Nichts ungeheurer als der Mensch

Georg Brunold lädt in einem prächtigen, schwergewichtigen Buch zu einer Entdeckungsreise nach dem Menschlichen ein

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist der Mensch? Die Frage ist so alt wie die Menschheit selbst. Dennoch ist sie längst nicht ausreichend beantwortet. Der Journalist und Philosoph Georg Brunold hat einen Versuch unternommen, das Feld der Antworten abzustecken.

Dem Thema angemessen präsentiert sich sein Band „Nichts als der Mensch“ als ein opulentes Lesebuch. Es umfasst 800 Seiten im Großformat und bringt etliche Kilogramm auf die Waage. Darin hat der Herausgeber 300 Autoren mit „Beobachtungen und Spekulationen aus 2500 Jahren“ versammelt, die sich aus den unterschiedlichsten Perspektiven auf die Spur nach dem Rätsel Mensch machen.

Das Spektrum dessen, was der Mensch sei, hat Gottfried Benn einst in einer einzigen Gedichtzeile festgehalten: „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“. Brunold ergründet die Frage differenzierter, gelassener und dem Objekt der Untersuchung freundlicher gestimmt. Aus einer Vielfalt von Texten formt er ein schillerndes Bild unserer selbst. Gleich eingangs hält uns Sophokles den Spiegel vor: „Vielgestaltig ist das Ungeheuer, und nichts / ist ungeheurer als der Mensch“, schrieb er 441 v. Chr. in seiner „Antigone“.

Die sokratische Bescheidenheit, dass wir nichts wissen, auch nicht von uns selbst, sei „alles andere als trivial“, hält Brunold im Vorwort fest. Denn dieses Eingeständnis konkurriert mit „der robusten Gewissheit“, das menschliche Wesen sei zu entschlüsseln. Zumindest aktuelle Projekte wie das ENCODE-Projekt des amerikanischen National Human Genome Research Institute (NHGRI) oder Craig Venters Human Genome Project (HGP) verleiten zu solcher Hybris.

„Nichts als der Mensch“ führt seine Leser durch die Höhen der Selbsterkenntnis und die Untiefen der Verzweiflung darüber, was sich Menschen gegenseitig antun. Auf diesem Weg begegnen uns bekannte Geister: Machiavelli, Kant, Darwin, Freud, Foucault. Zu ihnen gesellen sich überraschende Namen: Ibn Arabi, Bram Stoker oder Bono von U2.

Es ist vor allem diese schillernde, wunderbare Unberechenbarkeit, die den Reiz von Brunolds Buch ausmacht. Auf Leon Bloys Auslegung bürgerlicher Gemeinplätze folgt Pawlows Erörterung über den „Speichelfluss und andere bedingte Reflexe“. Oscar Wildes „Die Seele des Menschen im Sozialismus“ mündet in Zolas Kritik am Lourdes-Wunder. Vertiefte Seinsfragen begegnen Überlegungen zur Flatulenz.

Dergestalt eröffnet Georg Brunold wie schon in seinem Band „Nichts als die Welt“ (2009) abermals einen weiten Reflexionsraum, dem nichts Menschliches fern ist. „Zeitreisen ist eine Überlebensnotwendigkeit“, schreibt er, denn nur so lässt sich die Vielfalt des Menschlichen erfahren wie auch dessen Gemeinsamkeiten über alle Epochen hinweg. „Nichts als der Mensch“ bietet sich als perfektes Vehikel für solche Reisen durch Gedanken und Ideen an.

Das letzte Wort erhält der polnische Philosoph Leszek Kolakowski mit einer Erörterung über das Glück. Sind wir nicht glücklich, wenn wir die Herrlichkeit und Schönheit des Universums erfahren? Nein, lautet die Antwort, denn „Glück ist etwas, das man sich vorstellen kann, aber auch etwas, das nicht erfahrbar ist“.

Brunolds Auswahl ist erschöpfend und in ihrer Vielfalt höchst anregend subjektiv. Jeder der Texte ist von ihm prägnant, präzise eingeleitet und kontextualisiert. Schwarzweiß-Fotografien von Daniel Schwartz illustrieren den Band. Im Grunde ist dem nichts beizufügen. Nur zwei Beobachtungen seien nicht verschwiegen. Zum einen ist die Zahl der zitierten Frauen etwas gar mager ausgefallen. Das ist insofern schade, weil beispielsweise um 1600 herum eine Marie Jars de Gournay oder eine Lukrezia Marinella („Der Adel und die Vorzüglichkeit der Frauen sowie die Fehler und Mängel der Männer“) einen Diskurs ums das Menschliche / Männliche führten, der argumentativ prägnant und außerordentlich gewitzt war.

Zum anderen ließe sich die Frage des Menschlichen genauer noch an der Schnittstelle zum künstlichen Leben (Artificial Life) beobachten. Donna Haraway formulierte schon 1985 ein radikal feministisches Manifest für Cyborgs. Ray Kurzweil fragte 1999 in seinem Buch „Homo s@piens“ danach, was vom Menschen im digitalen Zeitalter bleibe. Und der (so Die Zeit) „vielgehasste Roboterforscher“ Hans Moravec postulierte in jenen Jahren bereits die Überwindung des Menschengeschlechts in einer höhern Lebensform des Transhumanen.

Solche Anregungen mindern das verlockende Stimulans, das in Georg Brunolds Buch steckt, aber in keinster Weise.

Titelbild

Georg Brunold (Hg.): Nichts als der Mensch. Beobachtungen und Spekulationen aus 2500 Jahren.
Galiani Verlag, Köln 2013.
720 Seiten, 85,00 EUR.
ISBN-13: 9783869710747

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