Ingenieurskunst der Fächersprache

In ihrem preisgekrönten Erzählungsband „Der schaudernde Fächer“ erprobt Ann Cotten das lyrische Potential ihrer Prosa

Von Malte VölkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Völk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage, was man alles zwischen zwei Buchdeckel binden kann, beantwortet Ann Cotten erneut auf eigentümliche Weise, die Lesegewohnheiten enttäuschen und vor den Kopf stoßen muss. Nach den innovativen, viel gelobten Gedichtbänden „Fremdwörterbuchsonette“ (2007) und „Florida-Räume“ (2010) legt die Dichterin nun mit dem „Schaudernden Fächer“ (alle im Suhrkamp-Verlag erschienen) ein erstes Erzählungsbuch vor, das ihr, die schon länger auf der Überholspur des Literaturbetriebs unterwegs ist, nun auch den Adelbert-von-Chamisso-Preis und den Wilhelm-Lehmann-Preis bescherte. Aber sind es überhaupt Erzählungen, die der Band präsentiert? Schon diese im Untertitel festgehaltene Kategorisierung wird von den Texten wieder hintertrieben.

In einem Creative-Writing-Seminar würden die meisten der 17 Prosastücke mit Titeln wie „Reiben“ oder „Talgblasen“ vermutlich durchfallen: Einzelne Szenen hängen selten miteinander zusammen, Figuren kommen und gehen nach Belieben, von konsistenter Handlungsführung kann keine Rede sein. Stattdessen gibt es labyrinthische Gedankengänge, erstaunliche Vorkommnisse und spektakuläre Begegnungen. Zwischendurch sind einzelne Gedichte eingestreut. Zusammengehalten wird all dies von einer beeindruckend beherrschten Sprache, der es gelingt, gerade ihrer verästelten Präzision den poetischen Gehalt abzuringen. Cottens Ich-Erzählerin verbohrt sich unablässig in Details von Begebenheiten und daran anknüpfende Reflexionen. Dieser poetische Bohrer dringt in die entlegensten Ecken ein, die der Horizont der Gegenwartsliteratur überhaupt zu bieten hat. Man beklage sich nicht, wenn plötzlich empfindliche Nerven freiliegen. Es zeigt sich schnell: Hier wird Prosa nach Art von Gedichten geschrieben. Das ist eine riskante Unternehmung, denn allzu leicht könnte sich dabei eine Überfrachtung einstellen, könnte der Leser von der Fülle der stark verdichteten Sprache betäubt und gleichsam erdrückt werden. Aber die Erzählerin löst die sprachlichen Verknotungen immer noch rechtzeitig auf, mit treffenden Pointen und Gedankenblitzen, die schaudernd-verblüfft einschlagen. Und zudem, so rätselhaft ist das Cotten-Universum, sind diese manchmal wuchtigen Gedanken verwoben mit einer diskret humoristischen Leichtigkeit, die für fein abgestimmte Auflockerung sorgt.

Das Oszillieren zwischen Prosa und Lyrik bietet ein lebendiges, ein dynamisches Zusammenspiel von Form und Inhalt. Die reiche Überfülle der mit Bildern und Reflexionen gesättigten Prosa wirkt wie eine hemmungslose, ausgelassene Verschwendung von Kraft und Ideen. Als hätte die Erzählerin zu viele davon, verschwinden die Einfälle, Gedanken und Situationen wieder, halb nur eingelöst, nachdem sie einmal blitzartig hervorgetreten sind. Dieses Moment des Verschwenderischen ist nun gleichzeitig ein durchgängiges Thema der Erzählungen, die nämlich, das ist zumindest eine Möglichkeit der Hinsicht, die Schönheit als Bruchstelle zwischen der überschießenden Energie der Jugend und dem „geregelten Leben“ beschreiben. „Ich kann mir nicht leisten, mit Leuten über einem gewissen Alter abzuhängen,“ so berichtet eine Figur: „Ihre trosthaften Freuden, dieser moralisch suggestive Lebensstil, in all seiner Fadesse, ansteckend oder abstoßend, da werd ich ganz evil“. In Japan besucht die Erzählerin einen Erlebnisbauernhof und trifft dort unter anderem auf die offenbar berufstätige Sau-Mau: „Wer sie war? Wer ist man, wenn man täglich acht Stunden auf Arbeit und vier im Auto pendelnd verbringt? Ihre Gefühle drückten sich in Vorlieben aus, in ihrer Gipsfigurenartigkeit und blanker Energie“.

Die Figuren der Erzählungen versuchen, den Zwängen und Strukturen solcherart geregelten Lebens auf verschiedene Weise zu entkommen – sei es durch eine in einem offenen Ruderboot durchgeführte operative Geschlechtsumwandlung, sei es in einem schrankenlosen Sich-Treiben-Lassen durch großstädtische Vergnügungsinfrastruktur oder indem etwa die Erzählerin sich in eine Schneeballschlacht zwischen dreizehnjährigen Jungen einmischt und diese in eine sinnliche Orgie verwandelt. Es ist die „Flamme“ der Jugend, die hier als Gegenpart zum ungeliebten Bild der erwachsenen Frau von Interesse ist – eine Flamme, die aber auch nicht bei allen braven Jugendlichen so richtig zündet. Die Figur Kostja jedoch, die einen erratischen Briefwechsel mit dem Zwitterwesen Vasyl führt, hat dem Erwachsenwerden ein Schnippchen geschlagen: Er ist eine „Ölquelle, einmal angezündet – von der ersten Sexualität –, geh ich nicht mehr aus. Meister Lampe. Sauge die Welt aus wie ein Docht mit meinem Brand.“ Das Füllhorn der Jugend soll unerschöpflich ausgegossen werden, so führt es zumindest Cottens Sprache vor. Immer wieder ist es dabei die Unmöglichkeit, sich der gesellschaftlichen Realität zu entziehen, an der sich die Figuren mal reiben oder brechen – oder die sie frech herausfordern: „Ich bin dabei, mir herauszunehmen, was niemandem zusteht, weil es mir als einziges erträglich erscheint. Das beschäftigt mich ausreichend.“ Als die Erzählerin an einer universitären Sprachprüfung des Japanischen teilnehmen soll, trägt sie diese aufmüpfige Haltung auch in den Bereich der sprachlichen Zeichenhaftigkeit. Die Zuordnung der kunstvollen Schriftzeichen zu vorgegebenen Bedeutungen im multiple-choice-Verfahren missfällt ihr so sehr, dass sie etwas ganz anderes damit anstellt, wodurch nicht nur die Zeichen befreit werden, sondern auch die Erzählerin, die nun erleichtert „frei von Sprachkompetenz“ ist.

Im 18. Jahrhundert hatte unter Balldamen die sogenannte Fächersprache eine gewisse Verbreitung: ein eigenes Kommunikationssystem, das mit Bewegungen der Fächer bestimmte Botschaften unauffällig vermitteln konnte. Der „schaudernde Fächer“ zeigt, wie sich heute eine neue Kunstsprache vollziehen könnte, die sich ähnlich schillernd und eigenartig ausdrückt, dabei aber unberechenbar bleibt. Was man in Cottens Fächersprache noch ein wenig vermisst, ist eine schlüssige Makrostruktur. Denn während es ja etwa für ein Gedicht auf sehr engem Raum leicht möglich ist, mittels Hebungen und Senkungen des Sprachrhythmus, Zeilenbrüchen und ähnlichem Spannung auf- und abzubauen, könnten ja in der länger angelegten Prosa andere Mittel eingesetzt werden, um die Gedanken und Beschreibungen miteinander kommunizieren zu lassen – zum Beispiel ein Wechsel von verschieden stark verdichteten Szenen, die sich gegenseitig die Bühne bereiten. Es entsteht in diesem Punkt der Eindruck, dass Cotten einen Teil ihres Potentials noch nicht recht genutzt hat. Vielleicht ist das aber auch einfach ihr Programm. So findet man in dem Vorgängerband „Florida-Räume“ eine Überlegung zur erschreckend dürftigen Qualität vieler literarischer Versuche, die sich in anderen Gebieten kaum jemand leisten könne: „Wer wagte, ohne intime Kenntnis der Statik eine Stahlkonstruktion zu bauen? Und doch schreiben Menschen, die nicht merken, was sie daherreden, ganze Lastwagen voller Romane, und nichts geschieht weiter.“ So fordert die dortige fiktive Herausgeberin eine „Industrielle Revolution der Literatur“, die eine „rigorose Ingenieurslehre“ nötig mache. Erst wenn die Mikrostruktur stimmt, kann „endlich wieder etwas Großes“ entstehen. Aus einer solchen Perspektive, die Literatur wirklich ernst nimmt, könnte man denken, die junge Dichterin prüfe noch als redliche Ingenieurin die Statik ihrer Sätze, bevor es an die großen Zeitromane geht.

Doch um unausgereifte Schreibexperimente handelt es sich bei diesen Erzählungen nun auch nicht. Das Buch ist an keiner Stelle langweilig oder nachlässig geschrieben. Der Charakter des im Übergang Begriffenen ist vielmehr eine gelungene Vermittlung von Form und Inhalt, in der Cotten humorvoll und klug ihre eigenen Wege entwickelt.

Titelbild

Ann Cotten: Der schaudernde Fächer. Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
253 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423899

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