Enzyklopädische Fülle

Tobias Bulangs „Fallstudien zu Wissen und Literatur in Spätmittelalter und früher Neuzeit“ erschließen Neuland

Von Stefan SeeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Seeber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der interdiskursive Zusammenhang von Literatur und Wissen ist in jüngster Zeit (wieder) in den Mittelpunkt mediävistischer Aufmerksamkeit gerückt. Tobias Bulangs Habilitationsschrift zu „Enzyklopädischen Dichtungen“ ist schwergewichtiges Zeugnis dieses neu erwachten Interesses und macht sich daran, das bislang nicht abgesteckte Feld der Hybriden von Literatur und Wissen im Roman zu kartieren.„Hybridität“ ist dabei ein zentraler Erkenntnisschlüssel für Bulangs Herangehensweise, denn die Texte, denen sich seine Fallstudien widmen, scheinen auf den ersten Blick weder Fisch noch Fleisch zu sein: Der „Renner“ Hugos von Trimberg nutzt Methoden der Predigt, Wittenwilers „Ring“ integriert Rezept- und Eheliteratur in den Kontext einer märenbasierten Handlung, Fischarts „Geschichtklitterung“ betreibt mit einer „Poetik des Gelages“ „programmatische Entgrenzung und Reduktion von Wissen“ im Rahmen einer literarischen Übersetzung, die ihresgleichen sucht. Diese disparate Textfülle organisiert Bulang unter den Aspekten der Transgression literarischer Grenzen, der Assimilation und Integration von Wissen und der poetologischen Selbstreflexion, die in enzyklopädischer Dichtung besonders ausgeprägt zum Vorschein kommt.

Dieser viergeteilte Zugang wird erarbeitet in einem theoretischen Vorspann zu den Fallstudien. Bulang erläutert hier seine Verwendung der Begriffe „Literatur“ und „Wissen“ und bringt beide Bereiche in einen Zusammenhang, der vor allem auf der Offenheit des Literaturbegriffs in der Zeit vor der Poetik beruht. Der handwerkliche, nicht unbedingt auf die Fiktionalität zu beschränkende Dichtungsbegriff wird zum Ansatzpunkt der Integration von Wissen, das als „literarisch hybridisierte Wissensbestände“ Eingang in die Dichtung findet. Wissen prägt der literarischen Verwendung seinen Stempel auf, wird aber in derselben literarischen Verwendung zugleich umfunktioniert und neu kontextualisiert, so dass sein Sinn nicht mehr (allein) in der Vermittlung gelehrter Inhalte bestehen kann. Stattdessen erlangt das Wissen neue Bedeutung als Bestandteil des größeren literarischen Zusammenhangs, in dem es steht. Bulangs theoretische Erörterungen bleiben – ihrer Positionierung am Anfang der Studie angemessen – notwendig abstrakt, vor allem für den Bereich des Wissens liefern die Fallstudien die notwendige konkrete Füllung des Rahmens nach, so dass die grobe Skizze als Ausgangspunkt genügen kann. Trotzdem erstaunt bereits hier, dass die Verschiedenheit der „sozialen und medialen Bedingungen des Wissens“ im Vergleich zur Neuzeit (aber auch über die behandelte Zeitspanne) zwar konstatiert, aber kaum nutzbar gemacht wird. Im Rahmen der Einzeltextanalysen fällt die undifferenzierte Verwendung des Wissensbegriffs sodann wesentlich stärker ins Gewicht, da Bulang seine Einzelstudien unverknüpft und übergangslos nebeneinanderstellt, sodass Fischarts enzyklopädische Herangehensweise an das literarische Arbeiten, die auf umfangreiche und intensive Kenntnis spezifischer, gedruckter Wissensbestände rekurrieren kann, unvermittelt auf Wittenwilers Rezeptwissen und Hugos von Trimberg Predigt- und Bibelkenntnisse folgt. Ebenso fehlt im theoretischen Vorspann wie in der Schlussbetrachtung eine vergleichende Reflexion zum sich wandelnden Literaturbegriff, der in der Abfolge der Beispieltexte fassbar wird.

Kernstück von Bulangs Buch sind die umfangreichen close readings seiner Fallstudien, die aus den Blickwinkeln der Transgression, Integration, Assimilation und Selbstreflexion vorgenommen werden. Die schiere Masse wertvoller Einzelbeobachtungen und luzider Interpretationen zu „Renner“, „Ring“ und „Geschichtklitterung“ ist überwältigend und macht das Buch zu einem Meilenstein der Fischart-, Wittenwiler- und Hugo-von-Trimberg-Forschung (auch wenn Bulang zahlreiche Aspekte bereits an anderem Ort zuvor publiziert hat). Die innovative Fokusverschiebung – hin zur Frage nach dem Verhältnis der jeweiligen Dichtung zu den Wissensdiskursen, die in sie einfließen – ermöglicht es dem Verfasser, neue Erkenntnisse auch zu altbekannten und umfangreich erforschten Texten zu bieten. Nachdrücklich arbeitet die Studie dabei heraus, dass es den Dichtungen mitnichten allein um die Integration und Assimilation von Wissen zu tun ist, sondern dass auch die ausgestellten Reibungsflächen, die Uneindeutigkeit und „Überschüssigkeit“ sinntragend wirken: Für den „Renner“ zeigt Bulang überzeugend die Spannung zwischen Redelizenz und Selbstbegrenzung des Erzählers, der die Fülle des Wissens zu organisieren versucht und sich selbst als Vermittlungsinstanz in Szene setzt. Für den „Ring“ vermag die Analyse plausibel zu machen, dass die „Inszenierung scheiternder Didaxe“ die disparaten Elemente der Dichtung zusammenhält und sich der Text als „Serie didaktischer Situationen“ präsentiert. Fischarts „Geschichtklitterung“ als „Anti-Enzyklopädie“ wird als programmatische „Entgrenzung“ auf allen Ebenen des Erzählens lesbar und mit einer „Poetik des Wissens“ verbunden, die als rauschhaftes Phänomen wahrnehmbar wird.

Die enzyklopädische Fülle von Bulangs Buch birgt neben überraschenden Einsichten und neuen interpretatorischen Ansätzen aber auch Mühen für den Leser: Vieles wird oft wiederholt (ein besseres Lektorat hätte neben den vielen unnötigen Tippfehlern auch solche Redundanzen beheben können); zahlreiche – enzyklopädische – Einschübe vollziehen die Wissensakkumulation der behandelten Werke eher nach, als dass sie sie analysieren würden, an mehreren Stellen scheinen das Material und seine Organisationsform die Beschreibung zu dominieren (zum Beispiel wenn im Rahmen der Fischart-Analyse gleich acht Übersetzungsmöglichkeiten für levitas angeboten werden und man nicht weiß, ob man es mit Ironie oder Immersion des Autors zu tun hat). Das alles macht die Lektüre der fünfhundert Seiten zu einer Aufgabe, die auch nicht durch Zwischenfazite oder Perspektivierungen über den Tellerrand der Einzeltextanalyse erleichtert wird.

Die „Zusammenfassung“ bietet wirklich nicht mehr als einen knappen Überblick über das zuvor Gesagte und lässt den Leser mit vielen Fragen zurück. Man würde sich am Ende der aneinandergereihten Fallstudien eine verbindende, synthetisierende Schlussbetrachtung wünschen, die auf offene Fragen und weiterführende Problemstellungen eingeht. So bleibt vor allem der (Erst-)Rezipient in Bulangs Analysen eine blasse Figur, die immer wieder nur am Rande auftaucht, der jedoch von den untersuchten Texten zum Teil Ungeheuerliches zugemutet wird (wenn der Leser zum Beispiel auf die „Kenntnis des Rabelais’schen Prätextes angewiesen ist“, um die Handlungsfolge der „Geschichtklitterung“ zu verstehen, sollte dies eigentlich Anlass dafür bieten, die Rolle und Funktionalisierung der (anti-)enzyklopädischen Gestaltung von Fischarts Text kritisch zu beleuchten). Auch die Frage nach der Geschichte des Romans als Gattung, die in der Forschung zumindest mit Fischarts Text immer wieder verknüpft wird, tut Bulang auf der letzten Seite seines Buches eher en passant ab – dabei ermöglicht nur die großepische Form die Integration von enzyklopädischem Wissen in dem von ihm beschriebenen Umfang und muss deshalb diese Integrationsmöglichkeit distinkt von anderen Formen der dichterischen Wissensvermittlung wie zum Beispiel im Sangspruch gesehen werden. Gerade auch vor dem Hintergrund des topischen Anspruchs, prodesse und delectare zu verbinden, der für den Roman spätestens seit dem 16. Jahrhundert ein viel diskutiertes, stets präsentes und virulentes Thema ist, wäre die Integration von gelehrtem Wissen in die sich entwickelnde Gattung auf der Grundlage der umfangreichen Einzeltextanalysen fruchtbar zu machen gewesen.

Bulangs Buch bietet damit eine Fülle wertvoller Einzelbeobachtungen und regt zum Weiterdenken und Weiterentwickeln des präsentierten Zugangs zur Literatur an. Das macht seinen Wert aus. Es ist allerdings eine besondere Form der Ironie, dass ein solch gelehrtes Werk über die hybride Verbindung von Wissen und Literatur selbst als hybrider Text vor seine Leser tritt: Es fehlt an Verfugungen der Einzelteile und an einer perspektivierenden Zusammenschau, um aus diesen wertvollen Einzelanalysen ein großes Ganzes zu machen.

Titelbild

Tobias Bulang: Enzyklopädische Dichtungen. Fallstudien zu Wissen und Literatur in Spätmittelalter und früher Neuzeit.
Akademie Verlag, Berlin 2011.
565 Seiten, 99,80 EUR.
ISBN-13: 9783050051536

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