Welche Romane eignen sich im gymnasialen Literaturunterricht?

Der Literaturdidaktiker Dieter Wrobel macht konkrete Lektürevorschläge für die Sekundarstufen „von Kafka bis Kehlmann“

Von Kirsten KumschliesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kirsten Kumschlies

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welche Bücher lese ich mit meiner Klasse, meinem Grundkurs, meinem Leistungskurs? Diese Frage stellt sich jeder Deutschlehrer mindestens einmal im Schuljahr. Es bleibt immer die Möglichkeit, auf die fest etablierten „Klassiker der Schullektüre“ zurückzugreifen, was angesichts von Bildungstandards und Zentralabitur einmal mehr das übliche Vorgehen sein dürfte.

Dieter Wrobel geht in seinem jüngst erschienenen literaturdidaktischen Band „Romane von Kafka bis Kehlmann. Literarisches Lernen in der Sekundarstufe I und II“ dagegen innovativere Wege. Er legt hiermit eine Orientierungshilfe für Deutschlehrer im gymnasialen Bereich vor, die zum einen die Textauswahl für den Unterricht erleichtert, zum anderen sehr konkrete Vorschläge zur Umsetzung macht, die in der Schulpraxis immer dringend benötigt werden. Ein weiterer großer Vorteil des Bandes liegt in seiner Vielseitigkeit, die sich schon im Titel ankündigt: Es finden sich sowohl Unterrichtsvorschläge (und literarische Analysen) zu klassischen Texten, die sich seit langem als Schullektüre bewähren, wie etwa Franz Kafkas „Der Prozess“, Heinrich Manns „Der Untertan“ oder Siegfried Lenz` „Deutschstunde“ als auch zu neueren, modernen Romanen, die ein hohes Medienecho hervorgerufen haben, z.B. „Liebesmale, scharlachrot“ von Feridun Zaimoglu, „Houwelandt“ von John von Düffel und „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann. So erweist sich der Band als bereichernde Fundgrube für all jene, die die eingangs genannte Frage umtreibt. Und noch mehr: Er bietet eine kurzweilige, spannende Lektüre, vor allem, weil Wrobel im ersten Teil des Bandes in prägnanter und lesenswerter Weise die Literaturgeschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts zusammenfasst. Er beginnt mit dem Naturalismus, führt seine Leser durch die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik, durch Postmoderne und sogenannte Popliteratur und Wendeliteratur, um schließlich Anmerkungen zur Tendenzen der Literatur nach 2000 zu machen. Der Autor betont vorab, dass es sich bei der Überblicksdarstellung um eine „exemplarische Durchsicht der Romane zwischen der klassischen Moderne und der Gegenwart“ handelt, die selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben möchte, der ohnehin niemals zu erreichen wäre, schon gar nicht in einem Band, der in erster Linie auf die Unterrichtsplanung im schulischen Alltag abzielt. Weiterhin wichtig zu erwähnen ist, dass Wrobel sich in seinem Abriss der Literaturgeschichte auf Epochenumbrüche konzentriert, nicht auf starre Epochenabfolgen (die ja ohnehin umstritten, wenn nicht gar obsolet sind). Bezogen auf den Literaturunterricht bedeutet dies für Wrobel, dass „nicht primär epochenspezifisches Schlagwortwissen erworben und an literarischen Texten nachgewiesen werden soll, sondern dass einzelne literarische Texte vor allem als Dokumente kultureller Dynamik aufgefasst werden.“ Seine Textauswahl begründet er mit Blick auf den „unmittelbaren Zeitbezug“ der Texte und fragt, ob sie „für aktuelle Lesergenerationen etwas zu sagen haben“. Mit der literaturgeschichtlichen Überblicksdarstellung wird gleichsam das notwendige Hintergrundwissen für die Deutsch-Themen des Zentralabiturs geliefert.

Wer jedoch Ausführungen zum Begriff des „literarischen Lernens“ erwartet, wie es der Untertitel des Bandes programmatisch ankündigt, wird enttäuscht. Dieses Thema wird allenfalls in der Überleitung zum zweiten Teil des Buches, den konkreten Unterrichtsvorschlägen, kurz angerissen. Dies ist eine vertretbare Entscheidung der Darstellung: Hier geht es um gegenstandsorientierte Literaturdidaktik. Im Mittelpunkt steht ein Überblick über die Literaturgeschichte und die Behandlung von ausgewählten Einzeltexten, zu denen stets Ausführungen zum Autor, zur Entstehung, zu zentralen Aspekten der Lektüre sowie didaktisch-methodische Überlegungen erfolgen. Der Untertitel erscheint so schlichtweg irreführend.

Die vorgestellten Unterrichtsvorschläge zu den Romanen „von Kafka bis Kehlmann“ folgen einem Bausteinprinzip und wollen keine fertigen Unterrichtsreihen präsentieren. Damit bieten sie dem Unterrichtenden Spielräume in der Schwerpunktsetzung – und auch Hilfen bei Analysen und Interpretationen, was in der Unterrichtsvorbereitung äußerst hilfreich sein kann. Neben den oben bereits genannten Titeln finden sich Unterrichtskonzepte zu: „Berlin Alexanderplatz“ (Alfred Döblin), „Fabian“ (Erich Kästner), „Eine Zierde für den Verein. Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen“ (Marieluise Fleißner), „Tauben im Gras“ (Wolfgang Koeppen), „Homo faber“ (Max Frisch), „Jakob der Lügner“ (Jurek Becker), „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (Heinrich Böll), „Das Parfüm“ (Patrick Süskind), „weiter leben. Eine Jugend“ (Ruth Klüger), „Helden wie wir“ (Thomas Brussig), „Medea. Stimmen“ (Christa Wolf).

Ein lesenswertes literaturdidaktisches Buch, das sowohl praktizierenden Deutschlehrern als auch Lehramtsanwärtern im Gymnasium wärmstens empfohlen sei. Seine Praxistauglichkeit und seine gute Lesbarkeit sind wesentliche Stärken des Bandes – was die „Praxis Deutsch“- Reihe bei Klett Kallmeyer grundsätzlich ausmacht. Entsprechend liegen auch Unterrichtsmaterialien beim Verlag zum Download vor. Jetzt fehlt dringend noch ein Titel, der in ähnlicher Weise die moderne Kinderliteratur für den Unterricht der Primarstufe und der frühen Sekundarstufe aufarbeitet (die Jugendliteratur wird im Band von Marja Rauch „Jugendliteratur der Gegenwart“ behandelt).

Titelbild

Dieter Wrobel: Romane von Kafka bis Kehlmann. literarisches Lernen in der Sekundarstufe I und II.
Ernst Klett Schulbuchverlag, [Stuttgart] 2013.
320 Seiten, 32,95 EUR.
ISBN-13: 9783780049100

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