Wissen ohne Zentrum
Harald Fischer-Tinés Essay analysiert Produktion und Zirkulation von „Pidgin-knowledge“ im Kolonialismus
Von Linda Maeding
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Einklang mit dem binären Modell von Metropole und Peripherie wurde lange Zeit davon ausgegangen, dass sich „Wissen“ im Kolonialismus unidirektional ausbreitete: Von Europa als hegemonialem Zentrum ausgehend drang es diesem Schema zufolge bis an die Ränder vor. Die „new imperial history“ unterwirft diese Vorstellung des Wissenstransports einer grundlegenden Revision: Die Produktion und Zirkulation von Wissen im Kolonialismus ist komplexer als es die einflussreiche Diffusionstheorie erfolgreich vermittelte.
Fischer-Tiné entlarvt die Annahme eines einseitigen Wissensstroms, der in Europa generierte Wissensbestände in die kolonisierten Außenbezirke transportierte, in seinem Essay als Mythos und entwickelt in fünf ebenso kurzen wie konzisen Kapiteln transkulturelle Topographien des Wissens, um die Grenzen gängiger eurozentristischer Vorstellungsmuster aufzuzeigen. Für seine Fallstudien bewegt sich der Professor für die Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich im Feld der Medizin, die sich als einstige wissenschaftliche Leitdisziplin und populäres „tool of empire“ besonders eignet, um transkulturelle Prozesse der Wissensformation vor dem Hintergrund der unauflöslichen Verflechtungen von Wissenschaft, Handel und Kolonialismus seit dem späten 18. Jahrhundert zu untersuchen.
Dabei zeigt er, dass Wissensordungen sich nicht durch Stabilität auszeichnen, vielmehr ihre Durchlässigkeit kennzeichnend ist für die koloniale Situation Süd(ost)asiens. Dies gilt für zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa intensiv rezipierte Choleratherapien ebenso wie für den asiatischen Exportschlager Ayurveda im 20. Jahrhundert. In einer der interessantesten Argumentationslinien des Essays vermag es Fischer-Tiné, die Vorstellung des „authentischen“ und jahrhundertealten indischen Heilsystems Ayurveda zu dekonstruieren: Ayurveda ist im Zusammenhang mit den einsetzenden Unabhängigkeitsbestrebungen in der Kolonie als Wissenskonstrukt zu verstehen, das in seiner heutigen und keineswegs unveränderten Gestalt wesentlich auf Entwicklungen zwischen 1880 und 1930 zurückgeht. Für die Genese des Ayurveda ist die Konkurrenz zur (britischen) Schulmedizin, die sich im genannten Zeitraum professionalisierte und alternative Heilformen zunehmend ausschloss, entscheidend; ebenso wie der transkulturelle Wissenstransfer, der in diesem Fall in der Rezeption und Einverleibung deutscher Naturheilkunde-Klassiker bestand.
In diesem Sinne versteht der Autor Ayurveda als „pidgin-knowledge“: Der Begriff bezeichnet ein „Kontakt-Wissen“ in kontinuierlicher Transformation, das sich aus kulturell heterogenen Quellen speist. Vermittlungsprozesse von Wissensbeständen verändern auch Wissensinhalte – und zwar in beide Richtungen: beim Transport nach Europa ebenso wie umgekehrt bei der Integration in diesem Fall in südasiatische Traditionszusammenhänge. So erlaubt es Fischer-Tinés „historische Probebohrung“ die einflussreiche These zu widerlegen, die Kolonien seien zunächst ausschließlich als gigantische Materialreservoirs und Studienobjekte genutzt worden, dank derer „Europa“ wissenschaftliche Standards setzen und weitergeben konnte. Anhand von Praktiken und Diskursen der britischen Kolonialmedizin in Indien zeigt der Historiker, dass Wissenschaft selbst in dem von westlicher Dominanz geprägten 19. Jahrhundert kein eindeutig topographisch lokalisierbares Zentrum besaß. Eine westliche „Wissenshoheit“ gebe es nur als „imperialistischen Mythos“: Mit Globalhistorikern der jüngsten Generation geht Fischer-Tiné vielmehr von polyzentrischen Wissenswelten aus, die durch ineinander verschränkte Wissensordungen charakterisiert sind – und dies nicht erst heute. So war etwa der Kolonialdienst angesichts der hohen Mortalitätsraten britischer Bürger und Angestellter in Indien darauf angewiesen, auf lokales Heilwissen zurückzugreifen. Die zwischen den 1780er und 1840er Jahre geführte Debatte, bekannt geworden als „Anglicist-Orientalist Controversy“, handelte vor diesem Hintergrund vom richtigen Umgang mit „fremdkulturellem“ medizinischen Wissen. Erst allmähnlich gewannen die „Anglicists“ gegenüber den Orientalisten an Einfluss im Zurückdrängen von als irrational und schädlich gebrandmarktem indischen Wissen.
Dennoch hält der Autor fest, dass koloniale Kontaktzonen wie Kalkutta oder Bombay britischen Medizinern innovative Forschungsbedingungen und Experimentiermöglichkeiten boten, die das dominante Modell von Metropole und Peripherie unterlaufen: In bestimmten historischen Konstellationen hätten wir es viel eher „mit peripheren Zentren und zentralen Peripherien“ zu tun, in denen Pidgin-Wissen entstehen kann. Bekanntlich stammt der Pidgin-Begriff aus der Linguistik, wo er eine in multikultureller Interaktion entstandene Kontaktsprache bezeichnet. Gegenüber dem im postkolonialen Diskurs viel weiter verbreiteten Konzept der Hybridität bietet er für den Essayisten den Vorteil, nicht eine Fusion aus zwei voneinander abgrenzbaren Entitäten nahezulegen, sondern „eine Vielzahl von unterschiedlichen Komponenten und Einflüssen“ zuzulassen. Auf diese Weise wird indirekt auch das am Schluss angesprochene „Bewusstsein der Volatilität von Wissens-›Systemen‹ oder ›Wissenstraditionen‹“ geschärft.
Doch trotz der Dichte transkultureller Austauschprozesse im Zeitalter der sogenannten „imperialen Globalisierung“ ist der Einfluss der assymmetrischen Machtverhältnisse auf die Wissensproduktion und -zirkulation gar nicht hoch genug zu veranschlagen: Es ist ein Einfluss auf „Inhalte und Ordnungen des Wissens“. In diesem Kontext hätte man sich eine Vertiefung des von Fischer-Tiné aufgezeigten, aber nur angerissenen Zusammenhangs von den Repressionsmöglichkeiten eines autokratischen Kolonialregimes einerseits und der Produktion von medizinischem Wissen andererseits gewünscht. Dem Verdienst dieses schmalen Bandes tut dies keinen Abbruch: Rundum gelungen und zudem anregend zu lesen ist der Essay mit Blick auf seine Motivation, „das Potenzial von regionalwissenschaftlichen und globalgeschichtlichen Perspektiven für eine neue (nicht-eurozentristische) Wissensgeschichte zu prüfen“.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz