Feen und Trolle und das Lob des Wanderns.

Sylvain Tesson wandert, fährt mit dem Rad und klettert auf Kirchen

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Franzosen mögen Pathos. Es scheint bei ihnen wohl zum Nationalcharakter zu gehören, auch wenn es nur um’s Motorradfahren geht: „Jedes Mal war ich […] der kosmischen Extase nahe und begeisterte mich an der Perfektion der Mechanik, dieser vom göttlichen Wesen durchdrungenen Disziplin, die – mit identischen Gesetzen – das Hin und Her der Kolben genauso wie die Ellipsen der himmlischen Sphären bestimmt.“ Ein wenig aufgeregt, fast gehetzt ist der Stil, mit dem Sylvain Tesson ausgerechnet das Lob des Wanderers singt, des Reisenden. Dabei ist für ihn vor allem die Langsamkeit notwendig: „Um dem aussichtslosen Kampf, den unsere Seelen auf der Erde gegen die Uhr führen, zu entkommen, hilft nichts so gut wie langsames Vorankommen, Schritt für Schritt. Drosseln wir das Tempo, dann wird auch die Zeit, von einem sonderbaren Nachahmungseffekt erfasst, ihren Rhythmus verlangsamen.“

Und so erzählt Tesson sehr sprunghaft von dem, was ihm auf seinen Reisen begegnet ist, von den Weiten Sibiriens, von der Wüste, von den Wäldern. Unsystematisch und in viele kleine Abschnitte zerbrochen, springt er von Thema zu Thema. Dabei berührt er vieles, was tatsächlich ein schönes Gegengift zur modernen, schnelllebigen, hektischen Welt ist: das Wandern durch die Welt, die Erfahrung fremder Länder und Kulturen, das Nomadentum. Und erzählt manchmal schöne Geschichten, wie die von den Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Kirchen zu besteigen, quasi nach oben zu wandern, dem Himmel entgegen. Solche Passagen sind die überraschenden Highlights in einem etwas redundanten und chaotischen Buch.

Denn leider führt das Aufsplittern in die vielen kleinen und kleinsten Abschnitte auch dazu, dass er sich häufig widerspricht, dass er unlogisch ist, dass man ihm nach einer Weile auch nicht mehr folgen mag. So feiert er das Unterwegssein der fair means: „Am liebsten sind mir jene Reisen, auf denen ich mich der Natur mit ihren eigenen Waffen stelle, ohne Motor, ohne schneller zu sein, als meine Kraft es erlaubt.“ Um nur wenige Sätze später darüber zu schreiben, dass er auf dem Pferd oder auf dem Fahrrad sitzt – auf beiden wird er wohl schneller als zu Fuß sein, zudem ist die Kraft des Pferdes, mit der er reist, größer als seine eigene. Dass er nicht weiß, dass „Was tun?“ das Hauptwerk von Wladimir Iljitsch Lenin ist, ist nur eine von vielen Seltsamkeiten. Dass für ihn „das Reispapierheft und die Blockflöte […] neben dem Kiefernstock und dem Federhut die vier einzigen unverzichtbaren Dinge für das Leben in den Wäldern“ sind, und nicht Feuerstein oder Feuerzeug und ein Messer, geht wohl eher auf das Konto seines alles überschattenden Pathos.

Dass er Poesie und ausgerechnet Gebet für kostbar hält, kann man noch als Marotte abtun, ebenso dass er Feen und Trolle feiert. Dass er, der das Erwandern fremder Länder feiern will, dann aber findet, dass „die Welt, die man vor Augen hat, […] immer unansehnlicher als eine Sepia-Fotografie oder ihre Beschreibung in einer alten Chronik“ ist – das geht dann schon ins Ärgerliche. Dass er am Schluss des Buchs nicht mehr vom sonst so gefeierten Wandern schwärmt, sondern sich eine Blockhütte im Wald bauen will. Und dass es so viele unlogische Sätze gibt, die man gar nicht versteht: „Es gibt den russischen Pilger, der im Gehen betete. Péguy gibt es, der das Gegenteil tat.“ Was ist denn das Gegenteil von „im Gehen beten“? Im Sitzen fluchen?

Nein, das Buch hat einige schöne Passagen, zum Beispiel die Aufzählung der wissenschaftlichen Namen der Tiere und Pflanzen, die auf den Kathedralen leben. Aber insgesamt ist es durcheinander, unlogisch und schlecht geschrieben.

Titelbild

Sylvain Tesson: Kurzer Bericht von der Unermesslichkeit der Welt.
Übersetzt aus dem Französischen von Nicola Denis.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013.
128 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783882210798

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