlag eine Gedichtsammlung Rühle-Gerstels heraus und 2007 erschienen im Trafo Verlag ihre Feuilletons und Reportage zusammen mit anderen Texten unter dem Titel „Wo rett’ ich mich hin in dieser Welt?“, der im gleichen Jahr Marta Markovás Rühle-Gerstel-Biographie „Auf ins Wunderland“ herausbrachte. Eine durchaus ansehnliche Reihe, die sich leicht verlängern ließe.

Und nun also die Biografie von Jutta Friederich, die einige der genannten Neuausgaben ungeachtet des Titels ihres Buches im Literaturverzeichnis führt. Die Autorin beginnt mit der identifikatorischen Bemerkung „Alice Rühle-Gerstel erinnert mich daran, dass auch mein Werdegang vielschichtig angelegt war. Wir teilten uns die Liebe zur Pädagogik, Psychotherapie und zu Alfred Adlers Individualpsychologie.“ Derartiges lässt gemeinhin wenig Gutes erahnen, deutet es doch nicht gerade auf die für eine gelungene Biografie notwendige Distanz einer AutorIn zu ihrem Gegenstand hin. Doch legt Friederich diese Haltung alsbald ab.

Allerdings ist sogleich etwas anderes zu monieren. In der ersten Fußnote erklärt die Autorin, in ihrem Buch werde „nicht zwischen einer männlichen und weiblichen Schreibweise unterschieden. Um den Lesefluss nicht zu unterbrechen, sind geschlechtsneutrale Begriffe gewählt worden. Lediglich an Stellen, an denen explizit von einer Frau oder einem Mann die Rede ist, wird die Geschlechtsneutralität aufgehoben.“ Was ist dann aber davon zu halten, dass beispielsweise gerade mal fünf Seiten darauf davon die Rede ist, „dem Leser die weitestgehend unbekannten Texte vorzustellen“? [Herv. R.L.] Sollte Friederich ein ausschließlich männliches Publikum ansprechen wollen? Wohl kaum. Dies ist nur eine von zahlreichen ähnlichen Formulierungen, die deutlich machen, dass man ihre Ankündigung, nur geschlechtsneutrale Begriffe zu benutzen, nicht für allzu bare Münze nehmen sollte.

Friederichs Buch gliedert sich in drei Teile plus Anhang, der neben einem Genogramm und einem Stammbaum eine recht detaillierte Zeittafel und eine ausführliche Bibliografie zu Rühle-Gerstel enthält. Den erste Teil des Buches bildet eine gut 30 Seiten umfassende „Biografie von Alice Rühle-Gerstel“, die kaum mehr bietet als eine ebenso dürre wie trockene Aneinanderreihung von Fakten und Sachverhalten, die jeglichen Anspruchs auf gute Lesbarkeit entbehrt. Immerhin aber werden die behaupteten Fakten weitgehend belegt, was sich nicht von jedem vergleichbaren Unterfangen sagen lässt. Zudem glänzt der biografische Teil auf den letzten Seiten mit einigen längeren Zitaten aus bislang unveröffentlichten Briefen, die Alice Rühle-Gerstel gegen Ende ihres Lebens im mexikanischen Exil schrieb. Allein dies ist schon mal kein schlechter Grund, zu dem Buch zu greifen. Am Ende des biografischen Teils stellt die Autorin eine Ferndiagnose zum nach langjährigem Exil angeschlagenen Gesundheitszustand Rühle-Gerstels und stellt die Vermutung in den Raum, „dass Alice Rühle-Gerstel im mexikanischen Exil unter chronischer Erschöpfung, langjährigen Depressionen und einer Posttraumatischen Verbitterungsstörung nach Michael Linden“ gelitten habe.

Im Zentrum des Buches aber stehen Rühl-Gerstels „marxistische, individualpsychologische, erziehungstheoretische und feministische Schriften aus den 1920er und 1930er Jahren“. Ihnen ist der zweite mit seinen 100 Seiten etwa dreimal so umfangreiche Teil gewidmet, dessen Kapitelüberschrift ihn als „Werkanalyse“ ausweist. Analyse ist allerdings vielleicht ein wenig viel gesagt. Denn die Autorin konzentriert sich weitgehend darauf, die Werke im historischen Kontext vorzustellen. Zunächst erläutert Friederich die damalige „individualpsychologische Pädagogik“ und die „sozialistische Erziehung“, um sich sodann den von Rühle-Gerstel und ihrem Mann herausgegebenen Periodika „Am anderen Ufer. Blätter für sozialistische Erziehung“ und „Das proletarische Kind. Monatsblättern für proletarische Erziehung“ zuzuwenden. Ihnen folgen Rühle-Gerstels Schrift „Der Weg zum Wir“ von 1927 und die 1932 erstmals erschienene Studie über „das Frauenproblem in der Gegenwart“. Friederich lobt diese, wie sie sagt, „umfassende individualpsychologische Untersuchung zum Thema Emanzipation“ zum „Vorläufer von Simone de Beauvoirs ‚Das andere Geschlecht‘“ hoch, in dem Rühle-Gerstel eine „ausgefeilte Frauentypologie“ der „unterschiedlichen (neurotischen) Lebensentwürfe der Frau“ entwickele und in ein Diagramm gefasst habe. Doch selbst Friederich, die sich der „klugen und ressourcenreichen“ Autorin und Individualpsychologin insgesamt mit großer Hochachtung nähert, wundert sich darüber, dass Rühle-Gerstel „die sogenannte ‚neue Frau‘ erstaunlich kritisch“ beschreibt.

Im dritten Teil, den „abschließenden Bemerkungen“ rühmt sich die Autorin, „belegt“ zu haben, „dass die Frauenemanzipation im deutschsprachigen Raum nicht erst in den späten 1960er-Jahren mit Simone de Bauvoir (1949) begonnen hat, sondern ihr Ursprung schon vor und in der Weimarer Republik (1918-1933) zu suchen ist.“ Dazu bedurfte es allerdings nicht mehr ihrer Untersuchung, zumal seit längerem bekannt ist, dass die Ursprünge weit früher zu auszumachen sind. Wird die Erste Frauenbewegung um 1900 doch bereits seit etlichen Jahren gründlich erforscht. Friederichs Befund, Rühle-Gerstel habe 1932 mit ihrem Buch „Das Frauenproblem der Gegenwart“ wesentlich zum „Ursprung“ der Frauenbewegung beigetragen, ist nicht nur aufgrund der theoretischen, das heißt marxistisch-psychologischen Ausrichtung des Buches von Rühle-Gerstel fragwürdig, sondern vor allem, weil die Ursprünge der deutschen Frauenbewegung gut und gerne ein halbes Jahrhundert früher zu veranschlagen sind.

„Noch heute, fast 90 Jahre später, stehen wir immer noch vor dem ungelösten Problem, solche soziologisch-politischen Voraussetzungen zu schaffen, die ein Proletariat zur Auflösung bringen. Die erziehungstheoretischen Texte von Alice Rühle-Gerstel und Otto Rühle haben daher kaum an Aktualität verloren“, meint die Autorin im abschließenden „Ausblick“. Damit sei genug gesagt.

Titelbild

Jutta Friedrich: Alice Rühle-Gerstel (1894-1943). Eine in Vergessenheit geratene Individualpsychologin.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2013.
220 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826049941

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