Emotionale Intelligenz

Kritische Analyse eines populären Konstrukts

Von Hannelore WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Weber und Hans WestmeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans Westmeyer

Seit Mitte der 90er Jahre hat ein Begriff weit über die Psychologie als Wissenschaft hinaus Furore gemacht, den wir in diesem Beitrag in seiner Entstehung, seiner Begründung und seiner Verwertung im Rahmen eines sozial-konstruktivistischen Verständnisses von Wissenschaft einer kritischen Analyse unterziehen wollen: das Konzept der emotionalen Intelligenz. Die sozial-konstruktivistische Perspektive ist Mitte der 80er Jahre von Ken Gergen (1985) einer größeren Fachöffentlichkeit in der Psychologie vorgestellt worden. Hier seien lediglich die zentralen Annahmen dieser Perspektive noch einmal rekapituliert, ohne daß wir an dieser Stelle näher darauf eingehen wollen (s. Tab. 1).

Tab. 1: Annahmen, die von den meisten Konstruktivisten geteilt werden (aus Beall, 1993, S. 128 f.)

1.

Es gibt viele verschiedene Weisen, die Welt zu verstehen. Unser Verständnis der Welt spiegelt nicht eine absolute Realität wider, die von allen Menschen in gleicher Weise erfahren wird.

2.

Unser Verständnis der Welt ist ein soziales Produkt. Verständnis ist auf eine Gruppe aktiver, miteinander kooperierender Personen angewiesen, die bestimmen, was Realität konstituiert. Dieses Verständnis der Welt unterscheidet sich zu verschiedenen Zeitpunkten und in verschiedenen Kulturen.

3.

Ein Verständnis oder eine Konzeptualisierung der Welt mag sich nur deshalb besonderer Beliebtheit erfreuen oder lange Bestand haben, weil es/sie nützlich ist. Konzeptualisierungen haben nicht notwendigerweise deshalb lange Bestand oder erfreuen sich großer Beliebtheit, weil sie empirisch gültig sind.

4.

Formen des Verstehens der Welt stehen mit allen Arten sozialer Handlungen in Beziehung. Beschreibungen und Erklärungen der Welt wirken sich aus auf die Art und Weise, in der die Gesellschaft strukturiert ist und in der Menschen miteinander umgehen.

1. Entstehungszusammenhang

Niemand wird bestreiten, daß es zur Intelligenzforschung als dem Ausschnitt der Welt, um den es hier geht, viele verschiedene Zugangsweisen gibt und daß sich mit diesem Ausschnitt viele verschiedene Gruppen aktiver, miteinander kooperierender Personen beschäftigen, was zu einer ganzen Reihe durchaus unterschiedlicher Konzeptualisierungen dieses Ausschnitts der Welt geführt hat.

Wie entstehen solche Konzeptualisierungen? In der Regel dadurch, daß eine Person oder eine kleine Gruppe von Personen einen neuen Begriff konstruiert und dieses Konstrukt dann in der Fachöffentlichkeit propagiert. Bei geschickter Propaganda und überzeugender Rhetorik werden sich weitere Mitglieder der scientific community von der Fruchtbarkeit des neuen Begriffs überzeugen lassen. Hat die Gruppe der Proponenten nach Anzahl und Status eine kritische Masse erreicht, ist aus dem zunächst persönlichen Konstrukt ein wissenschaftliches geworden, das in einer scientific subcommunity festen Rückhalt besitzt und durch Kritik aus anderen Teilen der scientific community in seiner Existenz nicht mehr so leicht gefährdet werden kann. Eine auf diese Weise erfolgende Bildung und Durchsetzung neuer Begriffe wird begünstigt durch ein Umfeld, in dem begriffliche Uneinigkeit die Regel und ein Konsens in zentralen Fragen die Ausnahme sind.

Am Begriff der emotionalen Intelligenz läßt sich dieser Verlauf in geradezu idealer Weise verdeutlichen. Der Begriff kann zunächst als persönliche Konstruktion der Psychologen Peter Salovey und John D. Mayer verstanden werden. Im Jahre 1990 stellten sie ihre Konstruktion der Fachöffentlichkeit in einer Arbeit mit dem Titel "Emotional Intelligence" vor, die in der nicht eben zur Standardliteratur gehörenden Zeitschrift "Imagination, Cognition, and Personality" veröffentlicht wurde. Sie definierten ihren neuen Begriff wie folgt: "Emotional intelligence is a subset of social intelligence that involves the ability to monitor one's own and other's emotions, to discriminate among them, and to use this information to guide one's own thinking and actions" (Salovey & Mayer, 1990, p. 189). Es folgte eine Reihe weiterer Arbeiten (Mayer, DiPaolo & Salovey, 1990; Mayer & Salovey, 1993, 1995), es gab vereinzelt Kritik von anderer Seite (Wegner, 1990), aber insgesamt war die Resonanz in der Fachöffentlichkeit verhalten. Im 1995 erschienenen "International Handbook of Personality and Intelligence" (Saklofske & Zeidner, 1995) z.B. findet sich nur ein einziger kurzer Verweis auf die 1990er Arbeit in einem Beitrag von Endler und Summerfeldt (1995, p. 252). Offenbar waren Propaganda und Marketing für das neue Konzept nicht so überzeugend ausgefallen, daß eine weitergehende Verbreitung erfolgt wäre.

Das sollte sich noch im selben Jahr schlagartig ändern. 1995 erschien unter dem Titel "Emotional Intelligence" ein eher populärwissenschaftliches Buch von Daniel Goleman, einem Wissenschaftsjournalisten, das zu einem Weltbestseller wurde und auch bei uns den Begriff der emotionalen Intelligenz weit über die Fachöffentlichkeit hinaus bekannt machte - aber das gehört schon zum Verwertungszusammenhang des Konstrukts.

Zurück zur Einführung des Konzepts durch Salovey und Mayer und zum Umfeld, in dem diese Einführung erfolgte. Begünstigt, vielleicht auch ermutigt wurde diese Konzeptualisierung durch eine sog. Theorie multipler Intelligenzen, mit der Howard Gardner 1983 die Fachöffentlichkeit erschreckte und in der der Begriff der Intelligenz die weitestgehende Ausdehnung in seiner Geschichte erfuhr. Diese angebliche Theorie, die in der Psychologie noch immer mit großer Skepsis betrachtet wird, aber in der Pädagogik und vor allem in der interessierten Öffentlichkeit auf große Resonanz gestoßen ist (vgl. Gardner, 1993, p. xii f.), geht von wenigstens sieben Intelligenzen aus (Gardner, 1983):

* Musical intelligence

* Bodily-kinesthetic intelligence

* Logical-mathematical intelligence

* Linguistic intelligence

* Spatial intelligence

* Interpersonal intelligence

* Intrapersonal intelligence

Andere Intelligenzbegriffe, die eine wesentlich längere Tradition in der Psychologie haben, erlebten im selben Zeitraum eine Renaissance in der Psychologie (vgl. Sternberg, 1997), so z.B. die Konzepte der praktischen Intelligenz (Sternberg, 1985; Sternberg & Wagner, 1986) und der sozialen Intelligenz (Cantor & Kihlstrom, 1987; Sternberg & Smith, 1985). Was lag deshalb näher und was sprach eigentlich dagegen, in dieser Situation begrifflicher Verwahrlosung als weiteres Konzept das der emotionalen Intelligenz ins Feld zu führen und für seine Durchsetzung zu kämpfen, zumal das Thema "Emotion" in der Psychologie insgesamt an Bedeutung gewonnen hatte und dadurch eine gewisse Aufnahmebereitschaft für das neue Konstrukt vorausgesetzt werden konnte?

Eigentlich gar nichts, wenn es denn gelänge, das neue Konzept überzeugend zu begründen und seine Einführung zu rechtfertigen, womit wir beim Begründungszusammenhang wären.

2. Begründungszusammenhang

Fragen wir uns deshalb, welche Argumente wir im Begründungszusammenhang für akzeptabel halten würden. Zunächst einmal ganz sicher solche, in denen auf die Entdeckung oder Erfindung neuer Sachverhalte, Tatbestände oder Phänomene hingewiesen wird, die uns vorher unbekannt waren und die nun erstmals begrifflich gefaßt werden müssen. Argumente dieser Art sind von Salovey und Mayer (1990) nicht vorgetragen worden, und es ist auch nicht bekannt geworden, daß beide im Zuge der weiteren Beschäftigung mit dem Konzept der emotionalen Intelligenz derartige Entdeckungen oder Erfindungen gemacht haben.

Für akzeptabel würden wir vielleicht auch Argumente halten, in denen auf neue Erfassungsmethoden verwiesen wird, die sich von bisherigen Verfahren bedeutsam unterscheiden, innovativ und fruchtbar für die weitere Forschung zu sein scheinen und einen neuen Begriff tragen können. Auch derartige Verfahren sind bisher nicht bekannt geworden. Ganz im Gegenteil fehlen bisher allgemein akzeptierte Methoden zur Erfassung der emotionalen Intelligenz. Mayer et al. (1990) haben z.B. die Wahrnehmung des affektiven Gehalts mehrdeutiger visueller Reize zur Erfassung einer Komponente der emotionalen Intelligenz herangezogen. Andere (z.B. Goleman, 1995) haben experimentelle Anordnungen, wie sie Walter Mischel zur Untersuchung des Belohnungsaufschubs verwendet hat (s. z.B. Mischel, Shoda & Peake, 1988; Shoda, Mischel & Peake, 1990), als geeignet für die Erfassung emotionaler Intelligenz deklariert, ohne dabei allerdings zu erwähnen, daß die in diesen Anordnungen zu beobachtenden Phänomene bereits innerhalb der CAPS-Theorie (Cognitive-Affective System Theory of Personality) von Mischel, die ohne den Begriff der emotionalen Intelligenz auskommt, erklärt werden können.

Salovey, Mayer, Goldman, Turvey und Palfai (1995) haben in jüngster Zeit eine Trait Meta-Mood Scale, also einen Fragebogen, zur Untersuchung emotionaler Intelligenz vorgeschlagen, die aus 48 Items besteht, die sich auf drei Faktoren gruppieren (s. Tab. 2).

Tab. 2: Faktoren und einige exemplarische Items der Trait Meta-Mood Scale (aus Salovey et al., 1995)

Factor 1:

Attention to feelings

-

I don't pay much attention to my feelings.

-

One should never be guided by emotions.

-

Feelings give direction to life.

Factor 2:

Clarity of feelings

-

I am rarely confused about how I feel.

-

My belief and opinions always seem to change when I'm sad.

-

I can't make sense out of my feelings.

Factor 3:

Mood repair

-

Although I am sometimes sad, I have a mostly optimistic outlook.

-

I try to think good thoughts no matter how badly I feel.

-

When I am upset I realize that the "good things in life" are illusions.

Hier stellt sich allerdings sofort die Frage: Wenn es sich bei der emotionalen Intelligenz um eine mental ability handeln soll, wie kann es dann möglich sein, eine solche Fähigkeit mit Hilfe von Q-Daten (Fragebogen-Daten) zu erfassen? Spätestens seit Cattell wissen wir doch, daß Q-Daten für die Erfassung von abilities denkbar ungeeignet sind (z.B. Cattell, 1986, S. 22). Wenn die Erfinder des Konstrukts der emotionalen Intelligenz dennoch ein Verfahren aus dieser Klasse vorschlagen, wie ernst ist dann ihre Behauptung zu nehmen, daß es sich um eine mental ability handelt und daß die Inanspruchnahme des Intelligenzbegriffs in diesem Fall berechtigt ist?

Eines dürfte deutlich geworden sein: die Einführung und Verbreitung des Konzepts der emotionalen Intelligenz ist gänzlich unabhängig von der Entwicklung entsprechender Meßverfahren erfolgt und kann deshalb auf diesem Wege keine Rechtfertigung erfahren. Selbst in neueren Veröffentlichungen zum Thema (z.B. Mayer & Geher, 1996) fehlt es noch immer an methodischen Innovationen.

Was bleiben dann noch für Argumente im Begründungszusammenhang übrig? Z.B. dieses: Neue Begriffe sind auch dann gerechtfertigt, wenn sie eine differenziertere Bezeichnung bestimmter Sachverhalte erlauben als bisherige Begrifflichkeiten. Aber ist dies tatsächlich der Fall beim Begriff der emotionalen Intelligenz?

Einmal stand 1990 der Begriff der sozialen Intelligenz bereits zur Verfügung. Warum dann noch ein neuer Begriff? Mayer und Salovey (1993) beantworten diese Frage in einem Artikel mit dem denkwürdigen Titel "The intelligence of emotional intelligence" so: Emotionale Intelligenz könnte eine bessere diskriminante Validität im Hinblick auf allgemeine Intelligenz besitzen als soziale Intelligenz (S. 435). Wer nun erwartet, daß die Autoren für diese These irgendwelche empirischen Belege beibringen, wird enttäuscht. Es bleibt bei der reinen Behauptung - im übrigen nicht überraschend nach dem, was wir zur Erfassung des Konstrukts gehört haben.

Abgesehen vom Konzept der sozialen Intelligenz standen mit der Theorie Howard Gardners (1983) auch die Konzepte der intra- und interpersonalen Intelligenz zur Verfügung. Mayer und Salovey (1993) in ihrem zuletzt erwähnten Artikel weisen selbst auf Überlappungen ihres Konzepts mit dem Begriff der intrapersonalen Intelligenz hin, ohne aber auch nur ein Wort darüber zu verlieren, warum sie sich trotzdem zur Einführung eines neuen Begriffs genötigt oder berechtigt sahen, statt im weiteren mit den Konzepten von Gardner zu arbeiten (vgl. auch Mayer & Geher, 1996, S. 90).

Nein, auch diese Argumente führen hier nicht weiter. Es gibt, das ist das Resümee, keine überzeugende Begründung im Sinne auch nur einer der hier diskutierten Argumentationsfiguren für die Einführung und Verbreitung des Begriffs der emotionalen Intelligenz. Für den Umstand, daß dieses Konzept sich trotzdem in der Psychologie gehalten hat und weit darüber hinaus in alle möglichen außerwissenschaftlichen Kontexte vorgestoßen ist, müssen wir die Erklärung woanders suchen.

Die negative Bilanz, mit der wir im Begründungszusammenhang abschließen müssen, belegt ein weiteres Mal eindrucksvoll die sozial-konstruktivistische These von der begrenzten Bedeutung empirischer Gültigkeit im weitesten Sinne für die Einführung und Verbreitung neuer Konzepte und Theorien (vgl. Gergen, 1985). Größere Bedeutung ist demgegenüber dem Aspekt der Nützlichkeit beizumessen, und um ihn soll es nun im Verwertungszusammenhang gehen.

3. Verwertungszusammenhang

Wie wir schon bei der Behandlung des Entstehungszusammenhangs erwähnt haben, ist die populäre Verbreitung des Konstrukts der emotionalen Intelligenz das Verdienst von Daniel Goleman, Psychologie-Absolvent, ehemaliger Herausgeber von "Psychology Today" und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Buches "Emotional Intelligence", 1995, verantwortlicher Redakteur für Psychologie und Neurowissenschaften bei der "New York Times".

Der Erfolg seines Buches ist vor allem darauf zurückzuführen, daß Goleman, weitaus mehr als es Salovey und Mayer getan haben, die emotionale Intelligenz mit persönlicher und gesellschaftlicher Nützlichkeit versieht. Die entscheidende Wende von einem bis dahin blassen Konstrukt hin zu einer griffigen Erfolgsformel wird vollzogen, indem Goleman aus der Intelligenz eine Tugend macht. Dazu greift er aus den Komponenten, die Salovey und Mayer (1990, S. 190) der emotionalen Intelligenz zugeschrieben haben, zwei heraus und stellt sie in den Mittelpunkt, nämlich Emotionsregulation und Empathie. Bei der Emotionsregulation hebt er vor allem Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin und Stimmungsaufhellung hervor.

Diese Herzstücke der emotionalen Intelligenz werden angereichert mit Fertigkeiten zur konstruktiven Lösung sozialer Konflikte. Zusammen ergibt sich daraus der selbstbeherrschte, heiter-gelassene Mensch, der, anderen prinzipiell wohlwollend zugeneigt und um ein friedvoll-konstruktives Miteinander bemüht, vor allem ein "guter" Mensch ist.

Aus der emotionalen Intelligenz wird bei Goleman das moralisch gebotene Verhalten, eine Tugendlehre. Inbegriff der Tugendhaftigkeit ist die Versöhnung zwischen individueller und sozialer Bedürfnisbefriedigung, die Orientierung an dem "rechten Maß", der Ausgleich zwischen divergierenden Interessen. Indem er die Sozialverträglichkeit von Verhalten als entscheidendes Kriterium für die Angemessenheit oder Intelligenz von Verhalten setzt, grenzt Goleman den Begriff der emotionalen Intelligenz auch von jenen Ansätzen zur sozialen Intelligenz ab, die darunter vor allem die Optimierung persönlicher Zielerreichung verstehen. Mit der Betonung der Sozialdienlichkeit schließt Goleman explizit an die in den USA populäre Forderung nach einer stärkeren Beachtung des Gemeinwohls und einer Abkehr vom Egoismus an, wie sie mit dem Schlagwort "Kommunitarismus" belegt ist (vgl. Etzioni, 1993).

Die Attraktivität des neuen Konstruktes liegt, das ist zu vermuten, vor allem in drei Punkten, und in allen drei Punkten setzt sich die emotionale Intelligenz von der als Konkurrentin mitgedachten kognitiven Intelligenz als Siegerin ab:

(1) Emotional intelligentes Verhalten - Selbstbeherrschung, Mitgefühl und ein konstruktiver Umgang mit sozialen Konflikten - ist im Prinzip von jedem erlernbar, vor allem in Kindheit und Jugend als "Fenster der Gelegenheit" (Goleman, 1997, S. 14); jeder kann emotional intelligent sein bzw. handeln. Kognitive Intelligenz gilt dagegen als weitgehend angeboren, als ein Produkt der "genetischen Lotterie" (S. 12). Erlernbares Verhalten ist dabei - so Goleman - prinzipiell höherwertig, da es ethischen Prinzipien unterworfen und so gestaltet werden kann, daß es die Welt verbessert.

(2) Emotional intelligentes Verhalten ist das "gute", tugendhafte Verhalten bzw. umgekehrt: das tugendhafte Verhalten ist das intelligente Verhalten. Wer gut ist, ist intelligent. Tugend wird überhöht als Intelligenz bzw. Intelligenz wird überhöht als Tugend. Die Sozialdienlichkeit der kognitiven Intelligenz ist dagegen offen, da die kognitive Intelligenz offiziell keiner moralischen Bewertung unterzogen wird.

(3) Mit der Konstruktion einer emotionalen Intelligenz wird die verbreitete Konstruktion eines Gegensatzes zwischen "Herz/Gefühl/Leidenschaft" und "Verstand/Vernunft/Intelligenz" scheinbar aufgehoben. Emotionen behindern den Verstand nicht, sie sind adaptive und daher "vernünftige" Reaktionsmuster, und sie motivieren zu angemessenem Verhalten. Tatsächlich bleibt jedoch auch im Falle der emotionalen Intelligenz der Verstand in Form der Kontrolle die entscheidende Instanz, der emotional intelligente Mensch ist der emotionskontrollierte und daher rationale Mensch.

Goleman macht aus der emotionalen Intelligenz ein attraktives Angebot für alle, er lädt ein zur Tugend und belohnt tugendhaftes Verhalten, indem er es intelligent nennt: Es ist möglich - so Goleman -, zugleich Gefühlen zu folgen, selbstbeherrscht, ausgeglichen, fürsorglich, gut und damit intelligent zu sein. Dagegen steht das Konstrukt der kognitiven Intelligenz, das Goleman zwar fairerweise nicht abwertet, das aber implizit als Gegenkonstrukt erscheint: nur wenige sind auserwählt, und bei denen ist es mehr als fraglich, ob sie ihre Fähigkeiten auch zu guten Zwecken einsetzen.

4. Schlußbemerkung

In der Psychologie wird gern alles in Frage gestellt und dies oft mit der Frage "Wozu brauchen wir eigentlich ...?". Die Verwertung des Konstruktes der emotionalen Intelligenz macht deutlich, daß die Frage "Wozu brauchen wir ...?" von der naiven Vorstellung natürlicher Bedürfnisse ausgeht, die es zu identifizieren und mit einem theoretischen und empirischen Angebot zu befriedigen gilt. Emotionale Intelligenz ist sicherlich nicht die Antwort auf ein natürliches Bedürfnis nach einem solchen Konstrukt, wie auch die zwölfte Variante eines Früchtejoghurts nicht produziert wird, um ein natürliches Bedürfnis danach zu stillen. Früchtejoghurt und emotionale Intelligenz wurden geschaffen, um sich ihre Märkte zu erobern, um Bedürfnisse zu wecken. In der Medienwirkungsforschung ist die "Agenda-setting-function" der Medien ein alter Hut (vgl. z.B. Ehlers, 1983; Roberts & Bachen, 1981). Die Einführung, Verbreitung und Verwertung des Begriffs der emotionalen Intelligenz ist ein Lehrstück für die "Agenda-setting-function" der Wissenschaft und natürlich für eine sozial-konstruktivistische Sichtweise der Psychologie.

Literatur

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[ 1 ] Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag auf der 4. Arbeitstagung der Fachgruppe Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Bamberg am 30. 10. 1997. Anschrift der Autoren: Prof. Dr. Hannelore Weber, Institut für Psychologie, Universität Greifswald, Franz-Mehring-Str. 47, 17487 Greifswald (weber@rz.uni-greifswald.de); Prof. Dr. Hans Westmeyer, Studiengang Psychologie, Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin (hawest@zedat.fu-berlin.de).