Vom Ende des untragischen Mittelalters

Regina Toepfer erarbeitet ein narratologisches Konzept höfischer Tragik und räumt mit einem Vorurteil der germanistischen Mediävistik auf

Von Claudia AnsorgeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Ansorge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit galt die Literatur des Mittelalters in der Germanistik als weitgehend untragisch. Als hinreichender Beleg für diese Ansicht wurde einerseits die fehlende Produktion und Rezeption von Tragödien hervorgehoben. Andererseits existierten metaphysische Vorbehalte gegenüber der Vereinbarkeit von christlichem Mittelalter und Tragik, die seit dem 19. Jahrhundert die deutsche Tragödientheorie bestimmten.

Regina Toepfer hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, mit diesem Vorurteil aufzuräumen und wagt sich mit ihrer Monographie „Höfische Tragik“ auf unwegsames Gelände. Dass die germanistische Mediävistik mit ihrem Bild eines untragischen Mittelalters einen Sonderweg gewählt hat, zeigt sie unter anderem durch einen Vergleich mit der englischsprachigen Forschung. Diese spricht der mittelalterlichen Literatur auf der Grundlage antiker Theorien durchaus tragisches Potential zu – ganz unabhängig von Gattungskonventionen. Toepfer stellt außerdem heraus, dass unterschiedliche Definitionen sowie das unklare Verhältnis von Tragödie und Tragik in der germanistischen Mediävistik zu divergierenden Beurteilungen einzelner Werke beziehungsweise Figuren und Handlungen geführt haben. Diese Feststellung lässt die dem Mittelalter unterstellte Abneigung gegen das Tragische brüchig erscheinen und so resümiert Toepfer, nicht die mittelalterliche Dichtung, sondern die mediävistische Forschung scheue sich vor diesem Phänomen. Dass sie diesen alternativen Weg nicht allein beschreitet, machten zwei interdisziplinäre Tagungen zum Thema „Tragik vor der Moderne“ und „Tragik und Minne“ in den Jahren 2010 und 2012  deutlich, die Toepfer gemeinsam mit der Gräzistin Gyburg Uhlmann organisierte. Bereits hier zeigte sich, dass das Thema Potential für verschiedene literaturwissenschaftliche Disziplinen hat.

Regina Toepfer plädiert in ihrer Arbeit für ein poetologisches Verständnis des Tragischen. Sie will in erster Linie einen Lösungsansatz für die widersprüchlichen Forschungsmeinungen bereitstellen, der sich an mittelalterlichen Werken des 12. und 13. Jahrhunderts orientiert und der höfische Tragik als narratologisches Konzept erschließt. In den Blick geraten dabei Handlungen, die eine negative Entwicklung aufweisen, in denen also Glück in Unglück und Freude in Leid umschlägt. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, ob die Handlung in eine Katastrophe mündet oder ob der negative Verlauf nur Episode bleibt und die Erzählung zu guter Letzt ein Happy End hat. Zudem beschränkt sich Toepfer nicht auf Werke, deren Handlungen und Figuren verschiedentlich als „tragisch“ bezeichnet wurden, sondern geht auch auf solche ein, denen Tragik meist abgesprochen wurde oder die in diesem Kontext bisher nicht beachtet wurden.

Orientierung für die Erarbeitung eines eigenen Konzepts höfischer Tragik liefern ihr unterschiedliche philosophische Theorien. Die Tragödientheorie des Aristoteles etwa geht von einem Fehlverhalten des Helden aus, welches zu Leid führt; Seneca macht demgegenüber die Fixierung auf einen leidenschaftlichen Affekt für das Unglück verantwortlich. Der negative Handlungsverlauf erscheint in beiden Fällen selbstverschuldet und vermeidbar. Boethius liefert hingegen ein Modell des Tragischen, in welchem das Rad der Fortuna über Aufstieg und Fall des Menschen bestimmt. Bei Hegel schließlich steht der tragische Konflikt zweier sittlich berechtigter Mächte im Zentrum, der nur gelöst werden kann, indem eine der beiden scheitert. Beide, Boethius und Hegel, stellen die Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit des Leidens heraus. Toepfer unterscheidet zudem zwischen kausal (Aristoteles und Seneca) und final (Boethius und Hegel) motivierter tragischer Handlung.

Auf Grundlage der Analyse einzelner Werke, die knapp drei Viertel der Arbeit einnimmt, erarbeitet Toepfer ein eigenes Konzept höfischer Tragik, das sich auf die vier genannten Tragiktheorien bezieht. Drei zentrale Elemente tragischer Handlungen werden hierbei untersucht: Schuld, Konflikt und Minne. Toepfer untersucht diese Aspekte in den Werken zunächst mit Blick auf die Handlungsstruktur und -motivation. Danach arbeitet sie sich jeweils an den meist divergierenden Forschungsmeinungen ab und zeigt deren verwirrende Vielfalt auf, bevor sie schließlich ihr eigenes erzähltheoretisches Tragikkonzept vorstellt.

Im ersten Teil des Analysekapitels geht Toepfer der Frage nach, inwiefern tragische Schuld als narratologische Kategorie für die mittelhochdeutsche Literatur fruchtbar gemacht werden kann. Sie untersucht das Unglück der Protagonisten in Hartmanns von Aue „Erec“ und Wolframs von Eschenbach „Parzival“ sowie die Figur der Kriemhild im „Nibelungenlied“. All diese Figuren hätten gemeinsam, dass sie ihr Unglück durch Fehlverhalten selbst verursachen, indem sie sich einseitig auf bestimmte Aspekte fixieren beziehungsweise sich Affekten hingeben. Das Unglück ist dabei, wie in antiken Theorien, kausal motiviert und grundsätzlich vermeidbar. Besonders aufschlussreich erscheint Toepfers Vergleich mit zeitgenössischen theologischen Diskursen über Schuld und Verantwortlichkeit, die enge Parallelen zu diesem literarischen Phänomen aufweisen.

Der tragische Konflikt steht im Zentrum des zweiten Teils der Analyse. Sowohl Rüdiger im „Nibelungenlied“, Engelhard aus dem gleichnamigen Roman von Konrad von Würzburg als auch Giburg in Wolframs „Willehalm“ müssen Entscheidungen treffen, mit denen sie gegen Pflichten oder Normen verstoßen beziehungsweise aus denen notwendigerweise Leid erwächst. Da das Handeln der Figuren durch feste Wertehierarchien bestimmt ist, erscheint das Leid letztlich final motiviert. Auch hier erarbeitet sie Parallelen zum zeitgenössischen theologischen und ethischen Diskurs.

Im dritten Teil schließlich beschäftigt sich Toepfer mit dem Konzept der tragischen Liebe, welches sie als genuin literarisches Phänomen auffasst. Ursache für Leid und Tod ist hier die widersprüchliche Struktur der Minne, die einerseits Glück bringt, andererseits aber auch Schmerzen verursachen kann. Paradoxerweise sei das Leid, das aus der unerfüllten Liebe erwächst, nur durch eben diese vermeidbar. Dies muss Dido in Heinrich von Veldekes „Eneas“ ebenso erfahren wie die Protagonisten in Gottfrieds von Straßburg „Tristan“ oder auch Medea in Konrads „Trojanerkrieg“. Die Macht der Minne und die Unmöglichkeit, das Begehren zu erfüllen, führen in allen Fällen unvermeidlich ins Unglück. In der widersprüchlichen Struktur der Minne, so Toepfer, überlagern sich schließlich kausale und finale Motivierung.

Toepfers Konzept einer höfischen Tragik, so der Eindruck nach der Lektüre, ist mitnichten ein einheitliches Konzept. Schuld, Konflikt und Minne stellen jeweils unterschiedliche Anforderungen an Handlungsstruktur und -motivation und stehen somit nebeneinander – in einigen Fällen sogar in ein und demselben Werk. Bereits vorhandene Tragödientheorien werden dabei nicht einfach übernommen, sondern erfordern eine Anpassung an die erzähltheoretische Prämisse. Tragik lässt sich dadurch aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und kann so vielleicht auch zwischen zuvor divergierenden Forschungsmeinungen vermitteln. Man könnte allerdings auch gerade diese Theorienvielfalt bemängeln. Darüber hinaus handelt es sich hierbei schließlich um ein Angebot, bereits bekannte Texte und Motive der mittelhochdeutschen Literatur in einem neuen Licht zu sehen. Die Argumentation erscheint dabei nachvollziehbar und schlüssig. Grundkenntnisse verschiedener Tragödientheorien empfehlen sich für die Lektüre, obwohl Toepfer sowohl auf deren Entwicklungs- und Forschungsgeschichte als auch auf die von ihr verwendeten narratologischen Termini einführend eingeht.

Ein klarer Unterschied zwischen Tragik als narratologischem Analysewerkzeug und einem „mittelalterlichen Tragikverständnis“ wird an einigen Stellen nicht gemacht. So spricht Toepfer den verschiedenen Autoren bisweilen ein eigenes Konzept des Tragischen zu – eine Annahme, die vielleicht nicht überall auf Zustimmung treffen wird. Doch was soll hier eigentlich geleistet werden? Toepfer beantwortet diese Frage selbst: Es geht ihr nicht in erster Linie um die Rekonstruktion eines mittelalterlichen Verständnisses, sondern darum, Tragik für die Narratologie fruchtbar zu machen.

Regina Toepfer bezeichnet ihre Arbeit selbst als Experiment. Es ist wohl ein gelungenes, obgleich das Tragische noch weit mehr Potential für die germanistische Mediävistik bereitstellt. Das weiß auch die Autorin, die weitere Analysemöglichkeiten in Aussicht stellt: Sowohl die Einbeziehung weiterer Werke und Gattungen als auch die Untersuchung der Rezeptionswirkung stehen weitestgehend noch aus. Auf weitere Arbeiten aus diesem Feld kann man also gespannt sein.

Titelbild

Regina Toepfer: Höfische Tragik. Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen.
De Gruyter, Berlin 2013.
510 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110306972

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