Die Reise in die Gegenwart

Über Lisa Kreißlers facettenreichen Debütroman „Blitzbirke“

Von Christopher HeilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christopher Heil

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer bei dem Titel „Blitzbirke“, dem 1.000 Einwohner großen Handlungsort Odinsgrund, der Ich-Erzählerin Edda, ihrer Schwester Skadi mit ihrem Mann Leif sowie Snorri – hier allerdings kein altisländischer Dichter, sondern ein Äffchen – eine nordische Götter- oder Heldensage erwartet, dürfte von Lisa Kreißlers Debütroman enttäuscht werden. Entmutigen vom Lesen sollte man sich allerdings nicht, denn lesenswert ist „Blitzbirke“ in jedem Fall.

Ausgangspunkt des Textes ist die Reise der fast 30-jährigen Edda mit ihrem Freund Hans, einem schweigsamen Maler, von Leipzig nach Odinsgrund, Eddas Heimatort. Trotz des anstehenden 30-jährigen Hochzeitstages von Eddas Eltern ist hier keineswegs alles heile Welt und Sonnenschein. Ohne dass „Blitzbirke“ ein Krankheitsroman wäre, schwingen immer wieder Krankheiten sowie Gefühle der Bedrückung aus Vergangenheit und Gegenwart mit: Die Großmutter leidet an Schmerzen, die Mutter Emma hat eine Krebserkrankung hinter sich und leidet an der Traurigkeit, Oskar, der Vater, stürzte vom Pferd und wird von einigen gebrochenen Rippen geplagt, und Skadi, Eddas drei Jahre jüngere Schwester „von skandinavischer Schönheit“, hat sich früher geritzt, bis ihr Mann Leif ihr Leben veränderte. Zu guter Letzt erklärt Hans auch noch in einem kleinen kunstgeschichtlichen Exkurs, dass die Ernte, die auch in Odinsgrund bevorsteht, bei den Bildern Vincent van Goghs für den Tod steht.

Die Vorzeichen könnten also durchaus besser sein. Und Edda? Sie leidet an der Vergangenheit, von der sie sich nicht lösen kann, um im Jetzt zu leben und den Moment auszukosten. Hierin liegt auch das Konfliktpotenzial zu ihrem Freund Hans: „Du beschäftigst dich lieber mit der Vergangenheit, du bist gar nicht richtig anwesend, weil du ständig in den alten Geschichten rumwühlst. Da verpasst man alles“, wirft er Edda vor.

Schon ist man beim Kern von „Blitzbirke“ angelangt: Das Loslassen der Vergangenheit und das Leben im Augenblick sind jedoch leichter gesagt als getan, schweben doch permanent die Sorgen um die eigene Familie mit. Eddas Großmutter denkt auch weiterhin, dass der Wegzug der Enkelin bloß ein vorübergehendes Intermezzo ist. Aber Eddas Lebensbaum – die Blitzbirke, die Oskar zu ihrer Geburt pflanzte und die „sich sogar vom Einschlag eines gigantischen Blitzes wieder erholte“ – fiel dem Pragmatismus der Eltern gegen den Blütenstaub im eigenen Schlafzimmer zum Opfer. So rasch wie der Baum über das Haus der Eltern gewachsen ist, so rasch ist auch Edda dem beschaulichen Odinsgrund entwachsen. Mehr als ein Stumpf ist von der Blitzbirke nicht übrig geblieben, der bei Gartenpartys als Stehtisch benutzt wird. Die besten Voraussetzungen, rein symbolisch betrachtet, an einem anderen Ort Wurzeln zu schlagen, sind also gegeben. Welche Rolle spielt nun ihr Freund Hans dabei, dass Edda endlich in der Gegenwart ankommen kann? Darin besteht das große Thema des Romans, das mit teils skurrilen, teils magischen Elementen angereichert wird.

Trotz der guten erzählerischen Anlage und dem langsam angelegten Spannungsbogen, verliert sich „Blitzbirke“ leider an manchen Stellen in formalästhetischen Spielereien. Der Roman beginnt im Theatermodus: „Im Zug. HANS trägt eine Seemannskappe, raucht Pfeife. ICH schaue ihn an. Neben uns eine MUTTER mit ihrem Sohn, der als SEERÄUBER verkleidet ist. / SEERÄUBER zur MUTTER: Du sitzt neben einer Frau und ich sitze neben einem Mann; und dieser Zug ist mein Schiff. […]“

Sicher, Edda schreibt selbst Theaterstücke in Leipzig und ihre Mutter legt ihr nahe, doch lieber „mal wieder was Richtiges“ zu schreiben, zum Beispiel über Oskar. Ganz gleich, ob diese Einsprengsel nun als ein Stück im Roman und damit als Anschreiben und Losschreiben von der Vergangenheit zu lesen sind, eine besondere Akzentuierung im Sinne einer Illusion der Unmittelbarkeit oder ironische Brechungen durch die überzeichneten Dialoge darstellen, an einigen solcher szenischen Passagen nutzt sich das Besondere jedoch ab. Der Balanceakt zwischen wohl dosierter, funktional wirksamer Verwendung, was an manchen Stellen durchaus gut funktioniert, und betont gewolltem Effekt gelingt leider nicht immer.

Der Roman überzeugt hingegen dann, wenn er das Beziehungsgeflecht zwischen Edda und ihrer Familie nachzeichnet und an die Oberfläche des Textes holt. So werden die Sorgen und das Beziehungsgefüge nach und nach klarer deutlich. Besonders stark ist „Blitzbirke“, wenn kleine Momente festgehalten und Kunstwerke beschrieben werden: Eine Fotocollage von Eddas Mutter über den Reitunfall des Vaters, Hans’ Ausstellung in Leipzig, ein Bild über Eddas Bett, die Erklärung, warum Edda und Skadi ihren Vater nicht Papa, sondern Oskar nennen, oder die Beschreibungen von Hans’ Skizzen aus den vergangenen Tagen in Odinsgrund sind bildstark erzählt und entwickeln eine besondere Sogkraft. Siri Hustvedt – noch so ein nordischer Name – ist für solche Beschreibungen, wie etwa den Installationen in „Was ich liebte“ oder den scheinbar harmlosen Stickereien in „Der Sommer ohne Männer“, bekannt und stellt unter anderem darin immer wieder ihre große erzählerische Klasse unter Beweis. Kreißler knüpft gekonnt an solche Darstellungsformen an und findet dabei ihren ganz eigenen Ton.

Neben den erzählerischen Qualitäten Kreißlers besticht auch ein Mal mehr die Gestaltung des Buches, was zweifelsohne für alle Titel aus dem Mairisch Verlag gilt. „Blitzbirke“ erscheint am Indiebookday am 22. März 2014.

Titelbild

Lisa Kreißler: Blitzbirke. Roman.
Mairisch Verlag, Hamburg 2014.
185 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783938539309

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