Ein logisches Gummiband

Erzähllogiken in mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist bemerkenswert, wie die schriftliterarische Überlieferung des Mittelalters immer wieder aufs Neue zur Auseinandersetzung reizen, Tagungen motivieren und anschließend Tagungsbände hervorbringen kann. Sind die Reflexion früherer Positionen, ihre Präzisierung, Modifizierung oder auch Überwindung als Aufgabe gestellt, so gehört es mittlerweile zum guten wissenschaftlichen Ton, einleitend festzuhalten, was die Beteiligten nicht wollen. Auch der vorliegende Sammelband, der auf eine Heidelberger Tagung Anfang 2011 zurückgeht, setzt sich mit dem Phänomen des ‚Erzählens‘ auseinander, erklärt aber zum Anspruch, „breit ausgetretene[…] Pfade einer gleichsam makrostrukturellen Analyse mittelalterlicher und frühneuzeitlicher narrativer Texte […] bewusst zu meiden.“

Das Dutzend Beiträge will also abrücken von solchem Makrostrukturalismus, stattdessen den Versuch wagen, auf kleinerer Ebene Erzählverfahren zu bedenken. Im Fokus stehen „exemplarische Analysen der logischen – und das heißt eben nicht nur: kausallogischen – Verknüpfungen von Erzählelementen in narrativen Texten.“ Der Band vereint Vertreter der Germanistik, Romanistik und Klassischen Philologie; die skandinavistische Mediävistik blieb unberücksichtigt. Drei Tagungsschwerpunkte wurden gesetzt: Historische Poetologie (= explizite Erzähllogiken), Narratologie (= implizite Erzähllogiken), Methodologie. In der Publikation sind diese Vorgaben als Perspektiven verstanden, die Beiträge unter die Überschriften „Grundkoordinaten“ (5 Aufsätze), „Mittelalterliche Ansätze zur Theoriebildung“ (2 Aufsätze) und „Fallstudien“ (5 Aufsätze) sortiert.

Zunächst schreibt Friedrich Wolfzettel vom ‚Störenden Mythos‘: Verdrängung, Moralisierung, Tiefenfantasie, das sind Koordinaten, über die er eine narrative Verortung ausgewählter Mythen anstrebt. Rationalisierung sei die postmythische Antwort auf ein sperriges Substrat, das zur Oberfläche dränge, frühere Funktionen aber längst eingebüßt habe. Als Beispiel dieser „Dialektik von Verdrängung und Offenbarung“ verweist Wolfzettel auf Merlins Ende unter einer Grabplatte, die den Mythos im Verlauf der Erzählung gleichsam begräbt. Gleichwohl erweise sich dieser als narrativ fruchtbares Fragment.

Augustinus’ „Confessiones“ betrachtet Jonas Grethlein, im Versuch, deren narrativen Umgang mit ‚Zeit‘ zu präzisieren. Er hebt die Bedeutung einer Trennung von Erzähler und Charakter (Augustinus) hervor: Das Telos erscheine als ‚Gottes Wille‘, dem Augustinus‘ menschliche Intention gegenüberstehe. Diese Gegenüberstellung sei auch Ausdruck einer Diskrepanz zwischen sequentieller (weil menschlich-temporaler) Welterfassung und göttlich-ewigem Wort. Erzählung wird damit zur Möglichkeit einer Reflexion von Zeitlichkeit, die Grethlein unter dem Begriff der ‚Spatialität‘ zu fassen sucht. Solche ‚Verräumlichung‘ durch Einschübe und Verknüpfungen sei auch ein Grund für enttäuschte Kohärenzerwartungen.

Uta Störmer-Caysa zeigt auf, wie die Kohärenzprämisse einer monokausalen Ereigniskette in mittelalterlichen Erzählungen rasch gestört wird, wenn widersprüchliche Begründungen angeboten werden. Das „Sinnvoll-Machen des im Sinne der logischen und zeitlichen Folge Unsinnigen“ sei dann dem Rezipienten angetragen. Es handle sich dabei allerdings nicht um ‚abgewiesene Alternativen‘, sondern um ebenbürtige Begründungsalternativen, die einander gleichwohl temporär konturieren könnten. Mit der Vorgeschichte in Figurenrede sei zugleich die Subjektivität solcher Kausalitätsentwürfe problematisiert.

Harald Haferland setzt sich mit dem jüngst mehrfach diskutierten Konzept der ‚Figur‘ auseinander, hier verstanden als Charakter innerhalb von Erzählungen. Dabei werden sowohl Wechselwirkungen von Realität und Fiktion bedacht, als auch mediale Potenziale und Grenzen bei der Figurendarstellung. Damit ist die Frage einer ‚Psychologisierung‘ aufgeworfen, die „rezipientenseitig verunglückte Zuschreibung von Psychologie oder von bestimmten psychologischen Zuständen“. Die Gefahr solcher Projektion steige mit wachsendem kulturellen und zeitlichen Abstand zu einer Erzählung. Zumal bei minimalistisch entworfenen Erzählhandlungen sei daher eine Kontextualisierung von essenzieller Bedeutung.

Florian Kragl nimmt die These „Mittelalterliches Erzählen ist langsames Erzählen“ zum Ausgangspunkt. Damit ist die Tendenz mittelalterlicher Erzählungen angesprochen, durch Abschweifungen den Handlungsstrang gleichsam zu pausieren. Kragl kritisiert die Neigung vieler Mediävisten, sich allein auf handlungsfördernde Passagen zu konzentrieren, rücke mit der Herauslösung solcher Digressionen aus dem Erzählzusammenhang doch das Ineinandergreifen von narratio und descriptio aus dem Blick. An zwei Beispielen illustriert er solch bildhafte Abschweifung, die als „semantisch stark geladener Schnittbereich“ ein ungeahntes Bedeutungspotenzial entfalte.

Christian Schneider tritt in seinen Ausführungen zu Erzähllogiken in historischer Perspektive kritisch einer ‚Alteritätshermeneutik‘ entgegen, fordere die Bezeichnung ‚alteritär‘ doch einen Maßstab, der nicht unbesehen in modernen Kohärenzerwartungen zu suchen sei. In Betrachtung lateinischer Poetiken diskutiert er Konzepte von ‚Wahrheit‘ und ‚Wahrscheinlichkeit‘ und stellt zur Frage, woran verisimilitudo eigentlich zu messen sei. Die Problematik deutet sich dort an, „wo das Konzept des Wahren und Wahrscheinlichen mit dem Begriff des Schönen verbunden wird“. Schneiders Untersuchungen münden in mehreren Ergebnissen: 1) die Wahrscheinlichkeit des Erzählten wird gleichermaßen an außer- wie innerliterarischer Plausibilität gemessen; 2) eine Verschiebung von wissenschaftlich Wahrscheinlichem hin zu Publikumserwartungen ist zu verzeichnen; 3) lateinische Poetiken formulieren keine Norm logischen Erzählens.

Gegen die Tendenz, über vagen Verweis auf die ‚Wirkungsmacht des Mythos‘ mittelalterlichen Erzählungen Rationalität abzusprechen, gibt Fritz Peter Knapp zu bedenken, dass die Wiederentdeckung der aristotelischen Logik dem Streben nach rationaler Begründung einen wesentlichen Impuls verliehen habe. Er wendet sich damit gegen „postmoderne Phantasien“, die der einfachsten Lösung auszuweichen suchten: der „Nonchalance mittelalterlicher Erzähler“. Nachlässigkeit im logischen Aufbau einer Erzählung sei wesentlich mündlicher Produktion und Überlieferung geschuldet. Damit richtet sich Knapp gegen die These einer fingierten Mündlichkeit, die zu Überinterpretation führen könne: Brüche und Widersprüche seien nicht Ausdruck artistischer Ambitionen, sondern Zeugnis der „Kunst des Augenblicks“. Erfrischend ist Knapps klare Sprache, die Terminologieverliebtheit eine Absage erteilt.

In den Fallstudien beschäftigt sich zunächst Stephanie Seidl mit dem ‚Brautwerbungsschema‘. Allerdings richtet sie sich gegen den geläufigen makrostrukturellen Zugriff und diskutiert beispielhaft eine „Ebene der narrativen Mikrostrukturen“. Von besonderer Bedeutung ist ihr die mikrostrukturelle Funktionalisierung einer göttlichen Lenkung des Protagonisten, die die Erfüllung des Schemas einerseits vorwegnehmen, andererseits völlig verfehlen könne. Diese Brechung, wie auch eine „Überdeterminiertheit finaler Motivationsstrukturen“, könne gar als Problematisierung der Schema-Konstruktion angesehen werden.

Jan-Dirk Müllers Ausführungen verstehen sich als Teil eines Projekts zu ‚epischem Erzählen‘. An der „Rabenschlacht“ arbeitet er heraus, wie strophische Strukturierung im Vortrag eine akustische Bedeutungsebene habe generieren können: Weniger ginge es um die „Ausfaltung eines komplexen Handlungszusammenhangs“ als vielmehr um die „Herstellung von Intensität mittels Wiederholung“. Klage werde gleichsam zur „Vollzugsform“ des Epos, heroische Trauer performativ präsent. Konsequenz solchen Erzählens sei nicht zuletzt die Aufhebung der Distanz zwischen Erzähler und Erzählwelt.

Matthias Meyer widmet sich dem ‚Ende‘ von Erzählungen. Heutige Erwartungen an einen befriedigenden Abschluss der Handlungsfäden müssen, so die These, dann enttäuscht werden, wenn Erzählschemata nicht widerspruchsfrei zusammengeführt werden können, wenn Hybride entstehen, die keinen gattungsgemäßen Vorgaben mehr konsequent folgen. Unter anderem am Beispiel des „Armen Heinrich“ führt Meyer ein solch unbefriedigendes Ende prägnant vor Augen.

Mit der literarischen Funktionalisierung von Spiegelungen setzt sich Christiane Witthöft anhand dreier Mären auseinander. Zur Prämisse setzt sie eine Konkurrenz von Verstand und Sehen, und greift dazu auf den Terminus der ‚Evidenz‘ zurück, der Gewissheit des Selbst-Gesehenen. An Beispielen führt sie vor, wie Selbsterkenntnis von einem äußeren Schein, also einer Reflexion von Oberflächlichkeiten, und dem Urteil anderer abhängt, und demonstriert anhand verschiedener Schlussszenen, wie solche Spiegelung sich in echter Erkenntnis auflösen, aber auch zum Untergang führen kann.

Im letzten Fallbeispiel untersucht Michael Waltenberger an der „Vida de Lazarillo de Tormes“ aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, welche Eigenlogiken das Wechselspiel von Rahmensujet und Erzählepisoden entfalten kann: Da die Erzählung offen ausläuft, bot sich zwei frühneuzeitlichen Fortsetzungen die Möglichkeit, unterschiedliche Aspekte zum strukturbildenden Prinzip zu erheben. Die erste Fortsetzung, so Waltenberger, sei durch eine stabilisierende Wiederholung der Konfliktkonstellation auf „ein persistentes semantisches Substrat“ zu konzentrieren, während die spätere Fortführung „aus der Abfolge der episodischen Syntagmen kaum noch eine semantisch einigermaßen definite paradigmatische Ordnung“ erkennen lasse. In diesem zweiten Fall würde sich vielmehr eine Eigendynamik entwickeln, die etablierte Strukturen stückweit aufheben würde.

Soweit eine Betrachtung der Beiträge. Sie sollte die Vielfalt der Perspektiven, die in diesem Band zusammengeführt werden, aber auch Parallelen und Überschneidungen verdeutlicht haben. Ein pauschalisierendes Urteil ist weder angebracht noch möglich. Die Forderung einer Distanzierung zu jenen „breit ausgetretenen Pfaden einer gleichsam makrostrukturellen Analyse“ wird man als erfüllt betrachten dürfen. Das Spektrum der behandelten Phänomene erfordert Einarbeitung in Texte und Thesen, zumal sich manche Argumentation durch reichen Einsatz einer spezialisierten Terminologie auszeichnet; das ist wohl eine Frage des Stils.

Es wird deutlich, wie fruchtbar eine disziplinübergreifende Zusammenschau sein kann, aber auch, „wie sehr die Logiken des Erzählens in all ihren Aspekten ganz erheblich auch Ermessensentscheidungen sind, wodurch sie alle formallogische Strenge einbüßen und zu so etwas wie einem logischen Gummiband von hoher Elastizität werden.“ Damit ist keine interpretatorische Beliebigkeit herausgefordert, wohl aber ein künftiges Forschungsfeld benannt. In einem kurzen Epilog öffnet Sonja Glauch die Studie gezielt für solch anknüpfende Betrachtungen. Neben dem Autoren- und Werkregister wäre zu diesem Zweck eine Gesamtbibliografie hilfreich gewesen. In jedem Fall bildet der vorliegende Tagungsband mit seinem breiten Spektrum diskutierfähiger Zugänge und seiner Zusammenführung namhafter Mediävisten eine vielversprechende Basis weiterer Debatten, auch über die beteiligten Fachbereiche hinaus.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Florian Kragl / Christian Schneider (Hg.): Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2013.
312 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783825361129

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