Ist Shakespeares "Kaufmann von Venedig“ ein antisemitisches Stück? Aufsätze zur Shylock-Rezeption im deutschen Theater nach 1945
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIst William Shakespeares Komödie „Der Kaufmann von Venedig“ (1600) ein antisemitisches Stück? Oder genauer: Droht die Aufführung bzw. die Lektüre des Dramas Affekte im Publikum auszulösen, die antisemitische Einstellungen bestätigen oder hervorrufen könnten? Soll oder darf man den Theatertext nach der Shoah also überhaupt noch inszenieren? Manche namhafte Kritiker meinten, dass dies nicht mehr zu verantworten sei. „The Holocaust made and makes The Merchant of Venice unplayable“, urteilte der renommierte Literaturwissenschaftler Harold Bloom 1998 in einem Buch über Shakespeare. „I end by repeating that it would have been better for the last four centuries of the Jewish people had Shakespeare never written this play.“ Denn, so Bloom klipp und klar: „One would have to be blind, deaf, and dumb not to recognize that Shakespeare’s grand, equivocal comedy […] is nevertheless a profoundly anti-Semitic work.“
Tatsache ist, dass Shakespeares Stück über den ‚rachsüchtigen‘ jüdischen Geschäftsmann Shylock, der Antonio, dem „Kaufmann von Venedig“, vertragsgemäß ein Pfund Fleisch aus den Rippen schneiden möchte, als dieser unerwarteterweise seine Schulden nicht bezahlen kann, in Deutschland nach 1945 erstaunlich schnell wieder „einen festen Platz auf den Spielplänen erlangte“. Dies konstatieren die Herausgeber Zeno Ackermann und Sabine Schülting in der Einleitung ihres Sammelbands „Shylock nach dem Holocaust. Zur Geschichte einer deutschen Erinnerungsfigur“. Ihr Buch ging aus dem DFG-Forschungsprojekt „Shylock und der (neue) ‚deutsche Geist‘ – Shakespeares Der Kaufmann von Venedig nach 1945“ hervor und bietet ein Dutzend Beiträge zum Thema. Der Band erlaubt damit einen guten Überblick zur theatergeschichtlichen Entwicklung der neueren Shylock-Rezeption in Deutschland und skizziert die unterschiedlichen Ansätze aufsehenerregender oder auch umstrittener Inszenierungen der Nachkriegszeit.
Neben Elisabeth Bronfens Beitrag über Ernst Lubitschs US-Kriegskomödie „To Be or Not to Be“ (1942), die im zeitgenössischen Kontext des Holocaust vielfach auf Shakespeares Stück anspielt, vermittelt auch der emotionswissenschaftliche Beitrag des Berner Komparatisten Oliver Lubrich über die „gegenläufige Affektsteuerung“ des Shakespeare-Stücks dem Band ein interdisziplinäres Profil. Lubrich beantwortet eine der hier eingangs gestellten Fragen so: „Ist The Merchant of Venice ein judenfeindliches Drama? Oder handelt es sich um einen Musterfall jüdischen Leidens? Die Lösung liegt im Paradox: Shylock ist in der Tat ein Klischee; aber er ist dies als Effekt und als Demonstration. Er ist Teil einer Versuchsanordnung, in der diverse Figuren mit ihren Stigmata umgehen; und in der er selbst eine bestimmte Logik affektiver Reaktion zeigt. Gerade indem das Stück seine Hauptfigur judenfeindlich zeichnet, erzeugt es eine gegenläufige Semantik. Und gerade indem es eine jüdische Hauptfigur zum Gegenstand der Abneigung macht, kann es diese umso wirksamer in ihr Gegenteil umschlagen lassen. Je antisemitischer das Drama zu sein scheint, desto antirassistischer kann es wirken. Shakespeare verführt seine Zuschauer zum Judenhass, um ihnen dessen Schrecken erfahrbar zu machen. Mit anderen Worten: The Merchant of Venice treibt ein gefährliches Spiel. Das Stück ruft Antisemitismus hervor, um ihn zu bekämpfen.“ Ob dies, falls es stimmt, jemals gelingen konnte, ist ein zentrales Thema dieses Buchs.
J. S.
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