Kritik der Fotografie oder Zettelkasten?

Timm Starl will in „Kritik der Fotografie“ die konstitutiven Elemente der Fotografie herausarbeiten. Heraus kommt ein Zettelkasten mit Assoziationscharakter

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Theoretische Arbeiten zur Kunst und nicht weniger zur Fotografie signalisieren immer Grundsätzliches, zur Kunst, zu ihrem Standort und zu ihrer Funktion in der Gesellschaft wie nicht zuletzt zur Abgrenzung der einzelnen Sparten voneinander.

Das schraubt die Erwartungen an eine Kritik der Fotografie zugleich sehr stark nach oben, wie zugleich die Erwartungen gering bleiben. Wäre ja nicht das erste Mal, dass eine mit großen Erwartungen an das Buch begonnene Lektüre am Ende mehr Fragwürdigkeiten hinterlassen als Fragen beantwortet hätte.

Das trifft auf bestimmte Art eben auch auf diese Arbeit Timm Starls zu. „Kritik der Fotografie“ will Großes und Grundsätzliches: Kritik, so Starl, müsse kontextualisieren, historisch, kulturell und eben auch, was die Gattung oder Sparte selbst angeht. Das führt ihn dazu, sich eher auf die zeitgenössischen Quellen zu verlassen als auf das, was später darauf gefolgt ist. Das ist beeindruckend, aber führt doch zu unerwarteten Exklusionen: Starl argumentiert dann eben nicht mit Paul Virilios Medientheorie, als er auf die mobilisierende Wirkung der Fotografie zu sprechen kommt (im Kapitel „Reisen“), auch wenn es erhellend gewesen wäre.

Und er favorisiert den genauen Blick vor der flüchtigen Besichtigung. Das ist – wie das Beispiel des „Schuhputzer“ überschriebenen Abschnitts zeigt – ganz heilsam, kann Starl doch darauf verweisen, dass der erste in einer Fotografie abgebildete Mensch eben nicht allein der Herr war, der sich auf dem „Boulevard de Temple“ die Schuhe mit großer Intensität putzen lässt. Sein Begleiter ist – wenngleich mit einer beruflich bedingten Unschärfe – der Schuhputzer, der ihm zu Diensten. Herr und Knecht als Urbild der fotografischen Abbildung des Menschen? Erhellend und am Ende auch nichts anderes als Zufall (der kein Geheimnis verbirgt, wie Starl im Schluss-Lemma meint, sondern nur auszuhalten ist).

Erhellend ist also Starls Band, aber ob es ihm tatsächlich gelingt, die konstitutiven Merkmale des Fotografischen herauszuarbeiten, wie er zu Beginn ankündigt?

Möglicherweise liegt doch vor allem die schön gemachte Druckausgabe seiner Glossen vor, die er zuvor auf seiner eigenen Website veröffentlicht hat. Das und der Umstand, dass der Band nicht systematisch, sondern lemmatisch organisiert ist, lässt keine ausgearbeitete Theorie erwarten, sondern bestenfalls und gewollt thematisch geleitete Ausführungen mit theoretisch gemeinten Querverweisen. Aus der Gesamtlektüre ließe sich dann so etwas wie ein Denkmuster oder eine Theorie erschließen – wogegen man nichts haben kann. Es sind nicht notwendig die systematischen Arbeiten, die die stärksten Denkanstöße geben, sondern oft genug die kämpferischen Essays, die unfertigen Abhandlungen und die kleinen Kritiken, die einen Gegenstand zum Anlass nehmen, einen Gedanken bis zur Kenntlichkeit aufzupäppeln.

Starl, der als einer der Mentoren der Fotografiegeschichtsschreibung gelten kann, zeigt sich in diesem Band – wie kaum anders zu erwarten – von ungemein großer Kenntnis vor allem was die ersten einhundert Jahre der Fotografiegeschichte angeht. Man kann von dem Mann sehr, sehr viel lernen, muss ihm aber nicht kritiklos folgen. Das 19. Jahrhundert ist denn auch der Schwerpunkt seiner Abhandlungen, die in so befremdliche Abschnitte wie Engel, Fenster, Detail, Begriffe, Pantomime, Schuhputzer, Weitsicht oder Zufall gegliedert ist.

Einiges davon erklärt sich halbwegs von selbst, anderes wird erst in seiner Anwendung in der Fotografie verständlich. Durchgehend ist jedoch, dass Starl in seinen Ausführungen einerseits detailgenau und historistisch vorgeht, andererseits jedoch deiktische Setzungen wählt und nicht immer nachvollziehbare Assoziationen verfällt. (Dass er immerhin darauf verweist, dass er aleatorische Argumentationsketten verwendet, zeigt, dass man in Starl nicht irgendwen vor sich hat.)

Zu diesen Assoziationen gehört es, die Entstehung der Fotografie in den 1830er-Jahren mit allem, was hinreichend plausibel ist, zu verbinden: Die Romantik gehört nicht zuletzt dazu, sogar der Flaneur ist ein illegitimer Bruder der Fotografie. Freilich, Synchronien begründen nichts notwendig.

Dass das zur wirtschaftlichen und politischen Macht kommende Bürgertum in der Fotografie einen Spiegel und Halt gesucht habe, ist ein wunderbarer Satz. Dass das Bürgertum in der wachsenden Zahl der möglichen Kontakte dem Verlust der tatsächlichen befürchtet habe und deshalb daran gegangen sei, bildlich festzuhalten, was an sozialen Netzen da war, ist eine beeindruckende Überlegung. Die Querverbindungen, die Starl im fraglichen Kapitel („Doppelgänger II“) mit den literarischen und filmischen Verwertungen herstellt, zeigen einen Autor, der auf der Höhe seiner Verknüpfungsgabe steht. Das Bild, das er dabei entstehen lässt, ist nichts weniger als verblüffend und beeindruckend – ist aber ein echter Starl, wenngleich die Beziehungen der Fotografie zu Malerei wie auch die distinktive Funktion der Fotografien dabei verloren gehen.

Das mag auch ein Blick auf das ein wenig deplatziert wirkende Kapital zur „Moderne“ zeigen. Geschrieben wurde es anscheinend als Korrektiv zur grassierenden Begeisterung für das Moderne Sehen der 1920er-Jahre. Allerdings ist bereits Starls Anfangsargument, für das er Peter Bürgers „Theorie der Avantgarde“ von 1974 anführt (allerdings in einer 2001 erneuerten Variante) und gegen den affirmativen Charakter des neuen Sehens positioniert, erhellend: eine „radikale gesellschaftliche Veränderung“ sei ihren Vertretern wohl nicht nachzusagen, was angesichts eines paradigmatischen Titels wie „Die Welt ist schön“ von Albert Renger-Patzsch auch keiner annehmen wird.

Allerdings gesteht Starl dem Neuen Sehen nicht einmal eine einigermaßen eigenständige und neue Bildsprache zu – seine spezifischen Elemente seien bereits im 19. Jahrhundert zu finden, wofür er denn auch eine hinreichende Anzahl von Belegen bringt. Die Moderne der 1920er ist somit weder modern noch neu noch revolutionär, aber dafür medien- und schließlich marketingorientiert, was für Starl das einzige Alleinstellungsmerkmal des Neuen Sehens ist.

Dagegen plädiert Starl für eine Neuplatzierung der Moderne in der Fotografie in den 1880er- und 1890er-Jahren, da in diesen beiden Jahrzehnten die Fotografie nicht nur auf eine Reihe von technischen Neuerungen zurückgreifen könne, sondern auch seine wesentliche massenhafte Verbreitung gefunden und ihre gesellschaftsverändernde Kraft entwickelt habe, was für Starl zentrale Argumente für eine angemessene Vergabe des epitheton ornans „modern“ sind. Neue Medien allein und Markt sowieso reichen eben nicht, wenngleich von Revolution gleichfalls keine Rede sein kann.

Und dennoch, so einfach wird man den 1920er den Status einer Moderne nicht absprechen wollen. Ob das jedoch mit dem Verweis auf eine Krisenphase der Klassischen Moderne geschieht oder mit der Konsolidierung der Medien und Mittel, die bis dahin entwickelt wurden, bleibt dabei dahingestellt. Jedenfalls ist der Wettbewerb der Modernen vor und nach 1900 einigermaßen unnötig – und eine Suspendierung der dadaistischen „Metropolis“-Montage von 1922 durch einen kolorierten Druck aus dem Jahr 1912, der Ansichten urbaner Bauten zeigt, greift ins Leere. Dass es Elemente des Neuen Sehens vor Mitte der 1920er-Jahre gab, beweist eben erst einmal nichts.

Titelbild

Timm Starl: Kritik der Fotografie.
Jonas Verlag, Marburg 2012.
320 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783894454630

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