Verlorene Paradiese
In seinem Debütroman erzählt Nick Dybeck von der Kindheit am Meer und vom amerikanischen Nordwesten
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Unermesslichkeit und Gewaltigkeit des Meeres ist ein geradezu klassisches Bild und Motiv, wenn man die Verlorenheit des Menschen und die Hinfälligkeit der Zivilisation angesichts der übermächtigen Natur zeigen will. Vor eine solche Kulisse, dorthin, wo das Meer besonders rau ist und der Lebensrhythmus der Menschen sich nach der See richtet, hat Nick Dybeck die Geschichte seines Ich-Erzählers Cal verlegt: in den fiktiven Fischerort Loyalty Island an der Pazifikküste des amerikanischen Nordwestens im Bundesstaat Washington. Aber er zeigt auch, wie die von Menschen geschaffene ökonomische Ordnung zu Verstrickungen in Schuld und Verbrechen führen kann. Denn fast alle Männer in jenem Fischerort sind abhängig von John Gaunt, dem Besitzer der lokalen Fisch-Company. Nach dessen plötzlichem Tod sehen sich die Männer und Familien, darunter auch der Vater des Ich-Erzählers, durch die vermeintlichen Pläne des Erben, Richard Gaunt, in ihrer Existenz bedroht. Die Auseinandersetzung mit jenem „geheimnisvollen Sommer 1986“, als der Ich-Erzähler vierzehn Jahre alt war, ist der Kern der Erzählung. Nur selten erfährt der Leser direkt etwas über den 28-jährigen Cal, der sich kurz nach der Jahrtausendwende an diesen Sommer erinnert. In beiläufigen Sätzen, die den berichteten Ereignissen vorgreifen und die sonst konsequent eingehaltene Erzählperspektive, bei der mit dem Wissensstand des jugendlichen Cal erzählt wird, durchbrechen, setzt sich der Leser mühsam ein Bild zusammen, das einen fast 30-jährigen Cal zeigt, der seinen Heimatort offenbar auch verlassen, ein Studium begonnen hat und ein intellektuelles Profil erkennen lässt, das sich auch in der Art und Weise seines Schreibens niederschlägt. Die Erinnerung an jenen Sommer und die Ereignisse rund um den Tod John Gaunts, die Reflexionen über den eigenen, meist abwesenden Vater und die Familie werden nicht als unmittelbare Erinnerungsstücke präsentiert, sondern markieren deutlich ihre Bezüge zu Adoleszenzromanen der Weltliteratur. Es geht dem Ich-Erzähler um nichts weniger als die Frage nach den frühen Prägungen, nach dem, was den Erwachsenen Menschen erwachsen gemacht hat, wo die Kindheit aufhört und was uns zu dem gemacht hat, was wir sind. Dabei wird das intertextuelle Bezugsfeld auch des Abenteuer- und Jugendromans deutlich profiliert und das nicht nur durch ein vorangestelltes Zitat aus Robert Louis Stevensons „Schatzinsel“. Mehr noch verrät der Romantitel des amerikanischen Originals über Anlage und Struktur dieser Erinnerungen und problematisiert gleichzeitig das schwierige Verhältnis zum Vater, die Revokation einer in der Jugend verklärten Figur: „When Captain Flint was still a good man“. Was hier erzählt wird, obliegt offenbar einer Überprüfung. Es ist nicht zu viel verraten, wenn man auf die Verstrickungen von Cals Vater in die Reaktion der Einwohner von Loyalty Island auf den angekündigten Verkauf der Fisch-Company durch Richard Gaunt hinweist. In der Rekapitulation der Ereignisse vom Sommer 1986 ist gleichzeitig auch eine moralische (Neu-)Bewertung der eigenen Handlungen und Ansichten angelegt – und damit auch der Abschied von einer verklärten Kindheit vollzogen. Das Erzählen und das Erzählte selbst, die atmosphärisch dichten Beschreibungen von Wetter, Farben und Licht, den Tagezeiten, Jahreszeiten Ritualen und Festen unter schwierigen Bedingungen lassen indessen die als magisch empfundene Natur und die Weltsicht des 14-jährigen Cal noch einmal aufleben. Die Menschen, die der Ich-Erzähler beschreibt, sind ebenso einfach wie faszinierend, ihre Lebensweise unter der Abhängigkeit der ewigen Wiederkehr von Ebbe und Flut ebenso archaisch anmutend, wie sie abstoßend wirken in ihren moralischen Handlungsmaximen.
Es ist eine herausragende Qualität dieses Debütromans, dass er mit seiner recht strengen Perspektivierung den Wissens- Wahrnehmungsstand von Cal wiedergibt, was den Text über weite Strecken auch zu einem spannenden und großartigen Abenteuerroman macht.
Dennoch: Zwischen den Zeilen von Alltagsbeschreibungen und solchen, die nicht ganz so Alltägliches berichten, öffnet sich in Nick Dybecks Roman eine zweite symbolische Textebene, die ihre Überzeugungskraft einerseits aus den intertextuellen Bezügen, andererseits aus der hier vorliegenden sozialen und familiären Grundkonstellation bezieht. Der Fischerort erscheint wie ein Mikrokosmos der amerikanischen Gesellschaft unter extremen Bedingungen, in dem aber gleichzeitig die uramerikanischen Triebfedern gesellschaftlichen Lebens und individueller Entwürfe offengelegt werden: Das Streben nach Glück und ökonomischer Sicherheit, die Frage individueller Verantwortung für die Gemeinschaft und die Gefahren von Freiheitssehnsucht, wie sie sich vor allem in der Figur des Erben Richard Gaunt manifestieren.