Subjektive Erinnerung und kollektives Gedächtnis
Martin Walser und die Friedenspreisdebatte
Von Lutz Hagestedt
Die Diskussion um Martin Walser und seine Paulskirchenrede aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels nimmt kein Ende. Immer neue Aspekte dieser Debatte, die im Oktober 1998 durch Ignatz Bubis mit ausgelöst wurde, kommen zutage und werden kontrovers diskutiert. Jüngstes Beispiel ist Dieter Borchmeyers Essay „Von der politischen Rede des Dichters. Heinrich Heine – Thomas Mann – Martin Walser“ am 30. Januar 1999 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dieses Blatt hat sich quasi zum leitenden Organ dieser Debatte selbst ernannt. Sie hätte jedoch nicht solche Wellen geschlagen, wenn sie nicht über Walser hinauszielte. Das zeigte ein Podiumsgespräch am 28. Januar 1999 im Audimax der Universität Marburg. Unter der Losung „Subjektive Erinnerung und kollektives Gedächtnis – die Vergangenheit des Holocaust in der Zukunft“ diskutierten hier Thomas Anz, Wilfried von Bredow, Michel Friedman, Heinz B. Heller, Gerhard Pickerodt und Horst-Eberhard Richter. Die Diskussion moderierte der Marburger Medienwissenschaftler Karl Prümm. Im folgenden dokumentieren wir Teile aus diesem Gespräch und den bisherigen Verlauf der Bubis-Walser-Debatte.
Auszüge aus einer Podiumsdiskussion in Marburg
Walser versuche, so Karl Prümm in seiner Vorrede, zu erweisen, daß die Erinnerung allein dem Subjekt gehöre, allein dem Gewissen. Er empfinde die Darstellung des Holocaust in den Medien als „Erpressung“ – „Meinungssoldaten“ wollten, Walser zufolge, den Schriftsteller zwingen, an der „Dauerrepräsentation unserer Schande in den Medien“ mitzuwirken. Dem verweigere sich Walser, indem er sich vom „politisch-moralischen Diskurs“ zurückziehe: „Dies ist der Endpunkt seines langen Eintretens für eine ›literature engagèe‹“.
Für den Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter ist ein Aspekt in Walsers Rede besonders auffällig: der nicht weiter konkretisierte Vorwurf an die Medien, sie würden den Holocaust „instrumentalisieren“. Walsers These zufolge stünden Leute dahinter, die uns durch „Dokumentationen“ pausenlos bedrängten. Richter stellt dem eine andere Einschätzung entgegen: „Ich meine, daß seit einigen Jahren etwas passiert, was in anderer Weise um 1968 und in den siebziger Jahren vor allem passiert ist, nämlich daß […] erneut das Bedürfnis hochkommt, sich mit dieser Zeit auseinanderzusetzen.“ In der Jugend oder in der Ärzteschaft werde man heute nicht von außen zur Erinnerung gedrängt, sondern folge persönlichen Impulsen der „Erinnerung“. Das würden Medien heute deshalb so häufig aufgreifen, weil sie spürten, daß dafür die Zeit günstig ist.
Richter führt aus, daß die Deutschen, sozialpsychologisch gesehen, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine tiefe Regression erlebt hätten, verbunden mit der kindlichen Erwartung: „Hoffentlich kann uns das Ausland, wenn nicht vergeben, so doch wieder akzeptieren, helfen usw.“ Diese besondere Autoritätsergebung habe dazu geführt, daß Erinnern gar nicht als innerer Vorgang begriffen worden sei. Es gebe aber keine Autorität, die uns nötigen könne, das zu tun, was mit Erinnerung eigentlich gemeint sei: „Es geht ja nicht darum, bloß Bilder der Vergangenheit zu besichtigen; aber wenn sich in meiner inneren Welt wirklich etwas bewegen soll, dann kann das nur von mir selber kommen.“ Inzwischen sei das infantil-regressive Stadium der Deutschen von einer pubertär-ödipalen Phase abgelöst worden: „Man fängt an, genau wie in der Pubertät, mit der ›Elternwelt des Auslandes‹ zu hadern. Man fragt: Müssen wir uns das eigentlich gefallen lassen, müssen wir eigentlich noch brav sein, können wir uns nicht endlich emanzipieren? Dies ist eine Zwischenstufe nach fünfzig Jahren; die nächste Stufe kann dann sein, daß man schließlich doch kapiert, daß das Problem wie von Erwachsenen als Problem der eigenen Verantwortung zu diskutieren ist.“
Michel Friedman zeigte in seiner Einschätzung sehr deutlich, daß Walsers Position einen Generationenwechsel markiert: „Meine Erfahrung in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust ist: […] Je jünger die Menschen zum jeweiligen Zeitpunkt waren, desto offener, neugieriger und engagierter waren sie. Wir haben es jetzt mit einer vollendeten dritten Generation zu tun, […] die wieder Druck macht auf Eltern und auf Großeltern.“ Friedman glaubt, daß die „Großeltern schon vor fünfzig Jahren nicht erinnern wollten, gerade noch die Kurve bei ihren Kindern gekratzt zu haben glauben und jetzt wieder über ihre Enkelkinder genötigt werden“, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, „weil die wieder ihre Eltern nerven: Das macht die Älteren und Alten denn doch auch wütend. […] Wenn man sich erinnert, dann strengt das an. Aber die wirkliche Anstrengung besteht nach meinem Verständnis darin, daß, wenn man sich erinnert, jede Generation diese Geschichte einordnen muß in ihre eigene Gegenwart. Und die Einordnung wiederum hat die Konsequenzen, die ich für mein Leben ziehe. Und das ist die größere Anstrengung. […] Natürlich gibt es Bewertung. Es ist zu bewerten, was Menschen getan haben. Das ist weder moralin, noch ist es überheblich, noch ist es zynisch, sondern es ist die Bewertung, die ich vornehmen muß, um zu wissen: wo stehe ich jetzt.“ Die Grundfragen seien immer gewesen: „Wie gehen wir mit unterschiedlichen Menschen, Meinungen, Kulturen, Religionen, Ansichten heute um? Wann beginnt die Ermordung von Menschen? Nicht: Wann hört sie auf? Also dieser Satz, den ich in meiner Jugend immer gehört habe, von Lehrern und Eltern, ›Auschwitz habe ich nicht gewollt‹; selbst wenn ich den Menschen geglaubt habe, die mir das gesagt haben, was will das schon besagen? Hast Du den Rest gewollt? War der Rest, der Anfang, jeder Schritt von Gewalt und Gleichgültigkeit etwas, was Du nicht nur hingenommen hast, sondern sogar gewollt hast? Diese Einordnung von Geschichte ist natürlich anstrengend und enthält in der Tat Bewertung. Aber das ist unumgänglich. Die Medien haben das nicht heute mehr und nicht früher weniger forciert. Ich erinnere mich, als der ›Holocaust‹-Film kam, hat es die ARD nicht geschafft, den Film ins erste Programm zu bringen, weil die Medien nie geglaubt hätten, daß das Interesse finden könnte. Und übrigens, ich erinnere mich daran, als ›Schindlers Liste‹ herauskam, haben viele Journalisten mit mir diskutiert, weil meine Eltern auf dieser Liste waren und deshalb überlebt haben, und mich gefragt: ›Um Gottes Willen, Herr Friedman, was macht denn Deutschland, wenn in deutschen Kinos die Zuschauer nicht kommen?‹ Es sind sechs Millionen gekommen, und davon waren über siebzig Prozent unter zwanzig Jahren. Und die, die gefragt haben, waren weit über zwanzig Jahre alt. Und die, die gezweifelt haben, haben natürlich an sich gezweifelt, weil sie nicht hingehen wollten. Das projizierten sie auch auf die Jugend, die in der Tat hingehen wollte und neugierig war – was kein Medienereignis ist, weil jeder weiß: Du kannst mit einer riesigen Werbekampagne den Film puschen, aber wenn die Zuschauer, die hingehen, dann nicht erzählen, der Film sei sehenswert, bleibt er hängen. […] Ich habe das Gefühl, daß die, die jetzt so um die siebzig und etwas älter sind, ein Teil von denen, die Martin Walser repräsentiert, auch das Problem haben, daß sie bald sterben. Ich meine das sehr ernst. Daß sie ein ganzes Leben mit einer Biographie unterwegs sind, mit der zu sterben nicht leicht ist. Ich habe das sehr unterschiedlich auch erlebt mit älteren Menschen, nichtjüdischen Deutschen. Das ist nicht einfach: Sie waren jung, einige sehr jung, einige nicht mehr so jung. Sie haben zwar nicht im KZ – die meisten – mitgewirkt, aber sie haben denn doch – wie Richter eben erzählt – in ihren Berufen zugesehen, wie Menschen verschwanden, wie ihre Nachbarn verschwanden, nur weil sie Juden waren, und haben dann, teilweise bei Zwangsversteigerungen der Finanzämter, ihr Eigentum ersteigert. Wieviel gehört den Nachbarn, was zu Hause so an Besteck da ist, und die Enkelkinder wissen das bis heute nicht? Sie haben unter Umständen als Banker bei der Arisierung mitgespielt, sie haben so viel mitgemacht. Und es hat sie ein ganzes Leben lang begleitet. Übrigens nicht, weil es eine ›Moralkeule‹ gab, übrigens nicht, weil dieses Weltjudentum in Anführungsstrichelchen sie genötigt hat, darüber nachzudenken, übrigens nicht, weil das Ausland es verlangt hat, sondern weil es ein Teil ihres Lebens war, und sie konnten es nicht abwerfen, und deshalb begleitete es sie und begleitet sie immer noch. Es ist in ihrer Biographie, und auch wenn kein Mensch irgendetwas sagt, ist es in ihrer Biographie. Und jetzt würden sie gern ein paar Jahre in Ruhe in ihrem Altersheim sein. Ich kann ihnen diesen Gefallen nur nicht anbieten, nicht, weil ich es dem einzelnen nicht gönne, in Ruhe im Altersheim zu sein, sondern weil die Ruhe im Altersheim nur vom einzelnen selbst kommen kann. […] Ich bin traurig darüber, daß wir so schnell dem Versöhnungsdruck der Gesellschaft nachgegeben haben. Ich denke, dieser Konflikt hätte noch nicht, versöhnt werden sollen, denn er ist nicht versöhnt. Und ich war über kein Phänomen so erstaunt, und die, die mich kennen, wissen, daß ich nicht naiv bin, wie über das plötzliche Bedürfnis der gesamten Elite der Gesellschaft, dieses Thema und diesen Konflikt zu versöhnen, damit wieder Ruhe ist. Es ist aber nicht Ruhe, und so will ich am Schluß noch eine politische Bemerkung über unsere Gegenwart machen. Ich bin nicht erstaunt und überrascht gewesen über Walsers Äußerungen – mich hat die Überraschung überrascht. In den letzten Jahren war für jeden erkennbar, daß das, was früher in den Hinterstuben von Kneipen formuliert wurde, mittlerweile auch in Salons mit manükierten Fingernägeln und Krawattenträgern gesprochen wird, dieselben Gedanken, nur mit anderen Sprachsätzen. Die Enthemmung und Salonfähigkeit ganz bestimmter Thesen ging durch die achtziger Jahre – und nach der Vereinigung mehr und mehr in den Alltag. Der Wunsch nach Normalisierung und einem neuen deutschen Selbstbewußtsein ist prägendes Merkmal der ›Neuen Mitte‹. Wo soll denn dann der Konservative landen? Und wenn denn eben Repräsentanten der Neuen Mitte hoffen, daß das deutsche Volk ›mit Freude‹ an ein Holocaust-Mahnmal geht, immerhin ein Bundeskanzler, der so spricht, dann wundere ich mich, was für eine Reaktion Helmut Kohl vor fünfzehn Jahren mit ›der Gnade der späten Geburt‹ hervorgerufen hat, und Gerhard Schröder dies nicht mehr an Reaktion wiederfindet. Was ich damit ausdrücken will, ist: Wir haben uns mittlerweile an sehr vieles gewöhnt. Auch unsere Hemmschwellen haben sich verändert – die Reizschwellen haben sich verändert. Zehn Prozent Republikaner sind nicht mehr Seite eins. Und wenn denn Neo-Nazis – Gottseidank! – nicht Menschen umbringen, ihren Terror üben sie nach wie vor aus, so wie vor fünf, sechs, sieben Jahren, aber Lichterketten, Aktivitäten in Schulen, Jugendzentren, Reaktionen welcher Art auch immer, sind nicht mehr präsent. Damit schließt sich für mich der Kreis, warum Geschichte anstrengend ist. Denn die Fragen und die Antworten sind gleichzeitig die Zustandsbeschreibungen unserer Gegenwart. Und ob die momentan eine solch menschenrechtsbewußte, engagierte, respektvolle, vielschichtige Gesellschaftsrealität widerspiegelt, wie ich sie mir wünschen würde, wage ich spätestens seit den Reaktionen auf die Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft zu bezweifeln.“
Wilfried von Bredow, Marburger Politologe, sagte, daß die Bubis-Walser-Debatte nur im Kontext zahlreicher anderer Positionskämpfe der letzten Jahre zu verstehen sei: Sie sei „auch im Kontext der Statusveränderung der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung zu sehen. Dieser Staat ist ein anderer geworden, jedenfalls in seinen internationalen Beziehungen, und auch das Umfeld hat sich geändert.“ Der Begriff der ›Normalität‹ gehöre zu den Schlag- und Stichworten, unter denen das diskutiert werde: Deutschland solle „wieder ein ›normaler‹ Staat werden. […] Ich glaube, wir haben es jetzt nicht so sehr mit dem zyklischen Aufbrechen eines Erinnerungsbedürfnisses zu tun, sondern wir haben es auch damit zu tun, daß nicht nur eine Generation, die sich wirklich erinnert, was zwischen 1933 und 1945 gewesen ist, individuell und kollektiv abtritt, sondern daß auch meine Generation, also diejenigen, die nicht mit dabeigewesen sind, die es aber von ihren Eltern, sozusagen von den Augenzeugen, direkt gehört haben und dadurch auf eine quasi-existentielle Weise in diese Vergangenheit hineingezogen worden sind. Auch diese Generation wird älter, auch diese Generation fängt an, über ihre spirituellen Testamente nachzudenken.“
Von Bredow zufolge erleben wir derzeit „den Versuch, für die nächsten Generationen eine Ordnung der kollektiven Erinnerung herzustellen. Die verschiedenen Konzepte dafür haben dezidiert politische Gründe. Das ist auch das Problem dieser Debatte. Wenn ich es richtig sehe, dann war die vernünftigste Reaktion dieser ganzen Auseinandersetzung die von Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er hat nicht vorschnell versöhnen wollen, […] aber Reich-Ranickis Intervention war scharf, sie war gerecht, und sie hat den Beteiligten ihre Würde gelassen. Und selbst wenn man wie Walser – vermutlich auch aus Eitelkeit – etwas mehr provoziert, als es der Würde des Themas entspricht, heißt das ja noch nicht automatisch, daß man deswegen disqualifiziert ist aus der öffentlichen Diskussion.“
Der Literaturwissenschaftler Thomas Anz (Universität Marburg) wandte sich gegen Richters These, „daß in der Bundesrepublik eine gesunde, gesättigte Erinnerungskultur gepflegt“ werde, „ablesbar an der Präsenz bei der Heutigen Veranstaltung oder bei anderen Veranstaltungen, ablesbar auch an der Präsenz des Holocaust-Themas in den Medien. Ich glaube daran nicht, ich glaube, die Walser-Rede hat gezeigt, daß es auch eine Schlußstrich-Mentalität gibt, die durchaus weit verbreitet ist. Insofern trifft Walser auch etwas Richtiges, seine Rede hat eine befreiende Wirkung, ich würde das nicht wegleugnen wollen. Walsers Rede reiht sich ein in Versuche, die seit 1989 permanent unternommen werden, sie ist die hundertste Rede, die versucht, so etwas wie eine epochale Wende herbeizuführen: 1989 wird die Stunde Null genannt, ab hier soll alles anders werden. 1989 ist zum Signal geworden, den Abschied von der Nachkriegszeit endlich zu vollführen, auch in der Literatur. Ich nenne Hanns-Josef Ortheil, ›Abschied von den Kriegsteilnehmern‹, es gibt ganz viele Beispiele dafür, 1989 als Datum, eine Generationenwende zu konstruieren. Die 1968er Generation soll abgelöst werden von der sogenannten 1989er Generation […]. Ich meine auch, daß die Präsenz des Holocaust in den Medien nicht unbedingt vom Gegenteil zeugt. Für mich hat diese Präsenz durchaus nicht nur beruhigende, sondern zum Teil auch beunruhigende Aspekte. Ich habe das auch bei der Walser-Debatte beobachtet. Ich habe heute noch den Ton und das Gesicht des ZDF-Sprechers in Erinnerung, wie er angekündigt hat: ›Dienstag, 22 Uhr 15, die Holocaust-Debatte! Die Holocaust-Debatte, Dienstag, 22 Uhr 15!‹ Holocaust auf dem Jahrmarkt, das ist ein Ton, der mich an der Debatte, der mich an der Präsentation des Holocaust immer stört, in diesem Gesicht des Nachrichtensprechers, mit diesem sensationsheischenden Ton in der Stimme – bis zum Erbrechen. Diese Präsenz ist für mich kein Beleg für die gute Art, sich zu erinnern.“
Heinz B. Heller, Medienwissenschaftler der Universität Marburg, macht darauf aufmerksam, daß Walsers Medienschelte von den Medien dankbar aufgegriffen worden sei: „Es ist sicherlich so, daß der Holocaust präsent ist wie nie zuvor. Dahinter steht, insofern müssen wir Walsers Unbehagen ernst nehmen, der Mißbrauch der Authentizität des Holocaust. In der Tat gibt es ja Belege für diese Instrumentalisierung des Holocaust, und es wird sicherlich nicht lange dauern, bis eine Großbrauerei Guido Knopps Serie über ›Hitlers Helfer‹ sponsern wird. Ich denke, das ist einfach Alltag, das wird man zukünftig nicht mehr wegdiskutieren können. Das ist aber die eine Seite. Die andere Seite ist die, daß die jüngere Generation, der man eine gewisse Medienabhängigkeit zugeschrieben hat, ein anderes Bewußtsein gegenüber der medialen Repräsentation des Holocaust entwickelt. […] Gerade bei der jüngeren Generation, die den Holocaust nur vermittelt erfahren hat, ist ein ausgesprochenes Mißtrauen gegenüber der dokumentarischen Kraft der Bilder entwickelt. Anders ausgedrückt: Die Kehrseite dessen, was Walser mit Recht gegeißelt hat, ist ein ausgesprochen hohes Reflexionsniveau, nicht nur bei Teilen der Zuschauerschaft, sondern vor allem bei Filmautoren, die sich mit diesem Thema befassen. Es ist im Bereich des Dokumentarischen geradezu ein Kennzeichen der Filmemacher, den Bildern im höchsten Maße zu mißtrauen. Wenn man solche Ausnahme-Filme wie ›Shoah‹ von Claude Lanzman nimmt, […] so sieht man Bilder, die gar nichts dokumentieren, die nicht versuchen, etwas unmittelbar zu rekonstruieren, sondern Lanzman setzt ganz anders an, er macht den Erinnerungsvorgang selber zum Gegenstand seiner Bilder und bringt damit die ganze Erinnerungsproblematik auf ein ganz anderes Niveau, wo nicht das Erinnerte, sondern die Schwierigkeiten des Erinnerns zum eigentlichen Thema der medialen Produktion werden.“
Der Literaturwissenschaftler Gerhard Pickerodt knüpft an Michel Friedman an und hebt Walsers Erinnerungskonzept von früheren Konzepten bewußt ab. Ähnlich wie Friedman verknüpft Pickerodt den Begriff der Erinnerung mit dem Begriff der Anstrengung; ähnlich wie Heinz B. Heller sieht er das Problem des Erinnerungsvorgangs selber thematisiert. Für das Literaturkonzept der siebziger und achtziger Jahre sei zu konstatieren, „daß die Autoren meinten, Erinnerung nicht unmittelbar präsentieren zu können, sondern daß sie den Weg thematisieren, über den Erinnerung zu ihnen gelangt. Das ist mit Claude Lanzmans Konzept vergleichbar, wie es Heinz B. Heller soeben ausgeführt hat. […] Ich brauche nur an Christa Wolfs ›Kindheitsmuster‹ zu erinnern, oder an Uwe Johnsons ›Jahrestage‹-Roman, in dem die Schwierigkeit des Erinnerns, die Widerstände, die sich dem Erinnern entgegenstellen, die Bewußtseinsbarrieren thematisiert und zum Formelement des Romans gemacht worden sind.“ Walser gehe von einem anderen Erinnerungskonzept aus, und im Gegensatz zu den von den Medien normierten Bewußtseinsvorgängen der Gegenwart setze er einen Bewußtseinsträger voraus, indem er sage, „Erinnerung“ sei „die innere Einsamkeit mit sich“. Walser „glaubt, eine Erinnerungskonzeption realisieren zu können, in dem die Vergangenheit nicht mehr verarbeitet werden muß, sondern in dem sich die Vergangenheit gleichsam in den Erinnerungsprozeß einschreibt. Dieses definiert er dann noch einmal so, daß er sagt: Wunschloses Ziel sei ein interesseloses Interesse an der Vergangenheit, das uns wie von selbst entgegenkäme. Nun ist dieses Erinnerungskonzept sicherlich sehr problematisch, insofern es nur fälschlich ein Erinnerungskonzept ist, viel eher aber ein literarisches Konstrukt. ›Ein springender Brunnnen‹ will zeigen, daß Erinnerung etwas Spontanes sei, etwas aus sich selbst heraus zu konstruierendes. Tatsächlich hat es einen konstruktiven Charakter, setzt es eine Perspektive voraus, die aus der damaligen Perspektive nur eine Wunschillusion sein kann, aus der heutigen Perspektive nur ein Konstrukt. Ich glaube, daß Walser sich über die Bedingungen und Möglichkeiten des Erinnerns, sei es wissentlich, sei es unwissentlich, hinwegtäuscht. Daß er uns einen Erinnerungsroman präsentiert, der in Wirklichkeit gar kein Erinnerungsroman ist.“
Michel Friedman versucht in seiner zweiten Wortmeldung, die enge Perspektivierung auf Walser zu durchbrechen: „Bei allem Respekt für Martin Walser, aber es geht um mehr. […] Nicht die Werbewirtschaft ist das Problem von Herrn Walser gewesen, nicht daß sie die Sendungen von Herrn Knopp mitfinanziert, sondern daß Juden, das Ausland, die Linken und sonstige das Thema instrumentalisieren. Damit die deutsche Seele endlich ihren Frieden finden kann, soll das aufhören. Das hat Martin Walser gemeint. Und da muß ich wieder sagen: Ich kann diese Kräfte nicht erkennen, vor denen er Angst hat, und ich glaube, daß sich eine freie Gesellschaft wehren kann. […] Es ist völlig legitim, daß gerade ein Künstler […] seine ganz persönliche Sicht darstellt, es ist auch völlig legitim, daß er von seiner Einsamkeit spricht, aber es ist nicht legitim, daß er versucht, sich in der Paulskirche zu exkulpieren von der Verantwortung, die jeder Mensch eben auch hat, im politischen Sinne des Wortes.“ Man könne sich nicht in die Privatheit zurückziehen und sagen: „Es ist meine Sache und nur meine Sache, was ich getan habe in meinem Leben, und ich muß damit fertig werden. Derjenige, der so argumentiert, entzieht sich der öffentlichen Auseinandersetzung, entzieht sich der Folgen von Handlungen, die Menschen begehen. Das ist für mich die entpolitisierteste Antwort, die man in einer Gesellschaft geben kann. […] Das geht nicht. Und ein letztes, was Walser verkörpert und gerne hätte, ist eben auch nicht anzubieten: Schlußstrich oder Stunde Null. Das ist nicht möglich, weil es unhistorisch ist.“ Die öffentliche Auseinandersetzung solle uns sensibilisieren, uns selbstkritisch machen. „Wir tragen Verantwortung für das, was wir heute tun – deswegen ist der Holocaust nicht privat. Walsers Haltung verstärkt den Irrtum, man könne als einzelner nichts tun: Dies ist die Antithese des freien, selbstbewußten, verantwortlichen Menschen. Man kann zu jeder Zeit etwas tun. Wie das Ergebnis ist, weiß ich nicht, aber Nichtstun ist kein Weg, den ich für mich und für Menschen sehe.“ Walser versuche „eine nachträgliche erneute Legendenbildung, die ich seit fünfzig Jahren kenne, ›wir konnten doch nichts tun‹, noch einmal literarisch zu verwenden. Ich wehre mich dagegen, weil ich zum Beispiel hier nur bin, weil ein Mann 1944 das Gegenteil der These war, nämlich Oskar Schindler, der etwas tat. Und alleine dieser eine Mann ist der Beweis der Lüge der vielen Millionen, die sagten, man könne nichts tun. […] Und übrigens, wenn es nichts bewirkt am Ende des Lebens, in dem Sinne, daß man das Ergebnis selbst nicht gesehen hat, gelingt es dem nächsten, der daran anknüpft. Und es ist mir lieber, an jemanden anzuknüpfen, der etwas getan hat, als das, was wir tun müssen, nämlich anknüpfen an die Geschichte von Menschen, die nichts getan haben.“