Kunst versus Leben

Zu Donna Tartts „The Goldfinch“

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alle zehn Jahre veröffentlicht Donna Tartt einen neuen Roman; diese sind stets von großem Umfang und sehr schleppendem Beginn, so dass der geneigte Leser Schwierigkeiten hat, sich darauf einzulassen. Als Anfang der 90er Jahre ihr Debüt „Die geheime Geschichte“ („The Secret History“) erschien, hatte die amerikanische Autorin etwas Neues geschaffen: einen Thriller, der sich fast gänzlich den Konventionen des Genres entzog und trotzdem unfassbar spannend war. Auf Latein schwadronierende Studentennerds, die einen Kommilitonen nur deshalb ermorden, weil sie mal den Zauber des Dionysischen erleben wollten, und danach jahrelang versuchen, mit der Schuld zu leben? Der Stoff, der sich zwar stark bei philosophischen und historischen Texten bediente, dies aber zu keinem Zeitpunkt überstrapazierte, erschloss sich sowohl Krimifans als auch einem anspruchsvolleren literarurbeflissenen Publikum.

Diesem gelungenen Spagat folgte ein zehnjähriges Schweigen, bis 2003 „Der kleine Freund“ („The Little Friend“) erschien; ein Südstaatenepos von fast 900 Seiten, das zwar mit einem rätselhaften, mutmaßlichen Mord und der Suche nach dem Täter beginnt, doch dieses Thriller-Element alsbald über Bord warf, um tief in die Familiengeschichte der Protagonistin einzutauchen. Das Ergebnis war Enttäuschung auf der einen Seite (der Seite der Krimifans) und Verwunderung ob der ungewohnten Handhabe des Plots auf der anderen (der Seite der Freunde anspruchsvoller Literatur).

Und nun, nach wieder einmal zehn Jahren Schweigen einer Autorin, die langsam zur weiblichen Ausgabe des legendären Thomas Pynchon zu werden scheint, wie aus dem Nichts ein neues, fast 800-seitiges Epos, das den Titel „The Goldfinch“ trägt und sich eigentlich nur um eines dreht: Die Unsterblichkeit der Kunst, die den Menschen einerseits ihre Sterblichkeit vor Augen führt, andererseits dem Leben erst den Sinn verleiht. Gegen Ende des Romans zitiert eine der Figuren wie nebenbei Winston Churchill, der einst auf die Anfrage seiner Berater, in Kriegszeiten das Kulturbudget zu kürzen, geantwortet haben soll: „Und wofür kämpfen wir dann?“ Diese Frage könnte man auch Donna Tartt stellen: Warum einen Roman schreiben, der manchmal wie ihrem Leben abgerungen scheint, bei dem man die Verzweiflung der Autorin, einen genialen Ausgangsplot sicher nach Hause zu bringen, fast körperlich zu spüren glaubt, nur um am Ende zu einer zwar wahren, aber doch recht simplen Aussage zu kommen? Aber der Reihe nach.

„The Goldfinch“ beginnt mit einem Bombenanschlag auf ein New Yorker Kunstmuseum, das der 13-jährige Theodore Decker mit seiner Mutter besucht. Die Mutter stirbt bei dem Attentat, Theodore wird unter den Trümmern fast beerdigt, neben einem alten Mann, mit deren mutmaßlicher Enkelin er noch kurz zuvor geflirtet hatte. Der alte Mann, der bereits im Sterben liegt, gibt Theodore seinen Siegelring und bittet ihn, ein Gemälde zu retten. Es handelt sich um den „Distelfink“, 1654 vom niederländischen Maler Carel Fabritius angefertigt. Da es sich um das Lieblingsgemälde seiner Mutter handelt, nimmt sich Theodore des Kunstwerks an und versucht, sich aus den Trümmern zu befreien. Plötzlich landet er, unentdeckt von den Feuerwehrleuten, die nach Überlebenden suchen, am Hinterausgang des Museums; er weiß nicht, wie er das Bild nun inmitten des ganzen Chaos zurückgeben soll, beschließt, es mit nach Hause zu nehmen und dort auf seine Mutter zu warten, da er noch nicht weiß, dass diese beim Anschlag auf das Museum ums Leben gekommen ist. Er wird das Bild, das bald als eines der teuersten vermissten Gemälde überhaupt gelten wird, sein ganzes Leben lang behalten. So denkt er jedenfalls.

Nun beginnt für Theodore eine Odyssee und der Leser findet sich in einem opulenten Roman wieder, in dem es in erster Linie tatsächlich um die Bedeutung von Lebensraum für das Individuum geht. Jede Station des Theodore Decker – die tagelange Einsamkeit in seinem leeren Zuhause, die reichen Eltern eines Freundes, die sich seiner in New York annehmen, sein plötzlich auftauchender, alkohol- und spielsüchtiger Vater, der ihn nach Las Vegas mitnimmt, der dem in den Trümmern verstorbenen alten Mann gehörende Antiquitätenhandel, bei dem er nach seiner Rückkehr nach New York Unterschlupf findet, bis hin zu einem unwirklichen, wie in Trance erlebten Amsterdamer Hotelzimmer – ist gleichsam eine Besetzung des Raumes durch die Hauptfigur. Das mag auf Dauer schematisch wirken, da es Tartt stets weniger um ihre Figuren als um die Räume geht, in denen diese sich bewegen, und doch ist das Wissen um die stetige unsichtbare Präsenz des versteckten Bildes – er selbst lässt es jahrelang verpackt – unter Theodores spärlichen Besitztümern genau das, was den Leser selbst bei der Stange hält, ihn zum Komplizen macht.

Ein großartig entwickelter Plot, bei dem man sich nach 500 Seiten fragt, was die Autorin denn nun mit ihm veranstalten wird. Wie wird sich das Verhältnis von Theodore und seinem versteckten Gemälde, das in seinen Augen die Erinnerung an seineMutter in sich trägt, auflösen? Und leider scheitert genau an diesem Punkt dieser bis dahin grandiose Roman. Donna Tartt spinnt plötzlich eine Thriller-Handlung um das (plötzlich gestohlene) Gemälde, Theodore lässt sich mit dubiosen Kleinkriminellen ein, die ihm das Bild wiederbeschaffen wollen, und auch die Auflösung der engen Bindung zwischen Gemälde und Mensch ist leider ziemlich albern. Das ist schade, denn man merkt regelrecht, dass sich der angenehm träge und langsam entwickelnde, mit viel Liebe zum (vor allem räumlichen) Detail ausgeschmückte Plot für die Autorin (oder den Verlag) vielleicht ein wenig zu unspektakulär angefühlt hat. Einerseits eine vertane Chance, andererseits bleibt, zumindest 500 Seiten lang, unterm Strich trotzdem noch einer der originellsten amerikanische Romane der letzten Jahre übrig.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Donna Tartt: The Goldfinch. A Novel.
Little, Brown Book Group, London 2013.
784 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9780316055437

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Titelbild

Donna Tartt: Der Distelfink. Roman.
Aus dem Englischen übersetzt von Rainer Schmidt und Kristian Lutze.
Goldmann Verlag, München 2014.
1024 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783442312399

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