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„Bonavia“ – eine serbische Familienarchäologie von Dragan Velikic

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dragan Velikić, 1953 in Belgrad geboren, emigrierte während des Kosovokrieges 1999 vorübergehend nach Wien und Budapest. Er arbeitete bei mehreren Wochenzeitschriften und war Redakteur beim Radiosender B92, der die Studentenproteste gegen Slobodan Milošević unterstützte. Von 2005 bis 2009 war er serbischer Botschafter in Österreich. Heute lebt er in Belgrad und publiziert regelmäßig in großen europäischen Zeitungen und Anthologien zum Balkan. „Bonavia“ ist sein achter Roman.

Hat das Leben eine Handlung? Verbringt der Mensch nicht 99 Prozent seines Lebens damit zu schlafen, einzukaufen, zu essen, aufzuräumen, sich zu waschen, nachzudenken? So denkt Marko Kapetanović, der nach den Jugoslawienkriegen Serbien über Budapest verlässt, um seinen Vater in Wien zu besuchen. Marko, ein Schriftsteller, der sich mit Reiseführern über Osteuropa über Wasser hält, hat ein unglaubliches Gedächtnis, wobei ihm wichtig ist, was nicht wichtig ist. Der Allessammler sieht darüber hinaus Verbindungen, die sich von anderen erst auf den zweiten Blick – wenn überhaupt – nachvollziehen lassen, was seine Beziehung mit Marija, einer Journalistin, kompliziert. Er lernt sie in der Visa-Abteilung der Ungarischen Botschaft kennen und trifft sie in Budapest erneut. Dorthin begleitete Marija ihre Freundin Kristina, die die Alte Welt hinter sich lässt und nach Amerika emigriert.

Markos Vater Miljan hatte dem geliebten Jugoslawien den Rücken gekehrt, als seine Frau Ana bei der Geburt des Sohnes verstarb. Er arbeitete sich bei der Österreichischen Bundesbahn schnell zum jüngsten Speisewagenchef hoch, um sich später in Wien als Gastronom mit einem „Balkan-Grill“ seine Existenz aufzubauen. Sein Sohn wuchs bei Onkel und Tante auf. Marijas Eltern hatten Josip Broz Tito im Herzen, der Zerfall Jugoslawiens wurde auch zum Untergang des Richters und der Juristin: Er war beleidigt und desorientiert, sie flüchtete sich in die Demenz.

Kristina hingegen hat mit Serbien, ja mit Europa, abgeschlossen. In Amerika lebend meidet sie jegliche Erinnerungsorte, begibt sich aber dann doch, auf den Spuren der einst ausgewanderten Tante Danica, nach Wien. Aber nicht alle Figuren verlassen die Heimat. Raša Borozans Lebens- und Schaffensmotto ist: „Die Welt ist da, wo du bist“. Der Schriftsteller und Jugendfreund Kristinas, der, seinen Vorbildern Konstantinos Kavafis und Fernando Pessoa gleich, der gute Geist seiner Heimatstadt Zemun ist, findet, ein Schriftsteller habe „außerhalb des eigenen Sprachraums nichts zu suchen“. Und Dejan Cvijan, korrupter Chef einer PR-, Meinungsforschungs- und Werbeagentur, der zehn Jahre Marijas Partner war, steht für die „Faszination für Unmoral auf Schritt und Tritt. Eine Gesellschaft ohne feste Struktur. Ohne Regeln“.

Velikić schafft mit seinen Protagonisten ein engmaschiges, fein abgestimmtes Netz, stellt facettenreich Migrationsgeschichten aus seiner Heimat dar. Im Mittelpunkt des Romans stehen die verschiedenen Lebensentwürfe und -philosophien, die Beziehungen und Partnerschaften, die der Autor mit faszinierender Leichtigkeit detailliert und einfühlsam beschreibt. Die verschiedenen Charaktere erlauben es zusätzlich die jugoslawische und serbische Gesellschaft, aber auch Österreich, aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Die Figuren beschweren sich über „das passive Leben der Jugoslawen“, sehen die Serben „am Rande totaler Apathie“ und das Serbentum oder den Patriotismus als Narkotikum. Die Probleme und Erfahrungen eines Gastarbeiters in Wien, einer Exilantin in San Francisco, eines Schriftstellers in Zemun oder eines neureichen Medienmoguls in Belgrad bringen dem Leser Menschen und ihre Geschichten näher.

Die Ursachen für die Kriege der 1990er-Jahre sehen die Protagonisten in der Gier nach Materiellem, dem Stolz und dem Leben in der Vergangenheit. „Die Chiffre ‚Freiheitskampf‘ [war] ein Blankoscheck für jedes Verbrechen.“ Österreich hingegen ist eine „Balkansuppe im deutschen Topf“ oder „ein kleines Land. Groß sind dort nur die Friedhöfe.“ Der Blick von Vater und Sohn auf Wien ist ein präzises, lebendiges Zeugnis interkultureller Wahrnehmung und spielt mit Stereotypen.

Ein Roman ohne Handlung, den man trotzdem nicht aus der Hand legen will? Es liegt am „Geysir der Worte“, den der Autor mit Marko teilt, der kunstvollen Sprache, den fesselnden Gedanken. Velikić verblüfft mit Wortschöpfungen und aphoristischen Formulierungen: „Ihre Vergangenheit war das Perfekt, Erinnerungen in vollendeter Form.“ Er kreiert Allegorien, um seine Kritik an Politik und Gesellschaft zu veranschaulichen. Als Romancier nutzt er die Kraft der Sprache, die jede Seite des Romans zum Genuss macht und die Protagonisten zu Vertrauten werden lässt, als Journalist wiederum gibt er dem Leser einen schonungslosen Einblick in die serbische Gesellschaft sowie deren Nachkriegs- und Migrationsproblematik.

Dragan Velikić ist mit „Bonavia“ ein Beziehungsroman mit Migrationsgeschichten, vor allem aber ein Werk beeindruckender literarischer Qualität gelungen. Hätte er es in deutscher Sprache geschrieben, stünde er hierzulande sicher auf den Notizzetteln der Literaturpreisverleiher.

Titelbild

Dragan Velikic: Bonavia. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
336 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446245020

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