Gespräche am Kamin
Die Frankfurter Buntbücher erschließen die Wohnsitze von Künstlern und Schriftstellern in Berlin und im Land Brandenburg
Von Klaus Hammer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie in unregelmäßiger Folge seit 1991 erscheinenden Frankfurter Buntbücher – seit 2010 werden sie von Wolfgang de Bruyn und Hans-Jürgen Rehfeld vom Kleist-Museum Frankfurt (Oder) herausgegeben – spüren den Lebensgeschichten bedeutender Dichter und Künstler an den Wohnsitzen nach, die sie für ihr Schaffen anregten. Es wird also Spurensuche betrieben nach dem Leben der Dichter und Künstler in ihren Häusern und nach der Literatur und Kunst, die damit verbunden ist. 53 Titel, jeweils mit zahlreichen Abbildungen, Lageskizzen, handschriftlichen Zeugnissen versehen, sind bisher erschienen: Carl und Gerhart Hauptmann in Schreiberhau (deutsch und polnisch), das Fidus-Haus in Schönblick/Wolterdorf (Mark), Bettine von Arnim zu Wiepersdorf, Hermann Kasack in Potsdam, Georg Kaiser in Grünheide, Friedrich de la Motte Fouqué und Nennhausen, Gertrud Kolmar in Falkensee-Finkenkrug bei Berlin, Ernst Jünger in Berlin, Adelbert von Chamisso in Cunersdorf und Berlin, Peter Huchel in Wilhelmshorst, Max Frisch in Berlin-Friedenau, Franz Fühmann in Märkisch-Buchholz und Fürstenwalde, Erich Arendt und Neuruppin und viele andere. Aus Briefen, Tagebüchern, Erinnerungen, Werkzitaten, aber auch aus historischen Quellen, Ortschroniken, juristischen Dokumenten, Archivmaterialien soll die Wechselbeziehung zwischen Dichter und Ort erschlossen werden. „Wer den Dichter will verstehen, muss in Dichters Lande gehen“, lautet das bekannte Goethe-Wort, und Johannes R. Becher fügte hinzu, dass das Haus, in dem man wohnt, „in einer merkwürdig vielartigen Weise mit zu unserem Leben“ gehört. In den Häusern der Dichter sind die Materialien der Zeit enthalten. Erst durch ihre Bewohner bekommen die Häuser ein unverwechselbares Gesicht.
Unter den Kirchenlied-Dichtern im 17. Jahrhundert ragt Paul Gerhardt heraus. Sein Name lebt fort in bekannten Kirchenliedern wie „Befiel du deine Wege“, „O Haupt voll Blut und Wunden“, „Nun ruhen alle Wälder“, „Die güldne Sonne“ und „Geh aus mein Hertz und suche Freud“. Dem von Ulrich Grober verfassten Heft über den Liederdichter Paul Gerhardt sind drei Orte gewidmet: Berlin, Mittenwalde, Lübben. Wo sind dessen Texte entstanden? Im Bertholdschen Haus in der Spandauer Straße fand der Neuankömmling 1642 Aufnahme, wahrscheinlich war er hier Hauslehrer. Eine der beiden Schwestern des Hauseigentümers, des Advokaten Andreas Berthold, wurde 12 Jahre später Gerhardts Frau. Im Berthold‘schen Haus fand auch das literarische Debüt statt, mit einem Hochzeitsgedicht, und in der Nikolaikirche, bevor er dort 1657 bis zu seiner Entlassung 1667 als Pfarrer wirken sollte, sind seine Lieder zum ersten Mal öffentlich gesungen worden. 1643 begann die Zusammenarbeit mit Johann Crüger, dem Komponisten und Leiter der Kantorei am Grauen Kloster.
1651 trat Gerhardt dann in Mittenwalde sein erstes Amt als Pfarrer an. Hier hatte er auch seine Glanzzeit als Lieddichter. Das berühmte „O Haupt voll Blut und Wunden“ ist unter dem Eindruck des tagtäglichen Umgangs mit dem Altarbild, des Schweißtuchs der Veronika aus der Cranach-Schule im Altarsockel, entstanden. Die Geschichte von Text und Melodie wird von Grober erzählt. 1657 erhielt Gerhardt seine Berufung an die Nikolaikirche in Berlin, aber dieses gute Jahrzehnt – den Höhepunkt in Gerhardts Leben und Schaffen – spart der Verfasser aus, er merkt nur an, dass Gerhardt wegen seiner streng lutherischen Überzeugungen vom Kurfürst Friedrich Wilhelm, der der reformierten Kirche anhing, seines Amtes enthoben wurde. So ging Gerhardt 1669 als Archidiakon nach Lübben. Das kompromisslose Festhalten am lutherischen Glauben war für ihn zur Existenzfrage geworden. Sein Werk hatte er abgeschlossen, Johann Georg Ebeling, Nachfolger des 1662 verstorbenen Crüger, hatte 1667 die Lieder Gerhardts in einer Gesamtausgabe von 120 Liedern herausgebracht. 1676 verstarb Gerhardt und wurde im Altarraum der Kirche, die seit 1931 seinen Namen trägt, begraben. Grober hat die äußeren Lebensumstände genau beschrieben, aber mit Ausnahme von „O Haupt voll Blut und Wunden“ erfährt man wenig von Gerhardts in einem einfachen, volkstümlichen Ton gehaltenen Liedwerk. Barock an seinen Gedichten sind der Bilderreichtum, die Reihung von Eindrücken und die Freude an lautmalerischer Ausdrucksweise. Gerhardt kann mit einer verinnerlichten Frömmigkeit, ohne jede Mystik, die Wunder der Natur genießen, sie hat etwas Reales und ist nicht eitler Schein.
Anders verfährt Klaus Völker in seiner Darstellung des Lyrikers und Erzählers Johannes Bobrowski in Friedrichshagen. Seit 1938 lebten die Eltern des Dichters hier. Als Bobrowski aus der russischen Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, wohnte er erst in der Bölschestraße, dann in der Ahornallee, ein Refugium, das er nur auf Reisen verließ. Er sang im Kirchenchor, spielte zu Hause am Clavichord, hatte einen Kreis mit Stephan Hermlin und Peter Huchel. „Die Struktur seiner Prosa erwuchs aus dem Klang der von ihm gelebten Musik“, schreibt Völker. Wir erfahren, wie Bobrowski neben der Arbeit als Verlagslektor dichtete.
Mit 44 Jahren hatte Bobrowski ein spätes Debüt. Er brauchte den sich bald einstellenden Ruhm (1962 verlieh ihm die Gruppe 47 ihren Preis), dann wiederum suchte er allem „Geschwätz“ und dem Trubel zu entsagen. Völker macht den Unterschied zwischen Lyrik und Prosa deutlich und nennt auch den neuralgischen Punkt, an dem Bobrowskis Prosa liegt, in einem Dreieck, das von Robert Walser, Isaak Babel und Hermann Sudermann gebildet wird. Er schließt mit einem Ingeborg-Bachmann-Wort, das die Dichterin ihm nach dem Begräbnis Bobrowskis in dessen Arbeitszimmer zu bedenken gab: „Wenn Gedichte ein Beweis zu nichts sein sollten, müssten wir uns dran halten, dass sie das Gedächtnis schärfen“.
Mit der „Ode an Zeesen“ dankte der lungenkranke Dichter Klabund dem Berliner Bankier Goldschmidt für einen Erholungsurlaub, den er 1926 mit seiner Frau, der Schauspielerin Carola Neher, in dessen gerade erworbenen Gutshaus in Zeesen verbringen durfte. Über diesen Aufenthalt in Zeesen hätte man gern mehr erfahren, aber Klaus Völker geht es eigentlich in seinem Text vornehmlich darum, den Übergang zu dem neuen Schlossherrn Gustaf Gründgens herzustellen, der 1934 den Besitz vom Sohn des inzwischen verstorbenen Bankiers erwarb. Verkaufte Goldschmidt freiwillig und erhielt er auch einen angemessenen Preis? Denn dass der mit dem Kauf betraute Rechtsanwalt auch Gründgens Dienstherrn, den Ministerpräsident Göring, ins Spiel brachte, davon wollte Gründgens, wie er 1946 zu Protokoll gab, nichts gewusst haben. Die Heirat mit Marianne Hoppe erfolgte „aus politisch-gesellschaftlichen Gründen“. Fontanes „Effi Briest“ wurde mit Hoppe teilweise auch in Zeesen gedreht. Auch nach Kriegsausbruch blieb das Landgut ein „Idyll“, eine Erholung und auch „Fluchtburg“ für den damaligen Generalintendanten des Staatstheaters am Gendarmenmarkt. Weil Göring über Gründgens und sein Landgut die schützende Hand hielt, konnten in Not geratene Freunde hier zeitweilig untertauchen.
Nach Kriegsende wurde Gründgens von den Russen interniert. Bei seinem Entnazifizierungsverfahren kam dann der „günstige“ Kauf des Gutes zur Sprache, die Russen beschlagnahmten den Landsitz. Gründgens verließ 1947 Berlin, wo er am Deutschen Theater gespielt und inszeniert hatte, und wurde Intendant am Düsseldorfer Schauspielhaus. Im Zeesener Landgut richtete das DDR-Außenministerium ein Erholungsheim für Diplomatenkinder ein. Nach der Wende wurde der Besitz „Villa Kunterbunt“ – junge Leute aus der alternativen Szene richteten sich hier ein. Das Anwesen ist dann den Erben des Bankiers Goldschmidt zugesprochen worden.
Johannes R. Bechers ursprüngliche Pläne, nach der Rückkehr aus der sowjetischen Emigration ein Häuschen am Bodensee zu erwerben, hatten sich zerschlagen. 1948 fand er in Bad Saarow, 70 km östlich von Berlin gelegen, ein Haus nach seinen Vorstellungen, direkt am Scharmützelsee gelegen, das er mietete. Hier fand er, 1954 Minister für Kultur in der DDR geworden, bis zu seinem Tode 1958 Ruhepunkt und Zufluchtsort für das oft vernachlässigte literarische Schaffen, schreibt Rolf Harder. Es war ein Sommerhaus von bescheidener Größe, aber Becher hatte hier Gelegenheit zum Schwimmen, später auch zum Segeln und zur Jagd. 1950 begann er ein Tagebuch zu schreiben, in dem er sich mit Bad Saarow auseinandersetzte. Wir können hier wahre Lobeshymnen auf sein „Traumgehäuse“ lesen. Bechers Naturverbundenheit fand in der Saarower Landschaft Erfüllung. Im Gedicht-Zyklus „Das Atelier“ steht Saarow gleichberechtigt neben seinem Heimatort München-Schwabing und seinen späteren Domizilen Berlin-Hansaviertel und Moskau-Lawruschinski Perenlok. Das Zeitgedicht „Saarow“ besingt den Ort Saarow, geht aber auch auf dessen Geschichte und frühere Einwohner ein. Als Becher erfuhr, dass Maxim Gorki sich zeitweilig in Saarow aufgehalten hatte (1922 bis 1923), wollte er das Zeitgedicht überarbeiten, aber es blieb beim Vorsatz. Bechers Witwe, Lilly Becher, kaufte dann das Haus in Saarow, um dort eine Gedenkstätte einzurichten. Diese kam 1981, zum 90. Geburtstag des Dichters, dann auch wirklich zustande (ein Erweiterungsbau wurde 1983 noch hinzugefügt), musste aber 1991 geschlossen werden. Die Gemeinde verkaufte die Immobilie.
1950 war der in der Weimarer Republik berühmt gewordene Fotomonteur John Heartfield mit seiner Lebensgefährtin Gertrud Fietz aus dem englischen Exil nach Ostdeutschland zurückgekehrt. Wie viele andere West-Emigranten geriet er in den Strudel aus Verdächtigungen, Verleumdungen und Unterstellungen, die zu einem Herzinfarkt führten, der ihn monatelang zu einem Aufenthalt in der Charité zwang. Erst dann konnte seine Arbeit an Plakaten, Montagen und Bühnenprojekten für das Berliner Theater beginnen. Es war Brecht, so der Autor Michael Krejsa, der dem inzwischen von einem zweiten Herzinfarkt betroffenen Freund anbot, für ihn ein Sommerdomizil in der Märkischen Schweiz zu finden („hier käme man auch zu einigen Gesprächen am Kamin. Herzlich Dein brecht“). Die Wahl des Ehepaares Heartfield fiel auf Waldsieversdorf, unweit des Brechtschen Sommersitzes in Buckow; der Bau eines Sommerhauses wurde ihm zugesichert. Diese Hütte verkörperte für die beiden Brüder John Heartfield und Wieland Herzfelde, so der letztere, eine „märchenhafte Aura der Einsamkeit“ wie in der Waldhütte bei Salzburg, in der die Eltern seinerzeit die vier Geschwister Herzfeld zurückgelassen hatten. Der Holzplattenbau mit Glaswollisolierung bekam ein Dach nach alpenländischem Vorbild und eine neue äußere Halbholzverkleidung, die zum Gesamteindruck eines Blockhauses beitrug. Später kam noch eine Veranda mit begehbarem Flachdach hinzu, von der man noch heute einen Blick auf den Großen Däbersee und die Umgebung hat. Das Wohnzimmer erhielt eine abgestimmte Farbgestaltung, hier hingen Reproduktionen expressionistischer Kunstwerke, Andenken von seinen Reisen waren aufgestellt. Das Haus wurde zu einem Refugium für die letzten Lebensjahre Heartfields. 1968 an den Folgen einer schweren Virusgrippe verstorben, nutzte Gertrud Heartfield das Sommerhaus noch bis zu ihrem Tod 1983, dann diente es als Ferienobjekt der Ostberliner Akademie der Künste. 2008 erwarb die Gemeinde das Grundstück, der Wohn- und Arbeitsraum im Sommerhaus wurde rekonstruiert und mit den alten Einrichtungsgegenständen ausgestattet. Seit 2010 finden hier in den Sommermonaten Veranstaltungen, Ausstellungen und Lesungen statt.
1793 konnte Friedrich August von Kleist die Rittergüter Falkenhagen und Worin auf einer öffentlichen Versteigerung erwerben. Hier war er trotz der Belastungen durch die Landwirtschaft weiterhin literarisch tätig. Das Gedicht „Zamori oder die Philosophie der Liebe in zehn Gesängen“ erschien, für das Chodowiecki eine zeichnerische Vorlage geliefert hatte, die dann in Kupfer gestochen wurde. Seiner Frau Alberte hat er viele Gedichte gewidmet, so neben „Zamori“ auch „Das Glück der Liebe“. Er stand weiterhin mit Gleim in Halberstadt in brieflicher Verbindung, war Mitglied der „Königlichen Sozietät der Wissenschaften“ in Frankfurt, der er schon 1792 seine Biographie des bei Friedrich II. in Ungnade gefallenen Außenministers Friedrich Ewald von Hertzberg vorstellte. Als Geheimer Legationsrat war Kleist 1791 selbst in diesem Ministerium tätig gewesen. Hertzberg hatte Kleist beim Ausscheiden aus dem Staatsdienst geraten: „Sie tun sehr recht, das Landleben ist für einen Edelmann die freieste und wohlanständigste Lebensart“. Aber Kleist war als Landwirt nicht erfolgreich, wegen finanzieller Schwierigkeiten musste er das Rittergut Falkenhagen verkaufen und auch der Erwerbung des Gutes Ringenwalde (heute Dyszno) 1796 konnte er sich nicht lange erfreuen. Er starb bereits ein Jahr später und konnte die Veröffentlichung seiner „Vermischten Schriften“ 1797 nicht mehr erleben. Die biografischen und topografischen Fakten sind von Hans-Jürgen Rehfeld sehr schön zusammengetragen worden, was aber fehlt, ist die Würdigung des literarischen Werkes, das ja erst diesem Heft die Legitimation gibt.
Man erfährt in diesen literarischen Miniaturen nicht das, was schon in den Kunst- und Literaturgeschichten steht, sondern das Persönliche, Private, Widersprüchliche, Schein und Sein, menschliche Größe und geheime Schwächen, eben die andere, die inoffizielle Seite einer Künstler- und Dichterexistenz. Zusammengenommen bieten die Frankfurter Buntbücher eine einzigartige Erfahrung, wie die lokalen Ereignisse, die landschaftlichen Besonderheiten und das Wirken der einzelnen Künstler und Dichter das besondere kulturhistorische Profil der Region Brandenburg geformt haben. Vor Jahren ist der Begriff „Kulturland Brandenburg“ geprägt worden. Hier wird er sinn- und augenfällig dokumentiert.
|
||||||||||||