Liebe, Medien, Krieg und Rausch

Zu Friedrich Kittlers „Essays zur Genealogie der Gegenwart“

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum ein Geisteswissenschaftler dürfte seine eigene Herkunftsdisziplin, die Germanistik, stärker irritiert und verändert haben als Friedrich Kittler. Ihm ging es um die Austreibung des idealistischen Geistes aus den Geisteswissenschaften. Dabei folgte der im Breisgau groß gewordene Sachse durchaus Ideen und polemisierte geistreich wie kaum ein anderer. Mediengeschichte in technisch-materialistischer Hinsicht war sein Anliegen. Was für ihn mit Alphabetisierungsprogrammen um 1800 begann und stets vor dem Horizont aus elektrisch verstärkter Musik und Computern als Universalmaschinen gedacht wurde, führte den vielseitig neugierigen Gelehrten schließlich zurück ins antike Griechenland zu den mythischen Ursprüngen des Vokalalphabets. Mit seinen Genealogie-Erzählungen über Speicher- und Übertragungsmedien erhob Kittler als vielleicht letzter Denker den Hegel’schen Anspruch, nicht nur seine Zeit auf den Begriff zu bringen, sondern den Gang der Weltgeschichte auf seine fundamentalen Wirkursachen hin erklären zu können. ‚Im Klartext‘ war eine seiner Lieblingsformulierungen hierfür; die Reduktionsformel, eine bestimmte Erscheinung ‚ist nichts anderes als‘, eine andere.

Kittler sah die elementaren Erfindungen von und für Medien meist durch Krieg und Militär provoziert. Dieserart wurde der Geschichtsprozess, den er als Geschichte der Macht und Gewalt dachte, letztlich von Mathematikern und Ingenieuren vorangetrieben. Nicht mehr eine Phänomenologie des Geistes war das Ziel, sondern jene Stationengeschichte von Kommunikations-, Kontroll- und Kriegsmaschinen, die zur Abdankung des Menschen und zur angekündigten Maschinenherrschaft führte.

Neben seinen frühen, klassischen Büchern wie seiner Freiburger Habilitationsschrift „Aufschreibesysteme 1800/1900“, die bei seinen akademischen Gutachtern extrem umstritten war, sowie „Grammophon, Film, Typewriter“ und wirkmächtiger als seine weniger bekannten Spät-Monografien über Musik und Mathematik im alten Griechenland sind Kittlers verstreut publizierte Aufsätze schwergewichtige Zeugnisse eines thesenstarken Autors. Es handelt sich dabei um originelle Interpretationen klassischer Texte respektive Musikwerke – sowie um geschichtsphilosophische Interventionen, die etwa an der Schaltungs-Architektur eines neuen Intel-Chips 1991 epochale machtpolitische Brüche aufspüren.

Da die einst bei Reclam Leipzig („Draculas Vermächtnis. Technische Schriften“) oder bei Zweitausendeins („Short Cuts“) publizierten Sammelbände seiner Aufsätze längst vergriffen sind und antiquarisch zum Vielfachen ihrer Neupreise gehandelt werden, ist es verdienstvoll und nützlich, dass Hans Ulrich Gumbrecht nun eine Art Greatest Hits aus dem Kittler’schen Aufsatzwerk zusammengetragen hat. Überraschend und gleichfalls zu begrüßen ist, dass dieser Band nun im Klassikerumfeld der suhrkamp taschenbücher wissenschaft erscheint. Von Kittler selbst herausgegeben erschien bei Suhrkamp einst nur jener frühe, gemeinsam mit Horst Turk edierte Sammelband psychoanalytischer Literaturstudien „Urszenen“. Die Vorlesungen und Monografien Kittlers erschienen sonst in versierten Fachverlagen wie Wilhelm Fink, Merve oder Brinkmann und Bose. Überraschend ist, dass der nun publizierte Best-of-Band angesichts der Massen heutiger Studierender, die irgendetwas mit Medien studieren, noch eine Förderung der Hubert-Burda-Stiftung bedurfte. Hubert Burda sponsorte mit einer Stiftungsprofessur für Medienphilosophie auch Kittlers fortgesetzte Lehre an der Humboldt Universität über die Pensionierungsgrenze hinaus. Der Journalist und Poptheoretiker Ulf Poschardt, der bei Kittler mit seiner Monografie „DJ-Culture“ promovierte, träumte in Artikeln der „Welt“ von einer möglichen Übernahme Suhrkamps durch den gleichermaßen solventen wie kultivierten Hubert Burda – was dann zur großen Kittler-Werkausgabe im passenden Verlagsumfeld, in der Nähe zu Hegel, Luhmann, Benjamin führen müsse. Soweit ist es noch nicht. Doch bietet Gumbrechts-Kompilation auch so schon auf gut 400 Seiten einen schönen Einstieg in Kittlers originell assoziatives Denken und provokativ thesenstarkes Schreiben.

Gumbrechts Auswahl bringt fünf frühe Aufsätze, die an Psychoanalyse, Friedrich Nietzsches Körperdenken und an Michel Foucaults Genealogie- und Diskursanalyse orientiert waren, darunter die Interpretation von Johann Wolfgang Goethes Nachtlied („Lullaby of Birdland“) und die Exegese von Songzeilen, Musiktechniken und Überwältigungsästhetik in Werken von Pink Floyd („Der Gott der Ohren“). Den umfangreichen Mittelteil bilden ein Dutzend mediengeschichtlicher Aufsätze aus den Jahren 1985-1996, die sich unter anderem dem „Nachrichtenfluss“ in Novalis’ Ofterdingen-Roman, Richard Wagners Medientechnologie oder „Medien und Drogen in Pynchons zweitem Weltkrieg“ widmen. Jenseits seiner Neuerschließung dieser klassischen Werke der Literatur- oder Musikgeschichte beeindrucken Kittlers Spezialkenntnisse in der Militär- und Technikgeschichte, etwa im Aufsatz über den Technologietransfer von Deutschland in die USA nach dem Zweiten Weltkrieg („Unconditional Surrender“) oder seine Rekonstruktion avantgardistischer Sturmtruppen-Techniken von Gabriele d’Annunzio über Ernst Jünger bis zu Martin Heideggers daraus abgeleitetem existenzialphilosophischen „Vorlaufen in den Tod“. Doch nennen diese berühmten Namen in seinem Essay „Il fiore delle truppe scelte“ nicht die eigentlich Helden und Innovatoren der neuen schnellen Waffenverbünde und Kampftechniken. Kittler rühmt hier vielmehr den „Musterhauptmann“ Willy Martin Ernst Rohr, der während des Ersten Weltkriegs am Kaiserstuhl im Breisgau jene dynamisch effektvollen Kriegsinnovationen probte, die dann über den Blitzkrieg des Panzergenerals Heinz Guderian (im Zweiten Weltkrieg) zu den kommunikationstechnisch überlegenen Kriegsmaschinen-Dispositiven des seither amtierenden US-Imperiums führen sollten.

Die dritte Gruppe der Aufsätze versammelt aus der Phase von Kittlers Spätwerk und seiner Wende zu den Griechen sechs Aufsätze, denen es vor allem um die Entstehung des Vokalalphabets und um die Verbindung von Zahlen und Buchstaben bei Pythagoras geht. Während letztere die Embryonal- oder Vorgeschichte der Universalmaschine Computer darstellt, formulierte Kittler im Spätwerk eine – im Vergleich zu seinen Kriegs- und Computergeschichten der späten 1980er und 1990er Jahre – weniger apokalyptisch-kulturkritische als vielmehr hymnisch beschworene Geburt europäischer Aufschreibesysteme aus dem Geist von Wein, Weib und Gesang. Gerade die Rolle der Frauen als Sängerinnen und als Wissensträgerinnen versucht Kittler als zentral im Gang von Homers „Odyssee“ herauszuarbeiten. Hier fällt eine Nähe der geschichtsphilosophischen Modellierung zu den Meisterdenkern Nietzsche und Martin Heidegger ins Auge. Wie Heideggers Seinsvergessenheit mit dem Übergang von den Vorsokratikern zu Platon und Aristoteles beginnt, wie Nietzsches Ende des dionysischen und tragischen Zeitalters mit dem Aufkommen von Rationalismus und Philosophie einherging, so sieht auch Kittler eine auf Liebe, Rausch und Geschlechter-Beteiligung beruhende Frühzeit untergehen durch das Aufkommen einer männlich dominierten Weltsicht.

In seiner idiosynkratischen, vorher undenkbaren, seither oft nachgeahmten, aber in Tiefe und Pointiertheit kaum je erreichten Art verknüpfte Kittler sein medientechnikhistorisches Interesse an Buchstaben, Zahlen, Aufzeichnungsapparaten, Verstärkeranlagen und Digitalen Universalmaschinen mit seiner zeittypischen Orientierung an den Subjektkritiken der französischen Psychoanalyse (Jacques Lacan), Diskursgeschichte (Foucault) und grammatologischen Dekonstruktion (Jacques Derrida). Hinzu kam seine Liebe zur Popmusik. Aber auch zum Technik-Avantgardisten Richard Wagner, der mit seinen Gesamtkunstwerkbestrebungen das Kino vorwegfantasierte und wirkungsästhetische Manipulationstechniken der Hörer ersann, die direkt auf Hirne und Psychen zu wirken vermochten.

Texte und Vorlesungen von Friedrich Kittler zum Nachlesen und Hören finden sich auch auf der Webseite des Instituts für Kulturwissenschaften der HU Berlin. Hier lässt sich etwas von der eigenartigen Aura des gleichermaßen charismatischen wie stets nervös, linkisch und unsicher wirkenden Medien- und Geschichtsphilosophen nachspüren oder erinnern.

Das Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht gliedert Kittlers Werk auf nachvollziehbare Weise in drei Phasen und weist diesem eigenwillig denkenden Theoretiker einen ersten Rang unter den Philosophen und Zeitdiagnostikern des 20. und 21. Jahrhunderts zu. Einen Text, der sich heute mit besonderem Interesse wiederlesen lässt, enthält Gumbrechts Aufsatzsammlung, die vor dem Bekanntwerden des NSA-Skandals durch den Whistleblower Edward Snowden zusammengestellt wurde, leider nicht. Es handelt sich um den 1988 von Friedrich Kittler in der „taz“ publizierten Rezensionsessay zu einem Buch von James Bamford über den geheimsten der amerikanischen Geheimdienste (er findet sich in der vergriffenen Sammlung „Friedrich Kittler: Short Cuts“, Zweitausendeins Verlag 2002, S. 200-210). Kittlers Artikel trug den weisen Titel „Jeder kennt den CIA, was aber ist NSA?“ Auch oder zumindest hier war der Medientheoretiker – der von der mit einem üblen bonmot sogenannten ‚Kittler-Jugend‘ verehrt und von vielen älteren Geisteswissenschaftlern als Scharlatan oder unseriöser Querkopf verpönt (aber wohl auch wegen seiner Grundlagenkritik an vielen älteren Methoden gefürchtet) wurde – seiner Zeit um 25 Jahre voraus.

Titelbild

Friedrich A. Kittler: Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart.
Herausgegeben von Hans Ulrich Gumbrecht.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
432 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518296738

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