In allen Lagern Gegner

Tonaufnahmen von Lesungen und Vorträgen Ernst Jüngers

Von Andreas R. KloseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas R. Klose

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Autoren zuzuhören, die eigene Texte vortragen, muss nicht notwendig ein Genuss sein. Welcher Schriftsteller verfügt schon über so wohlklingende und modulationsfähige Stimmen wie Rolf Boysen oder Gert Westphal? Dafür vermögen Autorenlesungen die Aufmerksamkeit auf bestimmte Worte oder Passagen lenken und ihnen eine besondere Bedeutung oder Intensität verleihen. Auch tritt die Aura des Autors hinzu. Anders als beim Selbstlesen wird der Text als etwas Fremdes wahrgenommen, auch wenn er stark berührt. Der Aneignungsprozess scheint bei der eigenen Lektüre stärker ausgeprägt. Doch dürfte die Wirkung stets eine ganz subjektive sein, weil sie von der persönlichen Wertschätzung des Autors abhängt.

Die drei von Robert Eikmeyer und Thomas Knoefel herausgegebenen CDs enthalten vor allem Lesungen und Ansprachen, aber auch zwei Interviews: ein recht ausführliches von dem Schriftsteller Curt Hohoff (1913-2010) vom März 1965 und ein kurzes anlässlich des Besuches von Jorge Luis Borges in Wilflingen Ende Oktober 1982. Das Interview mit Hohoff, das vorformuliert wurde und nahezu wortwörtlich in dessen Essayband „Gegen die Zeit“ (1970) abgedruckt ist, gibt einen kleinen Einblick in die Entwicklung von Jüngers Autorschaft, wobei die Fragen und Ausführungen Hohoffs mitunter fast genauso umfangreich sind wie Jüngers Antworten. Hinzu kommt ein kurzer Wortwechsel mit dem Freund Albert Hofmann aus dem Jahre 1995, der aber keinen neuen Aspekt zu Jüngers Drogenexperimenten mitteilt – oder doch insofern, als es überrascht, wenn Jünger das „psychische Erlebnis“ eines Drogenexperimentes gemeinsam mit einem vertrauten Menschen als das für ihn Wichtige hervorhob.

Des Weiteren sind vier öffentliche Reden enthalten: ein Vortrag über Alfred Kubin vom Juni 1964 in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, die am 10. April 1965 gehaltene „Ansprache vor den bayerischen Entomologen“ unter dem Titel „Forscher und Liebhaber“, die in Jüngers Sammelband „Ad hoc“ (1970) nachzulesende Ansprache zum 70. Geburtstag seines Bruders Friedrich Georg und die Rede anlässlich der Verleihung des Goethe-Preises in Frankfurt am Main am 28. August 1982, die von Protesten begleitet wurde. In seinem Tagebuch schrieb Jünger unter dem 4./5. September 1982: „Ich hatte keine große Rede vorbereitet, sondern mich auf eine Auswahl von Maximen beschränkt, also auf eine in jedem Fall, auch jedem Zwischenfall, abgeschlossene Darbietung.“ Die erwähnte Auswahl stammte aus dem Buch „Autor und Autorschaft“, das 1982 zuerst in französischer Übersetzung und zwei Jahre darauf auf Deutsch erschien.

Für eine am 11. Juni 1954 für den SDR aufgenommene Lesung aus seinem im selben Jahr erschienenen „Sanduhrbuch“, das Jünger aus historischer, kulturdiagnostischer und zeitphilosophischer Perspektive geschrieben hatte, wählte er vier Seiten des Einleitungskapitels „Sanduhr-Stimmungen“. Außerdem enthält die Edition, mit einigen einleitenden Worten, das Schlusskapitel „Bunter Staub“ aus der 1967 veröffentlichten „Subtilen Jagd“ und eine Lesung von 1994 aus den Nachträgen zu „Autor und Autorschaft“, die vereinzelt seit den 1980er- Jahren veröffentlicht wurden, vollständig jedoch erst 1999 erschienen sind. Aus diesen las Jünger unter anderem Betrachtungen zu Talleyrand und Dostojewski, zum Fehltritt, zu Genie und Person, zur Genauigkeit der Sprache, zum Stil, zu Heinrich von Kleists „Lieblingsthema: Gewalt zwischen den Geschlechtern“, zu Friedrich Nietzsches Hauptaufgabe und zum Unterschied zwischen Nietzsche und Max Stirner.

Nicht alle Lesungen dieser drei CDs sind Audio-Erstveröffentlichungen. So wurde die Lesung aus dem „Sanduhrbuch“ 1977 im Rahmen einer Anthologie „Stimmen der Dichter“ auf Langspielplatte und 1995 als Hörbuchkassette veröffentlicht; Jüngers „Erinnerung an Kubin“ erschien als Schallplatte, während die im September 1994 aufgenommenen Nachträge zu „Autor und Autorschaft“ im selben Jahr als CD veröffentlicht wurden.

Leider erläutern die Herausgeber nicht, warum gerade diese Tondokumente ausgewählt wurden. Existieren beispielsweise keine Mitschnitte von den in Funk oder Fernsehen gesendeten Gesprächen mit Walther Schmieding (im ZDF am 28.3.1975), Walter Bittermann (im SWF am 6.1.1979 bzw. 24.5.1979), Klaus Podak (im NDR, WDR, HR am 21.8.1982) und Julien Hervier (im WDR 3 am 24.3.1985)? Darüber hinaus wäre natürlich eine Veröffentlichung aller Fernseh-Interviews Jüngers auf DVD besonders erfreulich.

Außergewöhnliche Überraschungen und Hebungen von Verschollenem bieten die vorliegenden CDs also nicht, zumal fast alle Texte in den „Sämtlichen Werken“ enthalten und damit leicht zugänglich sind. (‚Verschollen‘ waren gewiss das Interview anlässlich des Besuches von Borges und das kurze Gespräch mit Hofmann, aber gerade diese beiden Aufnahmen können mehr oder weniger als Ergänzungen der Edition betrachtet werden.) Das ist jedoch nicht als abwertende Kritik zu verstehen. Inhaltlich sind die Tonaufnahmen weitgefächert genug, um so Unterschiedliches wie Jüngers Leidenschaft für die Entomologie zu bezeugen (über die man sich, wie er nur zu gut wusste, gelegentlich auch belustigte), die Bedeutung, die er den Träumen zusprach, seine Liebe zu Inseln, seine Arbeit an der Rivarol-Übersetzung, sein Nachdenken über die Technik und seine generell quasi-philosophische Betrachtungsweise.

Ernst Jünger, der sich – wie er anlässlich der Verleihung des Goethepreises erklärte – bewusst war, dass er Zeit seines Lebens „vielen ein Ärgernis gewesen“ ist und dem von seinen Kritikern – den „negativen Verehrern“, wie Hohoff sie nannte – in ermüdender Wiederholung vorgeworfen wird, ein kalter Autor zu sein, ist auf diesen CDs als ein Humanist im Gefolge Goethes erfahr- und hörbar: Als kritikwürdig beurteilt er den Menschen, „der keine andere Meinung gelten läßt, als die eigene“; ihm „sind alle Geschöpfe, bis zum letzten, der Verehrung würdig und wunderbar“; selbstkritisch ist die Ansicht, dass man auch seine Irrtümer ernst nehmen solle, und: „Nicht alles freilich, was wir in der Jugend begehrten, behagt uns in der Erfüllung – wir überflügeln unsere Wunschträume.“

Die Wendung „Totalst Gehorsam“ auf der leider missglückten, zumindest befremdlichen Cover-Illustration kann den Anarchen Jünger nicht charakterisieren. Zu selten wird beachtet, dass Jünger nie ein Soldat vom Richthofen-Typus war, jedenfalls kein sturer und zur Borniertheit neigender Krieger. Nach 1945 trennte ihn die Zeitspanne einer Generation und die katastrophische Steigerung der geschichtlichen Entwicklung vom Großen Krieg, die sich, wie bei zahllosen anderen, auf das Lebensschicksal der Familie ausgewirkt hatte. Jüngers Selbsteinschätzung war zutreffend: Den großen Bruch, die deutliche Zweiteilung gibt es nicht in seinem Gesamtwerk, und doch wurde seine Autorschaft seit den 1930er-Jahren allmählich von anderen Themen bestimmt. Wäre Jünger um 1930 gestorben, so wäre er als bedeutendster Autor des Großen Krieges in die Geschichte eingegangen. Durch seine Bücher seit dem „Abenteuerlichen Herzen“ und durch sein Werk nach 1945 wurde er zu einem Klassiker der Moderne.

Die für manche Zeitgenossen oder Kritiker seltsam schnarrend oder gepresst klingende Stimme Jüngers ist so nur auf der ältesten Aufnahme, der Lesung aus dem „Sanduhrbuch“, zu vernehmen. Beeindruckend dagegen, wie lebendig und wach der 87jährige Jünger auf die Fragen des südamerikanischen Interviewpartners reagierte. Auffallend ist, dass Jüngers Stimme gelegentlich einen jungenhaften, verschmitzten, spitzbübischen Unterton haben konnte, auch seine Neigung, das G zum ch-Laut abzuschleifen und „schlächt“ statt „schlägt“, „unmöchlich“ statt „unmöglich“ und „Jachd“ statt „Jagd“ zu sprechen. Zum Atmosphärischen gehört, dass bei der Aufnahme des Vortrages „Forscher und Liebhaber“ das Umblättern der Seiten zu hören ist, während die Lesung aus dem „Sanduhrbuch“ von gelegentlichem Vogelgezwitscher begleitet wird.

Der Vortrag „Forscher und Liebhaber“ macht indirekt Jüngers Bemühen um eine eigene Begrifflichkeit verständlich, denn die Übernahme der stereotypen Wendungen, der Klischees und kollektiven Formeln bedeutete für ihn nicht nur einen Verlust an Originalität, sondern auch einen Verzicht auf das persönliche Urteil. Die Perfektion der Technik und die Gleichartigkeit der Gegenstände begünstigten eine Gleichartigkeit des Denkens, der er sich nicht unterwerfen wollte.

Jünger betonte, dass er mit dem Älterwerden die Freude am Agonalen verloren hatte: „Mit den Jahren schwindet die Neigung, sich an der Polemik zu beteiligen“, nicht nur, weil „Lust und Zeit“ schwinden, auch weil „man sieht, inwiefern die anderen recht haben.“ Er deutete an, dass seine – und des Bruders – „Lust am Wettkampf“ von der Betrachtung der Auseinandersetzungen an sich verdrängt wurde, „das Denken und die Sprache selbst“ wurde zu ihren Objekten: Und in der geistigen Welt „gibt es keine Parteinahme.“

Abgesehen von kleineren stilistischen Änderungen fallen einige Unterschiede zwischen dem vorgetragenen und dem abgedruckten Text auf: So ist Jüngers einleitender Dank anlässlich der Verleihung des Goethepreises in Band 22 der „Sämtlichen Werke“ etwas anders formuliert und es fehlt der Dank an den Laudator, Wolf Jobst Siedler, Jüngers „gefallene[m] Sohn, Ihres Kameraden, gedacht zu haben.“ In dem Vortrag „Forscher und Liebhaber“ erinnert Jünger daran, dass Mikroskope und Fernrohre „nicht an das Ganze“ heranführen, auch wenn das Wissen gegenüber früheren Generationen genauer geworden sei. (Dabei polemisiert Jünger an anderer Stelle durchaus nicht gegen den Automatismus, vielmehr würdigt er seinen Nutzen.) „Doch dieser Fortschritt wird eitel und sogar zerstörend bleiben, wenn er sich auf die intelligente Meßkunst beschränkt.“ Im Text des zehnten Bandes der „Sämtlichen Werke“ heißt es abgeschwächt: „Doch dieser Fortschritt wird zu nichts Gutem führen, wenn er sich auf die intelligente Meßkunst beschränkt.“ Und in der Geburtstagsansprache für Friedrich Georg trug Jünger vor: „‚So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen.‘“ Für den Druck verstärkte er die Aussage des Goethe-Zitates, indem er die Worte hinzufügte: „[I]n jedem Leben bestätigt sich das Wort.“

Die inhaltliche Gemeinsamkeit der Lesungen und Vorträge könnte in dem Thema von Tod und Vergehen gesehen werden: Es ist das Thema des „Sanduhrbuches“, und auch seine entomologische Sammelleidenschaft schilderte Jünger unter dem Aspekt der Vergänglichkeit, des „stillen, unaufhaltsamen Verfall[s]“, dem selbst die toten und präparierten Insekten ausgesetzt sind: Alles zerfällt und zersetzt sich zu „buntem, glitzerndem Staub.“ Jünger fand dafür ein knappes und unerbittliches Bild, dem ein tröstendes Moment nicht fehlt: „Der Gang der Totenuhren ist unhörbar“.

Eine der von Jünger nicht vorgetragenen Sentenzen aus „Autor und Autorschaft“ lautet: „Überwindung der Todesfurcht ist Aufgabe des Autors; das Werk muß sie ausstrahlen.“ Im Grunde ist dies eine Selbstcharakterisierung, denn es ist eines der Kennzeichen von Jüngers Werk, worin es sich von vielen – vielleicht sogar allen anderen – Werken deutscher Autoren des 20. Jahrhunderts unterscheidet.

Jünger, der Kalte, der Unmenschliche, der Herzlose? Die vorliegende Auswahl von Aufnahmen gibt die Möglichkeit, sich dies auf eigene Weise zu beantworten, indem man Jünger hört – und liest.

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Ernst Jünger: Mein Gegner ist die Sprache. Originaltonaufnahmen 1954-1995.
3 CD.
Brigade Commerz, Pforzheim 2013.
1 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783981583809

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