Jedes Wort durchdacht, jedes Problem erkannt

Julian Preece widmet Ilija Trojanow eine Sammlung literaturwissenschaftlicher Texte und Hintergrundinformationen

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Jahr nach dem ersten Band über Feridun Zaimoglu wurde die Reihe Contemporary German Writers and Filmmakers des Centre for Research into Contemporary German Culture der Universität Swansea 2013 mit dem zweiten Band fortgeführt: Die Wahl des Autors Ilija Trojanow unterstreicht das Ziel der Herausgeber, den dynamischen Entwicklungen innerhalb der deutschen Kultur seit der Wiedervereinigung, der zunehmenden ethnischen Vielfalt und der wachsenden internationalen Anerkennung deutscher Schriftsteller gerecht zu werden. Julian Preece, Professor für Deutschstudien an der Universität Swansea und Direktor des Forschungsinstituts, hat neben einem Interview mit dem Autor und einem bisher unveröffentlichten Essay von ihm zu Lessings Aufklärungsparabel der interreligiösen Toleranz – inklusive Übersetzung ins Englische – acht wissenschaftliche Beiträge zu den Kernthemen Trojanows zusammengetragen.

Der Weltensammler Ilija Trojanow wurde 1965 in Sofia/Bulgarien geboren, wuchs in Kenia und Deutschland auf, lebte viele Jahre in Mumbai und Kapstadt, reiste als Pilger nach Mekka und mit einer Expedition in die Antarktis. 2013 wird ihm, vermutlich wegen seiner politischen Aktivitäten, die Einreise in die USA zu einem Germanistenkongress verweigert. Der Verleger, Übersetzer und Schriftsteller lebt heute in Wien. Unter anderem erhielt er 2000 den Adelbert-von-Chamisso-Preis und 2006 den Preis der Leipziger Buchmesse. Gemeinsam mit Zaimoglu hatte er 2007 die Poetikdozentur an der Universität Tübingen inne.

Im Interview mit dem Herausgeber spricht der Autor über seine Sprachbiografie, erklärt die Bedeutung des Deutschen als Sprache der Prosa und wie wichtig es für einen Migranten sei, sichtbar zu sein. Seine Werke, die sich alle auf jeweils aktuelle, globale Probleme beziehen, unterscheiden sich im erzählerischen Ansatz und Ton. Sein poetischer Ehrgeiz sei es, immer etwas Neues auszuprobieren. Trojanow widerlegt im Gespräch die Annahme, er sei seit der Pilgerreise nach Mekka Muslim. Vielmehr sei er weder als Gläubiger noch als Atheist kategorisierbar und bedaure, dass ein Zwischenstadium gesellschaftlich inakzeptabel sei. Mit Trojanows Religionsmodell, das an Individualismus und selbstbestimmte Gesetze gebunden ist und nutzlose Bräuche missachtet, und seiner Darstellung im Werkkontext setzt sich in einem späteren Beitrag Ben Morgan auseinander.

Trojanows Essay „Weltbürgertum heute: Rede zu einer kosmopolitischen Kultur“ wurde als Eröffnungsrede zum Lessingfestival 2010 in Hamburg gehalten. Lessings Ringparabel erscheint dem Autor dabei höchst aktuell, denn der „erste kosmopolitische Autor deutscher Sprache“ importiert Mythen und Legenden aus Indien und dem Orient und „schlägt eine Bresche für die Aufklärung, indem er den Spuren des Gemeinsamen, der Vermischungen folgt.“ Das gleichberechtigte Nebeneinander der drei Religionen – bei Lessing funktioniert es. Historisch genauestens belegt, überträgt Trojanow Lessing’sche Gedanken in die Gegenwart, wettert gegen den weltfremden Kulturkonservatismus und hält ein Plädoyer für kosmopolitische Perspektiven, universelle Grundregeln und die Notwendigkeit für ein „nicht-systematisches, intuitives, paradoxes, fragmentarisches, zwiespältiges Denken, denn nur dieses wird der Komplexität und Vielfalt der Welt, in der wir leben, gerecht.“ Es folgen acht fachlich versierte Artikel zu Aspekten der bisher erschienenen Werke beziehungsweise dem Schreiben des Autors.

Cornelius Partsch beschäftigt sich mit „Autopol“ (1997), Trojanows zweitem Roman, einem futuristischen Thriller, der unter der Schirmherrschaft des ZDF-Magazins „aspekte“ als novel in progress vor den Augen der Leser im Internet entstand. Partsch beschreibt die Privatisierung der Gefängnisse und die Wende zur Distopie in zeitgenössischer Science-Fiction-Literatur. So sehr die Idee dieser interfiction fasziniere und einen Text ohne lineare Entwicklung möglich mache, so enttäuschend sei das Ergebnis. Die Buchausgabe der sehr durchdachten Distopie wird eher als Beginn einer cyberliterature, denn als literarischer Meilenstein bestehen bleiben.

„Der Weltensammler“ (2006), Trojanows preisgekrönter Roman, der zudem Finalist beim Deutschen Buchpreis war, spielt in der ganzen Besprechung eine zentrale Rolle. Caitriona Ní Dhúill erkennt das Problem des Autors, posthum die Lebensgeschichte von Richard Francis Burton zu konstruieren. Deshalb wird „der sprachenlernende Held“ des Romans auch aus metabiografischer Perspektive geschildert. Trojanow schreibt über und nicht von Burton. Er gibt dessen Angestellten eine Stimme, nutzt den Blick aus deren anderen Kulturen und seine eigenen Pilgererfahrungen, um eine fließende Identität des kosmopolitischen, postkolonialen Globetrotters zu zeichnen. Die Wahrheit, was wirklich passiert ist, gerät in den Hintergrund, es geht darum, die Biografie als mysteriöses Rätsel, das gelöst werden soll, zu sehen. Christina Kraenzle thematisiert die kosmopolitischen Visionen und das koloniale Vermächtnis in „Nomade auf vier Kontinenten“ (2007). Anhand der Berichte Burtons, Karten, Fotos und eigenen Texten Trojanows wird eine neue Reiseliteratur erkennbar: Multikulturelle Erfahrungen verdrängen die Exotik.

Die Pilgerreise von Trojanow und Burton ist auch die Grundlage für Ernest Schonfields Beitrag. Pilgerreisen waren der Ursprung des Tourismus, beides hat zum Ziel, die Identität zu verändern, zu bereichern. Burton verhielt sich wie ein heutiger Tourist, er konsumiert eine Kultur, lernt Sprache, Glaube, Bräuche und zieht weiter. An den heiligen Stätten des Islam wird er zum Ethnografen, beobachtet und beschreibt die arabische Welt wissenschaftlich, auch wenn Said ihm koloniale Dominanz und imperialistische Ideologien unterstellt. Trojanow schätzt den fundamentalen Gleichheitsgedanken des Islam, der auf dem Hadsch sichtbar und spürbar wird, und setzt den dazu im Widerspruch stehenden sozialen Ungleichheiten in vielen muslimischen Staaten die Demokratiebestrebungen des Arabischen Frühlings 2011 entgegen. Während die Reiseliteratur Burtons nur die Perspektive des Reisenden erlaubt, lässt Trojanow in seinem Roman verschiedene politische Meinungsträger zu Wort kommen und bietet so dem Leser ein authentisches Dilemma.

Eva M. Knopp befasst sich mit dem Humor bei Trojanow und findet Parallelen zwischen seinem Debütroman „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“ (1996) und „Der Weltensammler“. Sie sieht Humor als ein Mittel transkultureller Erfahrung und zeigt, wie er, ebenso wie ironische Distanz, zum Kampf gegen sozio-kulturelle Vorurteile und herrschende Diskurse dient. Im erstgenannten Werk lässt der Autor den Leser beim „Asylantenroulette“ über die Flüchtlingsproblematik lachen, Burton wiederum parodiert Inder, um die Briten damit zu belehren. Auch sonst liebt Trojanows Protagonist Sprach- und Rollenspiele sowie Maskeraden, wechselt seine Identitäten wie Kleidung und geht mit Religion und Kultur spielerisch um. Kernstück der Texte sind die spaßigen Charaktere Bai Dan und Sidi Mubarak Bombay, zwei Trickster, die die Macht und den Charme der Sprache nutzen und als Mediatoren zwischen den Kulturen fungieren. Die subversive Macht des Humors in totalitären Gesellschaften wird in beiden Romanen deutlich, andererseits verschweigt der Autor nicht, dass Witze Ungerechtigkeiten nur kurzzeitig aufbrechen, selten aber beseitigen.

Nach drei Jahren Recherche und Schreiben erscheint 2011 „EisTau“, ein moralischer Roman zum Klimawandel. Laut Preece gibt Trojanow mit der Beschreibung von Widerständlern, „dem Aufbruch des Einzelnen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, abstrakten Fakten eine menschliche Form. Der Protagonist Zeno Hintermeier, Professor für Glaziologie, entmenschlicht sich im gleichen Maße wie ihm das geliebte Ewige Eis in perfekter Allegorie näher kommt. Er kündigt an der Universität und wird zum Liebhaber, Ehemann und Doktor der bedrohten Gletscher. Er scheitert wie Burton am Ende selbstzerstörerisch. Alle Versuche, den Temperaturanstieg zu stoppen, sind erfolglos. Als er sich als Touristenführer in die Antarktis verdingt, wird klar, dass moderne Intellektuelle wirtschaftlich von den gleichen Kräften abhängig sind, die sie kritisieren wollen. Die Zivilisationskritik ist inhaltlich wie literarisch gelungen, auch wenn der Autor die Bewertung des Verhaltens der Protagonisten und der Legitimität ihres Handelns dem Leser überlässt.

Der abschließende Beitrag, abermals von Julian Preece, schafft eine Verbindung des Autors zu den Großen der europäischen Reportage, Egon Erwin Kisch und Ryszard Kapuściński, deren Geschichten und  Reportagen Trojanow 2007 und 2008 herausgegeben und kommentiert hat. Fasziniert davon, wie für beide die Realität der Ausgangspunkt für Fantasien und die Infragestellung voreingenommener Denkweisen ist, nutzt er die Freiheit als Schriftsteller, anders als ein Journalist, Fakten fiktionalisieren zu können. Bei Trojanow geht es immer um die großen Themen der Gegenwart: Migration, Asyl, Bürgerrechte, Korruption, Tourismus, Klimawandel, Sicherheitswahn oder Überwachungsstaat, aber er schreibt zurückhaltend und ohne Lösungsvorschläge, nur als mahnende Denkanregung. Während Kisch und Kapuściński in multiethnischer, mehrsprachiger Umgebung aufwuchsen – „Heimat kann die erste Auslandserfahrung sein“ – und unter Repressionen sowie Zensur litten, kann Trojanow Orte und Dinge beim Namen nennen.

Die Texte des englischsprachigen Bandes fügen sich harmonisch aneinander und korrespondieren miteinander. Der wissenschaftliche Überblick über das bisherige literarische Schaffen Ilija Trojanows ist mit umfangreichen Verweisen, Fußnoten und einem ebensolchen Literaturverzeichnis versehen. In erster Linie werden Spezialisten und Studenten das Werk als Quelle und Anstoß für ihre wissenschaftlichen Untersuchungen nutzen, aber auch ein begeisterter Leser, der Hintergründe verstehen und in die Tiefe gehen will, fühlt sich bestens bedient. Schade eigentlich, dass man in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft solche Bände erst mit gebührendem zeitlichen Abstand zu Autor und Werk in Angriff nimmt.

Titelbild

Julian Preece (Hg.): Ilija Trojanow. Contemporary German Writers and Filmmakers, Vol. 2.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
210 Seiten, 56,40 EUR.
ISBN-13: 9783034308946

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