Mobilmachungspoeten und Kriegsmaler

Ernst Piper legt eine Geschichte der Hochkultur im Ersten Weltkrieg vor

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anders als der Zweite Weltkrieg, dem die Kunst überhaupt nichts und die Literatur kaum mehr als Landserheftchen zu verdanken hat, konnte das Völkerschlachten zwischen 1914 und 1918 eine Reihe von Künstlern und Dichtern zu wirklich großen Werken inspirieren. Woran das lag, ist nicht leicht festzumachen. Ein ganz einfacher Grund mag sein, dass viele Künstler und Dichter in den früheren Krieg zogen, weil sie sich den Ansprüchen der Nation nicht entziehen mochten, wogegen 1939 fast alle wirklich bedeutenden Köpfe sich entweder in Opposition befanden oder im Exil oder Schlimmeren aufhielten.

Denn dass sich das infernalische Toben des Maschinenkrieges noch einmal zu einer nun endlich nicht mehr abbildbaren Apokalypse gesteigert haben sollte, scheint nach Verdun und der Schlacht an der Somme kaum glaubhaft. Schlimmer als dort kann auch der Zweite Weltkrieg nicht gewesen sein.

Der Erste Weltkrieg hinterließ seine Spuren nicht allein in der großen Kunst, sondern die Kriegserlebnisse wie die Niederlage prägten auch die Nachkriegszeit: die 1920er-Jahre waren ein Jahrzehnt der Kämpfe, ja eines blutigen Bürgerkrieges und zahlreicher politischer Morde. Nach dem Zweiten Weltkrieg dagegen dauerte es mehr als zwanzig Jahre, bis sich eine entschiedene Opposition formierte. Die 1920er-Jahre brachten polemische, sogar hasserfüllte Bilder hervor, oft mehr Karikaturen als Porträts, und in Bild wie Schrift wurde der Übergang zum politischen Kommentar fließend, wogegen sich im Lande Adenauers die Abstraktion breitmachte und jede Sinnstiftung und Parteinahme konsequent verweigerte. In der Literatur verhielt es sich ähnlich, denn Ernst Jünger mit seinen Schilderungen der Grabenkämpfe stand ja nicht allein, wogegen die Autoren dreißig Jahre später sich weniger den „industriellen Feldschlachten“ als vielmehr der Heimkehr deprimierter und ausgemergelter Gestalten widmeten.

Alles gute Gründe, eine Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges vorzulegen, auf die wir schon lange warten.

In seinen eigenen Worten war es das Ziel Ernst Pipers, „eine ‚dichte Beschreibung‘ im Sinne der Kulturtheorie von Clifford Geertz“ vorzulegen. Piper überträgt also auf europäische Geschichtsschreibung ein ethnografisches Konzept, das sich vor allem um die Interpretation von zunächst unverständlichen Zeichen und Bedeutungen im Rahmen einer fremden Kultur bemüht. Eine „dichte Beschreibung“ interpretiert auch nicht-kulturelle und nicht-sprachliche Äußerungen, als stellten sie einen Text dar und gehörten in einen zeichenhaften Zusammenhang. Aber obwohl von Piper gelegentlich auch Malerei und Plastik angesprochen werden, richtet sich der Focus seines Buches fast ausschließlich auf schriftliche Zeugnisse, zu denen vor allem politische Zeitungsartikel, propagandistische Werke oder Manifeste zählen. Die Alltagskultur dagegen kommt nicht vor, auch nicht der Wandel der Mode oder des sexuellen Verhaltens.

In vierzehn Kapiteln wird das militärische, diplomatische und kulturelle Geschehen des Ersten Weltkrieges geschildert. Im Prolog sind es die Gedichte Georg Trakls, mit deren Hilfe Piper die Atmosphäre der Vorkriegszeit einzufangen versucht, und im zweiten Kapitel geht es dann um das feierliche Gedenken an die Völkerschlacht 1813 – wirklich ein ganz besonderer Auftakt für das wenig später folgende Geschehen. Pipers Darstellung stellt Deutschland in den Mittelpunkt, nimmt aber immer wieder auch die Perspektive Englands, Frankreichs oder anderer Länder ein und schildert unter der Überschrift „Remember Belgium“ die Verbrechen deutscher Soldaten, als sie im Rahmen des später gescheiterten Schlieffen-Plans das kleine und neutrale Nachbarland zu überrennen versuchten. Als die deutschen Truppen weniger schnell vorwärtskamen als geplant, machten sie sich schlimmster Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung und der Zerstörung der alten Universitätsstadt Löwen und ihrer berühmten Bibliothek schuldig.

Im Grunde ist damit der eigentliche Gegenstand des Buches umschrieben: es ist die Hochkultur und ihr Leiden am Krieg. Piper erzählt, wie Maler und Schriftsteller in den Krieg zogen oder sich vor ihm zu drücken versuchten; er schildert, wie sich die deutsche Professorenschaft in den Dienst der Propaganda stellte und die kollegialen Verbindungen nach England und Frankreich kappte; er stellt dar, wie der Chauvinismus auch zuvor liberale und weltoffene Geister ergriff und in deutschtümelnde Hetzer verwandelte. Es ist Piper gelungen, einen extrem umfangreichen Stoff übersichtlich zu organisieren – auch das militärische Geschehen wird von ihm dargestellt – und in einer leicht dahinfließenden Prosa vorzutragen. Dabei wertet er meist ganz unbefangen, aber eigentlich immer nachvollziehbar und abgewogen.

Ganz zufrieden kann der Leser aber leider nicht sein, weil es eben eine Geistesgeschichte wurde, keine Kulturgeschichte, welche die Folgen des Krieges verständlich machen würde. Eine Kulturgeschichte hätte auch Aspekte des täglichen Lebens oder die Ausbreitung der Prostitution schildern müssen, die Folgen der Spanischen Grippe oder die Paranoia, die überall Spione witterte. Aber von all dem ist nicht die Rede; Mata Hari etwa wird an keiner Stelle erwähnt, der große Sexualforscher Magnus Hirschfeld wird allein mit einer politischen Äußerung zitiert, und die Situation innerhalb des Reiches, der Hunger des Steckrübenwinters und die massenhafte Armutsprostitution spielen nirgendwo eine Rolle. Und zu einer Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges und einer „dichten Beschreibung“, die also vorläufig noch ein Desiderat bleiben wird, hätten unbedingt auch die psychischen Folgen von Gesichtsverletzungen gehört, die unter den Soldaten grassierten. Besonders Granatsplitter hatten grässlichste Entstellungen zur Folge, weil oft ganze Teile des Gesichts fehlten, und es wäre schon einen Versuch wert, die psychischen Folgen sowohl bei den Opfern als auch bei denen zu beschreiben, welche diese Verstümmelungen ansehen mussten. Und endlich haben sich diese Ereignisse auch in Literatur und Kunst niedergeschlagen. Aber darauf geht Piper allenfalls gelegentlich ein und ohne genauere Analysen.

Der Erste Weltkrieg war, so Piper „ein bis aufs Äußerste verdichteter Erfahrungsraum, […] bis zum Bersten mit Jetztzeit gefüllt. Das entfesselte Destruktionspotential der Moderne hat eine überwältigende Präsenz, die keinen Raum für die Frage nach seinem Sinn lässt.“ Auf den letzten Seiten des Buches schildert er die Aktivitäten des Pazifisten Ernst Friedrich und dessen Buch „Krieg dem Kriege“, das die schrecklichsten Verletzungen dokumentierte, und greift auf die Schriften Ernst Jüngers und seine Schilderung des „Arbeiters“ oder auch auf Helmut Lethens Studie „Verhaltenslehre der Kälte“ zurück, um die Auswirkungen auf die Psyche der Menschen anzudeuten. Hier – erst hier – kommt Piper doch dem nahe, was man unter einer Kulturgeschichte versteht.

Titelbild

Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs.
Propyläen Verlag, Berlin 2013.
587 Seiten, 26,99 EUR.
ISBN-13: 9783549073735

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