Ein neuer Inspector-Lynley-Roman

In ihrem neuesten Fall schickt Elizabeth George die Ermittler Lynley und Havers nach Italien

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Nur eine böse Tat“ ist der 18. Roman um die ungleichen Ermittler Inspector Thomas Lynley und Sergeant Barbara Havers von New Scotland Yard und knüpft direkt an den Vorgänger, „Glaube der Lüge“, an. Havers macht sich große Sorgen um ihren Freund und Nachbarn Taymullah Azhar, der völlig verzweifelt ist, weil seine Freundin Angelina Upman die gemeinsame neunjährige Tochter Hadiyyah mitgenommen hat. Angelina war nach zwei Jahren Trennung zu ihrem pakistanischen Exgeliebten, einem Professor für Mikrobiologie, zurückgekehrt und hatte heile Familie gespielt, nur um einen günstigen Moment abzupassen, mit ihrer Tochter zu verschwinden.

Fünf Monate später steht Angelina wieder vor Azhars Tür, allerdings ohne Hadiyyah, die im italienischen Lucca, wohin sich Angelina abgesetzt hatte, entführt wurde. Angelina und ihr Geliebter Lorenzo Mura wollten eine Familie gründen und beschuldigen nun Azhar der Entführung. Doch der stille, wohlerzogene Azhar bestreitet jede Beteiligung.

Da New Scotland Yard sich als nicht zuständig erklärt, kontaktiert Havers den Journalisten Mitchell Corsico vom Boulevardblatt Source. Als der Fall des vermissten Mädchens in der britischen Presse Schlagzeigen macht, muss New Scotland Yard reagieren. Lynley wird als Verbindungsbeamter nach Lucca geschickt, um die Ermittlungen von Commissario Lo Bianco vor Ort zu begleiten und Angelina und Azhar, der inzwischen auch nach Lucca gereist ist, auf dem Laufenden zu halten.

Bei seinen Recherchen stößt Commissario Lo Bianco auf den drogensüchtigen Caspari, der auf dem Markt von Lucca bettelt. Er war kurz vor der Entführung mit Hadiyyah gesehen worden. Der selbstgefällige Staatsanwalt Fanucci verhaftet Caspari, Lo Bianco sucht weiter nach dem Täter. Einige Zeugenaussagen führen über den Pädophilen Squali zum Privatdetektiv di Massimo aus Pisa, der wiederum schon vor Wochen im Auftrag des Londoner Privatdetektivs Doughty das Mädchen gefunden hatte. Besonders pikant ist, dass Doughty der Privatdetektiv ist, den Havers ihrem Freund Azhar damals empfohlen hatte. Alles weist darauf hin, dass Azhar in die Entführung verwickelt ist. Doch Havers glaubt an seine Unschuld.

Nur Tage nach Hadiyyahs Auffinden stirbt Angelina, vordergründig wegen einer schwierigen Schwangerschaft. Doch dann stellt sich heraus, dass sie mit einer seltenen Art von Kolibakterien vergiftet wurde. Wieder fällt der Verdacht auf Azhar, den Mikrobiologen. Und wieder glaubt Havers an seine Unschuld.

Elizabeth George schreibt die Geschichte von Lynley und Havers weiter. Thomas Lynley beginnt sich vom Tod Helens und seines ungeborenen Kindes zu erholen („Wo kein Zeuge ist“) und bemüht sich um die Zoobiologin Daidre Trahair aus Bristol, die er seit einem halben Jahr kennt („Doch die Sünde ist scharlachrot“). Havers’ Privatleben liegt auf Eis. Mit dem italienischen Commissario Lo Bianco zeigt erstmals ein Mann Interesse an Havers. Er erkennt das Schöne an ihr und bewundert ihren Mut und ihre Kompetenz.

Barbara Havers steht vor der wohl schwierigsten menschlichen Entscheidung ihres Lebens, die ihre Karriere und mehr kosten könnte. Droht ihr anfangs nur eine Degradierung zum Constable, weil sie Informationen an die Presse verrät, macht sie später alles, um Azhar und Hadiyyah zu helfen. Man fragt sich, wieweit sie noch gehen will, denn mit ihren illegalen Aktivitäten riskiert sie ihren Job und ihre Freiheit. Das kann sie sich nicht leisten, denn sie muss nicht nur sich mit ihrer Arbeit unterhalten, sondern auch ihre demente Mutter, die in einem Heim lebt. Und wofür? Für ihre kleine Freundin und einen Mann, der mehr als ein Freund zu sein scheint. Zumindest aus ihrer Sicht. Ihre Aktivitäten hält sie vor Lynley geheim, doch gegen ihren Willen zieht sie ihn in die Sache hinein. Lynley versucht, seine Freundin Barbara zu decken, und lernt dabei viel über sie und sich. Wieweit wird Lynley gehen? Ist er bereit, seinen Job aufs Spiel zu setzen? Druck bekommt er von seiner Vorgesetzten, Superintendent Isabelle Ardery, mit der er sich nach Helens Tod in einer kurzfristigen Sexbeziehung zu trösten versuchte („Glaube der Lüge“). Auch ihr Job gerät in Gefahr, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Sie alle geraten in eine höchst prekäre Dilemmasituation, die eine gefährliche Eigendynamik entwickelt, Lynley an und Havers über die Grenze treibt und eine Sogwirkung auf den Leser ausübt, der hin und her gerissen ist bei der Bewertung der Figuren und der Frage: Was ist richtig? Was ist falsch?

„Ich habe vielleicht eine böse Tat begangen. Aber diese Tat hat am Ende viel Gutes gebracht“ entschuldigt sich der Täter, der kein böser, sondern ein verzweifelter Mensch ist, aber mit nur einer einzigen bösen Tat eine Lawine der Zerstörung auslöst.

Die Idee, den Roman zu großen Teilen in Italien anzusiedeln, kam George durch die Anklage gegen die Amerikanerin Amanda Knox, die eine Mitstudentin in Perugia ermordet haben soll, und die Rolle der italienischen Boulevardpresse. Wie üblich hat sie gründlich und aufwendig vor Ort in dem derzeit auch literarisch beliebten toskanischen Städtchen Lucca recherchiert, ohne dessen Topographie, Geschichte und Kultur als Hintergrundtapete auszubeuten. Sie zeigt, wie die Arbeit der italienischen Polizei und die Zusammenarbeit zwischen italienischer und britischer Polizei läuft, was ein Privatdetektiv in Großbritannien darf und was nicht, wie E.coli-Bakterien wirken, was das MI12 ist, das im Gebäude von New Scotland Yard untergebracht ist, und welche Möglichkeiten und Grenzen der Datenmanipulation Hacker haben. Der Roman verbindet auf überzeugende Weise eine mysteriöse Kriminalgeschichte mit Georges Lieblingsthema, der Psychopathologie von Menschen und insbesondere von Familien, und liefert zugleich auch ein präzises Bild der sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen, unserer Zeit und der Gesellschaft. Intelligent, spannend und trotz der Länge ohne Längen erzählt. Nach zwei weniger glänzenden Lynley-Romanen kehrt Elizabeth George zu ihrer alten Bestform zurück.

Man ist gespannt auf den nächsten Roman, da man unbedingt wissen möchte, wie es mit Lynley und Havers weitergeht. Aber verraten darf man wohl, dass es für Havers eine Zukunft bei der Polizei geben wird. Trotz allem.

Titelbild

Elizabeth George: Nur eine böse Tat. Ein Inspector-Lynley-Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann.
Goldmann Verlag, München 2013.
862 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783442312528

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