Den Krieg verstehen?

Gerd Krumeich und Gerhard Hirschfeld über „Deutschland im Ersten Weltkrieg“, Wolf-Rüdiger Osburgs Sammlung letzter Zeitzeugenberichte und Edgar Haider über den „Alltag am Rande des Abgrunds“ in Wien

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diesmal kann die ansonsten zu Recht hinsichtlich ihres Erkenntniswertes in Zweifel gezogene Hektik, die immer dann eintritt, wenn es einen bedeutenden Erinnerungstag zu würdigen gilt, tatsächlich einmal einen Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte leisten. Denn der Erste Weltkrieg, der „große Krieg der weißen Männer“, wie der Schriftsteller Arnold Zweig seinen Zyklus der Weltkriegsromane tiefsinnig nannte, ist in Deutschland nun bereits 100 Jahre nach Ausbruch immer noch ein weitgehend unbekanntes Kapitel der deutschen Geschichte. Kein Wunder einerseits: Die nur knapp 20 Jahre später einsetzende totale Katastrophe des nationalsozialistischen Verbrecherregimes überdeckte die Erinnerung an die Ereignisse, die auf ihre Weise auch ursächlich für eben diesen Zweiten Weltkrieg und die mit ihm einhergehenden Verbrechen wurden. Auch nach 1945 blieben also die Zeitzeugen des Ersten Krieges weitgehend stumm. Wer auch hätte sich interessiert für ihren Krieg, wenn doch der Zweite alles überdeckte? Wie sehr aber der Erste Weltkrieg im Bewusstsein der Menschen „wühlt und brodelt, stößt und schrillt“, aber es „gottlob“ nun im Frieden keiner merkt, davon hatte am Beispiel seines vor Verdun erzogenen Armierungssoldaten Werner Bertin Arnold Zweig („Erziehung von Verdun“, 1935) erzählt.

Denn es ließen sich die traumatischen Erlebnisse in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs nicht vollständig verdrängen. Eindrucksvoll schilderte 1986 Ludwig Harig in seiner Annäherung an den Vater („Ordnung in das halbe Leben“), der Teilnehmer des Weltkriegs war, wie sehr dessen Erlebnisse auch in ihm wühlten und brodelten und bis in die alltägliche Normalität der Bundesrepublik wirkten.

Weil den Deutschen Kenntnisse über den Ersten Weltkrieg fehlen, wollen nun zwei Kenner dieses Krieges, die Historiker Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich, mit ihrem Buch „Deutschland im Ersten Weltkrieg“ Grundlagenkenntnisse liefern. Also teilen sie ihr Buch in zwölf geschlossene Kapitel auf, die das Geschehen für die Leser übersichtlich ordnen. In den Text eingelassen sind markante und die Thematik ergänzende Originaldokumenten (Texte, Abbildungen, Fotos). Jedes Kapitel endet mit einem übersichtlichen Literaturverzeichnis.

Die ersten drei Kapitel „Vor dem Krieg“, „Julikrise“ und „Augusterlebnis“ beschreiben die politischen und mentalen Rahmenbedingungen, in denen sich der lang erwartet ‚Anlass‘, die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinands und seiner Ehefrau Sophie am 28. Juni 1914 in Sarajevo, so konsequent und verhängnisvoll bis zum Krieg entwickeln konnte. ‚Vernünftige‘ Stimmen, mit denen man das Kommende durchaus hätte aufhalten können, gab es vor allem auf Seiten der deutschen politischen Elite nicht. Jetzt endlich war es so weit: „Immer feste druff!“ und auf „zum Schützenfest nach Frankreich“ – Weihnachten sind wir wieder zuhause.

Im Kapitel „Kriegsschauplätze 1914/1915“ schildern die Autoren übersichtlich, dass der deutsche Vormarsch sich schon nach wenigen Wochen erschöpft hatte. Der „Schlieffenplan“, die Westumkreisung Paris, war gescheitert – für die Franzosen war es das „Wunder an der Marne“. Von nun an steckte man im Schützengraben fest. Doch es gab noch mehr Kriegsschauplätze: An der  Ostfront kämpfte man gegen die Russen („Tannenberg“), auf dem Balkan taten sich die Österreicher gegen die Serben schwer und auch in den Kolonien kämpfte man. Besonders grausam und zäh, so erläutern die Autoren, verliefen die Kämpfe um das sogenannte Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Ruanda und Burundi).

In diesem Weltkrieg spielte „Propaganda“ für die Kriegsparteien eine wichtige Rolle. Im gleichlautenden Kapitel führen die Autoren aus, dass die Engländer und Franzosen sehr bald schon dieses Mittel zur Mobilisierung der eigenen Bevölkerung im Sinne eines „totalen Krieges“ zu nutzen wussten. Die Verletzung der Neutralität Belgiens durch den deutschen Einmarsch und vor allem die Grausamkeiten einer oftmals überreizten und konfus agierenden deutschen Soldateska gegen die belgische Zivilbevölkerung boten den Stoff, mit dem internationale Solidarität gegen „die Hunnen“ mobil zu machen war. Die Reaktionen der deutschen Propaganda auf die internationale Empörung blieben bieder und unbeholfen. Der „Aufruf der 93“, mit dem am Ende des ersten Kriegsjahres prominente Zeitgenossen eine Rechtfertigung versuchten, geriet zur „intellektuellen Bankrotterklärung“, indem sie den deutschen Militarismus als wesenhaften Bestandteil der deutschen Kultur beschrieben. Es gelang der deutschen Propaganda nie, mit ‚Heldengeschichten‘ von der Front die „Heimatfront“ zu mobilisieren. Aber man schuf verhängnisvolle Mythen, wie „Langemarck“ oder „Tannenberg“, die das wahre Kriegsgeschehen idealisierten.

Schon bald nach Kriegsbeginn litt man in Deutschland unter einer zunehmend schlechter werdenden Versorgungslage. Sie war vielfach, wie die Autoren ausführen, hausgemacht. So beispielsweise beim „Schweinemord“ von 1915. Eine Zählung hatte ergeben, dass zu viele Schweine gehalten wurden. Man verordnete Zwangsschlachtungen. Mit einem Mal gab es nun Übermengen an Fleisch. Aber es konnte nicht konserviert werden und verdarb.

Im Kapitel „Die großen Schlachten 1916-1917“ informieren die Autoren über jene Orte, die bis heute symbolisch für die unzähligen Menschenopfer des Krieges stehen: der deutsche Angriff auf „Verdun“, der ‚Gegenangriff‘ der Engländer an der „Somme“, die „Brussilow-Offensive“ an der Ostfront, in deren Verlauf die Österreicher zwei Drittel ihrer Armee verlieren (ca.1,5 Mio. Menschen), der Stellungskrieg in Flandern oder der Alpenkrieg.

Die unglaublich hohen Verluste der Kriegsparteien waren auch Folge einer neuartigen „Industrialisierung des Krieges“. Während durch sie die Waffentechnik zu einer effektiven  Tötungsmaschinerie entwickelt wurde, blieb der Einsatz der einfachen Soldaten einem überkommenen Kriegsverständnis verpflichtet: Mit „Hurra“ und aufgepflanztem Bajonett sollten sie gegen den Gegner anrennen, derweil von hinten die anstürmende Kavallerie den Rest zu besorgen hatte. Tatsächlich stürmten die Soldaten in immer neuen Wellen in das sie erwartende Maschinengewehrfeuer des Gegners. Im Niemandsland zwischen den Schützengräben der Parteien verbluteten sie zu Tausenden. Menschenmaterial in einer Materialschlacht.

Über all dies, auch die Kriegsverbrechen der Deutschen beim Bau der „Siegfriedlinie“, die im Zuge einer „Frontbegradigung“ in Flandern entstand und bei der Tausende Zivilisten und Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden, blieb die deutsche Öffentlichkeit weitgehend in Unkenntnis. Die Autoren schildern eine kleine Episode, die deutlich macht, wie wenig auch die deutsche Politik über die tatsächlichen Verwüstungen dieses Krieges wussten: Nach Kriegsende ließen die Franzosen den Zug, mit dem die deutsche Delegation zu den Pariser Verhandlungen anreiste, sehr langsam durch die nordfranzösische Kriegslandschaft fahren. Die Deutschen sollten sehen, welche Zerstörung und Verwüstung sie zu verantworten hatten. Tatsächlich äußerten sich die Reisenden erschüttert über das, was sie sahen.

Über die tatsächliche Lage im Jahr 1918 hatte die Oberste Heeresleitung sie nie informiert. Nun kam das plötzliche Ende des Krieges für viele Deutsche überraschend. Hatte nicht die Oberste Heeresleitung gerade noch die positiven Aussichten der weiteren Kriegsführung beschrieben? In Wirklichkeit planten Ludendorff und Hindenburg den Ausstieg aus der Verantwortung. Von verhängnisvoller Berühmtheit wurde die „Stolchstoßlegende“: An der Front sei das Heer unbesiegt geblieben, erst in der Heimat habe der verräterische Dolchstoß in den Rücken ihr das Ende bereitet. Hirschfeld und Krumeich schildern das Entstehen dieser Legende, mit der Hindenburg nach dem Krieg vor einem Untersuchungsausschuss der Nationalversammlung die Tatsachen zu verdrehen suchte. Ein „englischer General“ habe es zu ihm gesagt: „Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.“ Dieser General, der Ex Generalmajor, inzwischen Militärkorrespondent der „Daily News“, Sir Frederic Maurice, stritt später ab, dass er den Ausspruch „stabbed in the back“ getätigt habe. In der Neuen Züricher Zeitung erschien im Dezember 1918 eine ‚Übersetzung‘: „von der Zivilbevölkerung von hinten erdolcht.“ Hindenburg freilich ließ offen, wer den Dolchstoß ausführte. So wirkte das Gift besser.

Die Autoren betrachten in zwei Kapiteln auch die Nachkriegszeit. Gerade angesichts der sofort einsetzenden falschen Verherrlichung des Krieges erinnern sie an die letztlich erfolglosen Versuche der Aufarbeitung. So erschien 1927 eine von der US-amerikanischen „Carnegie Stiftung für internationalen Frieden“ finanzierte Studie mit dem Titel „Geistige und sittliche Wirkungen des Krieges in Deutschland“. Als ein Ergebnis stellte die bemerkenswerte Studie eine erhebliche „Gefühlsverrohung“ in der Gesellschaft fest – eine Voraussetzung für die Brutalisierung der Politik in der Weimarer Republik, an deren Ende die Nazis standen. Dieser Brutalisierung fiel auch das einzigartige „Erste Internationale Anti-Kriegsmuseum“ des Pazifisten Ernst Friedrich zum Opfer. Das 1925 in seinem Privathaus in der Berliner Parochialstraße eingerichtete Museum war, wie sein Gründer, Hassobjekt der Rechten. 1933, gleich nach dem Reichstagsbrand, konnten sie es endlich zerstören. Ins Haus zogen die Schergen des Regimes und machten es zu einem berüchtigten Folterort. Seit 2002 erinnert eine Gedenktafel an Friedrich und sein Museum.

Das „Anti-Kriegsmuseum“, das 1982, 15 Jahre nach dem Tod seine Gründers Ernst Friedrich, in Berlin wieder eröffnet wurde, dokumentierte vor allem anhand vieler Fotos die Grausamkeiten des Krieges und die zynische Verlogenheit, mit der die Politiker und Militärs der Kaiserzeit das Morden rechtfertigten. Berühmt war die Sammlung von Fotos schrecklich verstümmelter Kriegsversehrter. Immerhin, sie hatten das Schlachthaus überlebt. So wie die 135 Männer, allesamt in den 1890er geboren, mit denen Wolf-Rüdiger Osburg noch über ihre Kriegserlebnisse sprechen konnte. Die Gespräche hat er in einem Buch zusammengefasst: „Hineingeworfen. Der Erste Weltkrieg in den Erzählungen seiner Teilnehmer.“ Eines Teils seiner Teilnehmer, muss man korrigieren, denn die alten Männer, mit denen Osburg noch sprechen konnten, waren 17, 18 oder höchsten 20 Jahre alt, lebensunerfahren, als sie in den Krieg zogen. Aber es wurden in diesen Krieg auch ältere, im Beruf stehende Männer, lebenserfahrene Familienväter geschickt. Ihre Kriegserlebnisse mögen sich anders angehört haben.

In einem Vorwort zu Osburgs Erzählsammlung meint Gerd Krumeich: „Dieses Buch ist ein Glücksfall.“ Weil, wie er meint, das Buch ebenso HistorikerInnen wie interessierten LeserInnen die Möglichkeit gibt, sich “einzulesen“ in das, was „die Wirklichkeit des soldatischen Kriegserlebnisses im Ersten Weltkrieg ausmachte“. Abseits des kommerziell getrimmten oder ideologisch benutzten „wahren Kriegserlebnisses“, seien die Erzählungen, die Osburg zusammengetragen hat, eine „authentische Quellensammlung aus erster Hand“, die „uns hilft, den ersten Weltkrieg besser zu verstehen.“

Osburg hat die Gesprächsstruktur aufgegeben und die Äußerungen seiner Gesprächspartner in 24 Themen zusammengestellt: „Kriegsausbruch“, „Der erste Tag im Krieg“, Angriff“, „Schützengraben“, „Der Feind“, „Kameraden“, „Im Gefecht“, „Sterben“, „Kriegsende“ oder „Das Leben danach“. Ein kurzer Text leitet jeweils die Themen ein. Dann folgen kommentarlos, aber mit dramaturgischem Gespür angeordnet die Aussagen der Gesprächspartner. Sie sind erstaunlich präzise, allesamt frei von Ideologie oder nachgereichten Erklärungen. Sie sind nüchtern. So, als wären die Aussagen über Jahre gereift, um nun dem Moment, da jemand nach ihnen fragt, gerecht werden zu können.

Helfen die Erzählungen der alten Männer, den Krieg besser zu verstehen? Eher nicht. Was die Zeitzeugen erzählen ist nicht neu. Die Schrecken des Schützengrabens, der alltägliche Kriegsdienst, das Soldatenhandwerk des Tötens, die Strapazen, das Leben in der Etappe – zu all dem fügen die Zeitzeugenberichte keine neuen Sichtweisen hinzu. Sie bestätigen aber mit jeder Erzählung, was man über diesen Krieg weiß. Darin liegt ihr Wert. Und noch etwas anderes vermag die Sammlung der Kriegserinnerungen dieser Männer zu vermitteln: Bei allen Strapazen und Schrecken waren die Männer vor allem darauf bedacht zu überleben. Ihre eigentliche Erzählung handelt davon, wie ‚das Leben‘ auch im Krieg weitergeht. Dem Individuum ist ein Arrangement möglich. Im privaten Umfeld lässt sich der Wahnsinn des Krieges aushalten. Was aber, wenn jemand, wie der Armierungssoldat Werner Bertin in Arnolds Zweig „Erziehung vor Verdun“, die politischen Zusammenhänge, die den Wahnsinn erst möglich machen, hinterfragen würde? Er wäre für den Krieg unbrauchbar. Niemand der Zeitzeugen stellt diese Fragen. Sie erzählen vom Krieg als dem Unvermeidlichen, in dem man sich so einzurichten suchte, dass Aushalten und Überleben möglich wurden. Sie bleiben für die Mächtigen als ‚Menschenmaterial‘ zur Verfügung. Und bestätigen so die Normalität vom ’schrecklichen Krieg‘, in den man „hineingeworfen“ wird. Aber sie fördern nicht, was eigentlich notwendig wäre: das Aufbegehren gegen das, was offensichtlich verrückt ist – eben den Krieg.

Als der Krieg zu Ende war, bestand die alte Welt nicht mehr. Besonders anschaulich mochte das die Stadt Wien empfinden: Eben noch war man die glänzende Hauptstadt einer vermeintlichen europäischen Großmacht, nun sah man sich auf den Status der Hauptstadt einer österreichischen Republik zurückgestutzt. So umwälzend der Fall der Donaumonarchie auch war – unerwartet kam er auch für viele Zeitgenossen nicht. Man lebte, so beschrieb es eine bis heute beliebte Metapher, schon lange „am Rande des Abgrunds“. So lautet auch der Untertitel des Buchs von Edgar Haider: „Wien 1914. Alltag am Rande des Abgrunds.“ Der Autor unternimmt eine Reise durch Wien im Jahre 1914. Er hat eine Fülle von Materialien, vor allem Zeitungsartikel, ausgewertet und zusammengestellt, die geeignet sind, Alltagsimpressionen aus dem Wien der Vorkriegszeit zu vermitteln. Er geht chronologisch vor: Die Darstellung beginnt mit den Silvesterfeierlichkeiten in der Stadt und schildert Monat für Monat, was bis zum August 1914 in Wien geschah, was die Öffentlichkeit erregte, was man politisch diskutierte, wo und wie man sich amüsierte. Allzu viel Erkenntnis sollte man von dieser Materialsammlung indes nicht erwarten. Weder begründen die Alltäglichkeiten des Wiener Großstadtlebens im Jahr 1914 ein Leben am „Rande am Abgrund“, noch lassen sich überhaupt Rückschlüsse ziehen, ob und inwieweit das Wiener Leben 1914 eine irgendwie geartete Auswirkung auf den Krieg hatte.

Titelbild

Wolf-Rüdiger Osburg: Hineingeworfen. Der Erste Weltkrieg in den Erinnerungen seiner Teilnehmer.
Osburg Verlag, Berlin 2009.
524 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783940731302

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich: Deutschland im Ersten Weltkrieg.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013.
331 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100294111

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Edgard Haider: Wien 1914. Alltag am Rande des Abgrunds.
Böhlau Verlag, Wien 2013.
300 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783205794653

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch