20 Jahre jung

Ein Gespräch mit der Shakespeare-Übersetzerin Christa Schuenke

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1994 erschien (im Straelener Manuskripte Verlag) Christa Schuenkes Gesamtübersetzung der Shakespeare-Sonette. Seit 1999 ist sie als Taschenbuch bei dtv lieferbar. Anlässlich des 20. Publikationsjubiläums sprach Christa Jansohn mit der Übersetzerin.

Als Johann Joachim Eschenburg 1787 im Rahmen seiner Abhandlung über Shakespeares Gedichte auch 56 Sonette in deutsche Prosa übersetzte[1], konnte er nicht ahnen, dass sich ab dem 19. Jahrhundert bis heute eine kaum überschaubare Zahl von Dichtern, Gelehrten, Laien und Liebhabern aus den verschiedensten Berufsgruppen sowie sämtlichen Altersgruppen (zwischen 24 und 90 Jahren) diesen Wunderwerken in 14 Zeilen widmen würde. So gibt es an die 200 Teil- und an die 70 Gesamtübersetzungen (Stand: April 2014), wovon vier Gesamtübertragungen derzeit unpubliziert sind. Es entfallen auf das 19. Jahrhundert 16 Gesamtübersetzungen sowie zwei mit je 151 Sonetten (von Karl Lachmann, 1820 und Andreas Schumacher, 1826) (davon eine von einer Frau) auf das 20. Jahrhundert 36 Gesamtübersetzungen sowie eine Version mit 150 Sonetten (von Otto Hauser, 1931) (davon acht von Frauen), auf das 21. Jahrhundert (April 2014) 15 Gesamtübersetzungen (davon eine von einer Frau). Dazu kommen drei Dialektübersetzungen ins Plattdeutsche, in den Berliner Dialekt (jeweils von Frauen) und ins Wallissertitsche.

Wie dieser Überblick zeigt, sind im Gegensatz zu den männlichen Übersetzern die weiblichen mit nur elf deutlich in der Minderzahl. Zudem wurden drei der von Frauen stammenden Übertragungen erst nach dem Tod der Übersetzerinnen publiziert, und zwar 1992 die erste Gesamtübersetzung (zirka 1824/25) von Dorothea Tieck. Sophie Heidens Version von 1935 erschien 2001, und 2010 wurde erstmals in Deutschland die im japanischen Exil angefertigte Übersetzung (1944) der bekannten Cembalistin Eta Harich-Schneider veröffentlicht. Auch fehlen zu einigen Übersetzerinnen grundlegende biographische Angaben, so zu Therese Benjamin und Beatrice Barnstorff Frame, die ihre Übertragungen 1930 und 1931 publizierten. Die jüngste unter den Übersetzerinnen ist die 1966 in Güstrow geborene Lyrikerin Simone Katrin Paul, deren 1998 publizierte Version allerdings sang- und klanglos verschwunden ist,[2] während Christa Schuenkes Übersetzung seit ihrem Erscheinen 1994[3] mehrere Auflagen erfuhr, bisher zweimal als Hör-CD auf den Markt kam, für mehrere szenische Lesungen und Theateraufführungen herangezogen wurde und auch oft in Programmheften zitiert wird. Mit Recht reiht sich heute die Version Christa Schuenkes – es war vor 20 Jahren die 40. Gesamtübersetzung – zu den anderen beiden erfolgreichsten Sonettklassikern von Gottlob Regis (1836) und Stefan George (1909), die freilich aus ganz anderen Gründen ebenfalls immer wieder neu aufgelegt werden.

Folgende Vorzüge ihrer Übersetzung sind es, die den Erfolg ihrer übersetzerischen Leistung ausmachen und in Besprechungen wiederholt hervorgehoben wurden: „In bewußter Absetzung von den meisten romantischen Übertragungen gibt Christa Schuenke den Sonetten ihre schöne Direktheit und sinnliche Vitalität zurück, die durch die unseligen Glättungen verlorengegangen waren. Hier gelingt auch, sofern das überhaupt möglich ist, die Übertragung der Shakespeareschen Sprachmelodie, hier entsteht ein eigener lebendiger Sprachkörper, in dem das Poetische pulsiert.“[4]

Christa Schuenke, 1948 in Weimar geboren, ist seit 1981 als freischaffende literarische Übersetzerin aus dem Englischen und Amerikanischen tätig, u. a. übersetzte sie Werke von J. Donne, J. Keats, B. de Mandeville, H. Melville, E. A. Poe, H. James, A. A. Milne, R. Bradbury, R. Dahl, E. Bond, J. Kelman, J. Banville, I. B. Singer, C. Nolan, Chang-rae Lee, D. Foster Wallace, W. Gibson, W. B. Yeats, M. Z. Danielewski, J. Swift usw. Zudem engagierte sich die mehrfach preisgekrönte Übersetzerin für die Rechte der Übersetzer im VdÜ sowie im PEN für das „Writers in Exile-Programm“. Nach ihrem Studium des Englischen und Französischen (1967 bis 1970) am Dolmetscherinstitut der Leipziger Universität war Schuenke von 1970 bis 1981 als wissenschaftlich-technische Assistentin an der Akademie der Wissenschaften der DDR tätig und absolvierte in dieser Zeit (1971 bis 1977) ein Fernstudium der Philosophie an der Humboldt-Universität, Berlin. Ab 1978 entstanden literarische Übersetzungen (Debüt: John Donne, Zwar ist auch Dichtung Sünde, zusammen mit Maik Hamburger, Leipzig: Philipp Reclam, 1982 und 1985).

Zu ihren „Traumübersetzungen“ zählt sie heute die Shakespeare-Sonette, für die sie 1997 den renommierten Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis erhielt, der alle zwei Jahre für herausragende Übersetzungen verliehen wird. Noch heute, so verrät sie 2012 in einem Interview, würden ihr die Sonette „viel Freude bereiten“ und sie fährt fort: „Das war nach ’89, als sich die Angebote nicht so drängelten, ohne Auftrag und ohne Stipendium. Die glücklichsten vier Jahre meines Lebens habe ich mit Shakespeare verbracht, als er noch jung war – und ich auch.“[5] In ihrer Dankrede zum Wieland-Preis verrät sie darüber hinaus noch weitere Details über ihre Motivation, Shakespeares Sonette ins Deutsche zu übertragen:

Narrheit ist es wohl, man könnte auch sagen Hybris, Shakespeares Sonette noch einmal ins Deutsche zu übersetzen, wo doch, als ich damit anfing, schon mehr als vierzig deutsche Gesamtübersetzungen und an die zweihundert Übertragungen einzelner Sonette oder von Teilen des Zyklus existierten, an dem so namhafte Vorgänger wie Dorothea Tieck, Stefan George, Karl Kraus, Johannes Schlaf und Paul Celan ihre Meisterschaft erprobt und unter Beweis gestellt haben.

Doch Narrheit nicht allein, denn wie könnte so ein Vorhaben gedeihen ohne Liebe? Liebe zum Urtext und zu seinem Verfasser, Liebe zur Sprache, zum Wort schlechthin, Liebe zum Gedicht – eine Liebe, die nicht fragt, wie viel Zeit vergehen muß, bis Vorzeigbares zu Papier gebracht ist, wie wenig Lohn die Mühe in aller Regel einträgt und wie klein der Kreis derer sein mag, die dies alles interessiert. Aber Liebe, sagt Shakespeare im CXVI. Sonett, Liebe ist nicht der Narr der Zeit. Und das heißt doch nur, Liebe, wenn sie ihr Ziel einmal gefunden hat, hält unbeirrt darauf Kurs und läßt sich weder vom Fraß der Zeit entmutigen noch von den Schwankungen der Zeitläufe zum Narren machen. Liebe ist da, oder sie fehlt, doch wenn sie da ist, kann sie nicht nur Berge ver-, sondern auch Verse übersetzen.[6]

Schuenkes Übertragung stieß innerhalb kürzester Zeit auf lebhaftes Interesse. So wurde sie im Frühprogramm von Radio Bremen II (20. Dezember 1994) und in der WDR3-Sendung „Mosaik“ (7. Januar 1995) vorgestellt, dieses Jahr wird sie am 21. April im Rahmen der Reihe „Ohrclip“ bei WDR 5 (21.05 bis 23.00 Uhr) wieder zu hören sein. Die bremer shakespeare company wählte fünf der Übertragungen für ihre szenische Darstellung Alles Lügen aus (Premiere Herbst 1994), andere wurden von Maria Wimmer während der Shakespeare-Tage in Weimar (23. April 1995) rezitiert.[7] Begleitet von Musik der Renaissance präsentiert eine andere Grande Dame des deutschen Schauspiels, Senta Berger, seit Sommer 2013 15 der geheimnisvollen Dark Lady Sonette in Schuenkes Übertragung. Noch weitaus größer als das Presseecho auf Senta Bergers Programm war vier Jahre zuvor das auf die Vertonung von 25 Sonetten – davon 24 in Schuenkes Übertragung[8] – durch den kanadischen Folk-Rock-Star Rufus Wainwright, der die Gedichte für Robert Wilsons dreistündige Inszenierung „Shakespeares Sonette“ am Berliner Ensemble (Uraufführung: 12. April 2009) vertonte. Text, Musik und viele Bilder greifen in dieser Aufführung ineinander, überlagern sich oder kommentieren einander. Es entsteht wiederum ein anderer Zugang zu Shakespeares Lyrik, zumal hier „Text, Bilder, Musik […] wie Zahnräder [sind], die wie am Schnürchen laufen, aber nur selten und wie durch Zufall ineinander greifen.“[9] Es spricht für den Erfolg der Inszenierung und damit auch für den Erfolg von Schuenkes Übertragungen, dass „Shakespeares Sonette“ auch noch heute – fünf Jahre nach der Uraufführung – auf dem Spielplan des Berliner Ensembles stehen.

Im folgenden Interview mit Christa Schuenke werden Fragen angeschnitten, die sich einerseits speziell auf ihre Übersetzung beziehen; andererseits erschien es ebenso wichtig, allgemeine Probleme der Sonettübertragung anzusprechen, um so die spezifischen Merkmale von Schuenkes Übersetzung herauszustellen, sie in den Rahmen der Sonettrezeption einzuordnen und gleichzeitig auch neue Anregungen für eine allgemeine Übersetzungskritik zu liefern.

Oft wird bedauert, dass so wenig über die einzelnen Sonettübersetzer/innen bekannt ist. Ist ihre Biographie wirklich so entscheidend wie es des Öfteren bei Dichtern der Fall ist? Ist es zum Beispiel wichtig zu wissen, dass Christa Schuenke eigentlich mehr Romane übersetzt, dass ihre Übersetzerlaufbahn mit John Donne begann ?

Ich denke, dass die Biographie des Übersetzers, mindestens in groben Umrissen, durchaus von Interesse ist. In jede Übersetzung fließt ja die Biographie des Übersetzers mit ein, die seinen individuellen Gebrauch der eigenen Muttersprache, der Zielsprache also, wesentlich geprägt hat. Natürlich muss man das als Übersetzer reflektieren und achtgeben, dass dieses Einfließen bewusst und gezielt geschieht oder eingesetzt wird. Das verlangt die Pflicht des Übersetzers zur Treue gegenüber dem Autor. Ein Beispiel dafür, wie ich versucht habe, meine Biographie in die Übersetzung der Sonette einfließen zu lassen, ist in Sonett 66 der erste Vers des dritten Quartetts: „Und Kunst das Maul gestopft vom Apparat“. Das hat mit meinem Leben in der DDR zu tun. Und der folgende Vers „Und Dummheit im Talar Erfahrung checkt“ assoziiert meine Berührung mit den Achtundsechzigern („Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“), aber auch meine Erfahrung, am Checkpoint Charlie oder am Bahnhof Friedrichstraße zu stehen und darauf zu warten, ob meine Freunde aus dem Westen einreisen durften oder nicht. Dass ich „eigentlich mehr Romane“ übersetze, ist vielleicht weniger von Belang. Wenn es nach mir ginge und ich davon meinen Lebensunterhalt bestreiten könnte, würde ich überhaupt nur Gedichte übersetzen. Aber das ist leider nicht möglich. Die John-Donne-Übersetzung hingegen hat durchaus einen Bezug zu meiner Übersetzung der Sonette. Nachdem der Donne geglückt war, wusste ich, dass ich das Zeug hatte, mir meinen Jugendtraum, die Sonette neu zu übersetzen, über kurz oder lang zu erfüllen.

Jede(r) Übersetzer(in) muss sich von neuem mit dem Problem auseinandersetzen, wie man die Sprache einer weit zurückliegenden, uns in vielem fremden Epoche in ein dem heutigen Leser verständliches Idiom überträgt. Extreme Lösungen sind archaisierende Übersetzungen oder ein moderner Jargon; manche, wie Karl Bernhard, versuchen beides gleichzeitig. Wie sehen Sie das Problem und welche Lösung haben Sie angestrebt?

Eine archaisierende Übersetzung kam für mich von vornherein nicht in Betracht. Manierismus interessiert mich nicht. Eine künstlich archaisierte Sprache empfinde ich als manieriert, und vor allem fehlt ihr alles Lebendige. Und das, was Sie als „modernen Jargon“ bezeichnen, ist in meinen Augen eine Anbiederung an ein vorwiegend jugendliches Lesepublikum oder Ausdruck eines Zeitgeists, der nach ewiger Jugend giert. Eine Mischung von beidem, wie sie bei Karl Bernhard vorliegt, kann immer nur Hybriden hervorbringen. Ganz wesentlich für mein Konzept war das Moment der Wiedererkennbarkeit. Die emotionalen Schwingungen, die von Shakespeares Sonetten ausgehen, erreichen uns noch heute mit unverminderter Kraft, wenn wir uns darauf einlassen. Das habe ich gerade bei jungen Lesern meiner Sonett-Übersetzung, Leuten von Anfang bis Mitte Zwanzig, immer wieder bemerkt. Und ähnliche argumentative Krücken, wie Shakespeare sie sich baut, um die eigenen Gefühlsverwirrungen zu rationalisieren, bauen sich Menschen auch heute noch, wenn sie verzweifelt versuchen, sich von der Wucht ihrer Emotionen nicht zu Boden schleudern zu lassen. Damit das Moment der Wiedererkennbarkeit in der Übersetzung da ist, muss, denke ich, eine Sprache gewählt werden, die modern ist, ohne modisch zu sein, die aber auch die Wort- und Klanggewalt hat, die notwendig ist, um den mitunter sehr hohen, klassischen Ton des Originals zu treffen.

Damit verbunden ist die Frage, ob nicht die Versuchung besteht, einen bewusst wortschöpferischen, preziösen und auch oft gesucht originellen Text allzu glatt und unaufregend wiederzugeben. Wie viel Risiko sollte ein Übersetzer eingehen, um einerseits Plattheit, andererseits gekünstelte Originalität zu vermeiden? Soll der deutsche Leser ebensoviel Schwierigkeiten mit dem Text haben wie der englische, für den die Sonette Shakespeares ja auch nicht gerade eingängig oder leicht verständlich sind?

Das Risiko kann beim Übersetzen grundsätzlich nicht hoch genug angesetzt werden. Gefährlich wird es, wenn man als Übersetzer nicht weiß, wann man die Bremse ziehen muss, wenn man über das Ziel hinausschießt und niemanden hat, der einen auf den Pfad der übersetzerischen Tugend zurückführt. Für mich waren das meine Verlegerin Renate Birkenhauer vom Straelener Manuskripte Verlag und mein Lektor Klaus Birkenhauer. Was die Schwierigkeiten mit dem Text angeht, so denke ich, dass es falsch wäre, von vornherein darauf hinzuarbeiten, dass die Übersetzung das Original an Verständlichkeit übertrifft. Zur Frage der Eingängigkeit: Verse wie „Shall I compare thee to a summer’s day“ oder „Let me not to the marriage of true minds“ sind auch im Englischen sehr eingängig, und man darf auch nicht vergessen, dass in der englischen Gegenwartsliteratur sehr häufig aus den Sonetten zitiert wird, was ebenfalls dafür spricht, dass sie dem britischen Leser geläufig sind, weil sie eingängig sind. Ähnlich eingängige Verse in der deutschen Übersetzung zu schreiben, war durchaus meine Absicht. Auf einem anderen Blatt steht natürlich, dass man unter dem Zwang von Metrum und Reim stets genötigt ist, eine Auswahl aus dem poetischen Gesamtmaterial jedes einzelnen Sonetts zu treffen. Dabei muss man – mitunter blutenden Herzens – doch recht häufig auf eine Facette, eine Bedeutungsnuance, einen assoziativen Schlüssel verzichten, und so kann vielleicht hier und da der Eindruck entstehen, dass die Übersetzung weniger vielschichtig als das Original oder meinethalben „verklarend“ ist. Das ist aber nicht von mir beabsichtigt gewesen, sondern hat damit zu tun, dass ich Gedichte grundsätzlich als Einheit von Inhalt und Form begreife und beiden Elementen möglichst nahe kommen will.

Wie weit ist es überhaupt im Fall der Shakespeareschen Sonette möglich, vergangene Empfindungen, Konventionen und Sprachattitüden dem modernen Leser nahezubringen, ohne sie zu verfälschen?

Die Empfindungen sind für mich, wie schon gesagt, keine vergangenen, sondern ganz aktuelle. Welche Konventionen meinen Sie? Wenn Sie die gesellschaftlichen meinen, so sind diese ja keineswegs durchweg überwunden. Ehebruch ist nach wie vor anstößig, und auch homoerotische Beziehungen werden nicht überall bedingungslos akzeptiert. Wenn Sie Konventionen aber gewissermaßen synonym mit Sprachattitüden gebrauchen, dann ist diese Frage bereits mit meiner vorigen Replik beantwortet. Dem modernen Leser die Sprachattitüden des Elisabethaners nahezubringen, war für mich kein vorrangiges Ziel. Shakespeare hat die vorgefundene Sonettform seinen poetischen Zwecken entsprechend abgewandelt oder modernisiert, er hat kaum Wert auf kostbare Reimwörter gelegt, er verwendet so gut wie keine Unikate, wohl aber Neologismen – etwa „tongue-tied“, um nur ein Beispiel zu nennen, ein Wort übrigens, das man im OED vergebens sucht. Wenn er solch eine Neuschöpfung jedoch einmal eingeführt hat, lässt er sie in der Regel mehrfach wiederkehren wie eine einmal aufgebaute Gestalt, die sich dann im weiteren Textkorpus behaupten muss. Auch solche Mittel sind nicht vergangen oder gar veraltet, sondern werden bis heute in der Dichtung verwendet und müssen in einer Lyrik-Übersetzung selbstverständlich berücksichtigt bzw. in der Zielsprache reproduziert werden.

Welchen Stellenwert hat für Sie als Übersetzerin die Frage der „Genauigkeit“ der Übersetzung oder der oft geforderten „Nähe zum Urtext“? Auf welcher Ebene scheint Ihnen diese Genauigkeit besonders wichtig: Wortsinn, Gesamtaussage, Rhythmus, Metrum, Atmosphäre? Wo würden Sie als erstes Abstriche machen, wenn mehrere Alternativen zur Auswahl stehen?

Für mich verschmelzen die Begriffe Genauigkeit und Nähe zum Urtext in dem übergreifenden Terminus Wirkungsäquivalenz. In diesem Sinne hatte ich nicht die Absicht, eine Übersetzung zu schaffen, die zwar philologisch präzise ist, aber die Einheit der Elemente, die die Wirkung eines Gedichts ausmachen (Wortsinn, Gesamtaussage, Rhythmus, Metrum, Atmosphäre, und ich möchte noch hinzufügen: Emotionalität, Anstrengung des Gedankens und nicht zuletzt Klang), zerstört. Ich glaube nicht, dass man bei den mitunter notwendigen Abstrichen mehrere Alternativen hat. Die einzige für mich in Betracht kommende Möglichkeit besteht darin, wenn es denn sein muss und im Original ein und derselbe Gedanke in mehreren unterschiedlichen Schattierungen durchgeführt wird, auf eine dieser Schattierungen zu verzichten oder diejenige auszuwählen, die mir im Hinblick auf die angestrebte Wirkungsäquivalenz den Vorrang zu haben scheint. Um jedoch den Verzicht auf das unvermeidbare Minimum zu beschränken, habe ich versucht, im Deutschen möglichst viele einsilbige Wörter zu finden, deren Gebrauch verhindert, dass der Vers über den jambischen Pentameter hinaus anschwillt.

War es für Sie von vornherein ausgeschlossen, etwa eine andere Sonettform, ein anderes Metrum, andere Bilder zu wählen? Beispiele für andere Entscheidungen wären etwa Eschenburgs Prosaversionen, die manche besonders schätzen, weil sie möglicherweise mehr von der Sprachkraft des Originals enthalten als manche „genaueren“ Übersetzungen. Ein anderer, extremerer Fall wären die Übersetzungen von Paul Celan, von denen George Steiner sagte, sie seien „besser“ als manche der Originale, was er übrigens auch für Stefan George in Anspruch nahm. Kann eine Nachdichtung als Sprachwerk bedeutender sein als die Vorlage? Soll sie es?

Eine andere als die von Shakespeare für seine Zwecke modifizierte Sonettform kam für mich nie in Betracht. Ich glaube, Sie sprechen hier ein sehr interessantes Problem an. Die Prosaübersetzungen von Eschenburg haben den Anspruch, dem Leser die gedankliche oder inhaltliche Seite der Sonette sehr genau und umfassend zu erschließen. Eschenburg tut das um den Preis, dass die emotionale Spannung verlorengeht. Er vernachlässigt die Wirkungsäquivalenz zugunsten der philologischen Korrektheit. Im Falle Celans haben wir es mit einem starken, gedanken- und wortmächtigen Dichter zu tun, der Shakespeares Sonette gleichsam als Transportmittel für eigene Inhalte benutzt. Seine Übersetzungen, die ich sehr schätze, sind von seinem eigenen dichterischen Interesse dominiert. Deshalb kann ich mich George Steiner, den ich ebenfalls sehr schätze und dessen Buch After Babel[10] ich als Über­setzerin viele kostbare Anregungen verdanke, in diesem Punkt nicht anschließen. Ich glaube, dass Celans Übertragungen nur insofern „besser als die Originale“ sind, als sie den Zeitgeist, dessen Stimme Celan war, besser erfassen als die Originale, die selbstverständlich vom Geist der Shakespeare-Zeit geprägt waren. Insofern sind Celans Übertragungen uns vielleicht näher als das Original, aber ich glaube nicht, dass man sie deshalb „besser“ nennen kann. Auch Stefan George nimmt sich der Sonette als Dichter an, wenngleich er sie, anders als Celan, nicht dazu benutzt, eigene Inhalte zu transportieren. Bei ihm scheint es mir eher um einen Transport versästhetischer Prinzipien zu gehen, die leider nicht selten mit einer bis zur Unkenntlichkeit der Wörter getriebenen Verstümmelung deutscher Wortklänge bezahlt werden. Ich denke, die Frage, ob eine Nachdichtung bedeutender oder besser als die Vorlage sein kann oder darf, muss die Frage einschließen, für wen, für welche Zeit sie das wäre und welche Kriterien man anlegt. Ich bin keine Dichterin, sondern eine Übersetzerin, die mit dem Handwerkszeug des Übersetzers versucht, englischsprachige Lyrik wirkungsäquivalent zu übersetzen. Dass ich in meiner Jugend Gedichte geschrieben und mich daher auch recht gründlich damit beschäftigt habe, wie Lyrik funktioniert, kommt mir als Übersetzerin zugute, aber ich setze mich mit Dichtung nicht von der Warte des Dichters auseinander, sondern von der des Übersetzers, der seine Arbeit in den Dienst des Autors stellt und für den Werktreue an erster Stelle steht. Deshalb lehne ich für meine Übersetzungen den Begriff Nachdichtung ab. Es handelt sich hier wirklich um Übersetzungen.

Inwieweit wird die Übersetzung, ihre Intention und ihre Aufnahme durch die (in den heute üblichen zweisprachigen Ausgaben gegebene) gleichzeitige Anwesenheit des englischen Textes beeinflusst? So legte auch Maria Wimmer bei ihrer Rezitation ausgesprochenen Wert darauf, dass die Zuhörer den englischen Text in den Händen halten sollten. Soll die Übersetzung denn zum englischen Text hinführen, soll sie als Verständnishilfe dienen oder soll sie auch ganz eigenständige Poesie darstellen?

Die Anwesenheit des englischen Textes setzt den Übersetzer in gewissem Sinne unter Druck. Er muss damit rechnen, dass der Leser Original und Übersetzung vergleicht. Das zwingt ihn zur Genauigkeit sowohl im Inhaltlichen als auch im Formalen. Natürlich soll die Übersetzung zum englischen Text hinführen bzw. diesen dem deutschsprachigen Leser verständlich machen, wenn seine Englischkenntnisse nicht ausreichen, diese komplizierten Gedichte zumindest sprachlich zu entschlüsseln. Das ist doch die Funktion der Übersetzung schlechthin. Und wenn die Übersetzung gelungen ist, dann wird sie sich – das ist in der Literaturgeschichte immer wieder vorgekommen – auch als eigenständige Poesie etablieren. Das kann man aber als Übersetzer nicht vorhersehen und schon gar nicht konzeptionell anlegen. Doch wenn es passiert, und ob es passiert, wird man erst viel später wissen, vielleicht auch gar nicht mehr selbst erleben, dann wäre das sicher die größte Ehre, die einem als Übersetzer zuteil werden kann.

Sie schreiben in Ihrem Nachwort, dass Sie „mit der romantischen Rezeption der Sonette brechen“ wollten. Dies impliziert, dass es bestimmte Übersetzungsstile gibt. Trifft dies tatsächlich zu, vor allem auch im Hinblick auf unser Jahrhundert? Welche charakteristischen Merkmale könnten Sie nennen?

An und für sich ist das nicht mein Thema, aber natürlich habe ich mir darüber Gedanken gemacht. Ich möchte nicht von Übersetzungsstilen reden; ich beobachte drei „Modelle“, die ich für mich wie folgt klassifiziere:

1. Das analytisch‑paraphrasierende Modell, bei dem die einzelnen Elemente eines Gedichts mit dem Instrumentarium des Philologen auseinandermontiert werden. Das begünstigt den semantischen Aspekt auf Kosten des formalen. Der Vorteil ist, dass das semantische Material gründlich erschlossen, die philosophischen, geschichtlichen, biographischen und sonstigen Hintergründe der einzelnen Wörter und Phrasen ausgeleuchtet werden. Die Form jedoch wird allenfalls kommentiert oder (wie z. B. bei Eschenburgs Prosaübersetzung der Sonette) ganz und gar ignoriert. Der Nachteil dieses Modells besteht für mich darin, dass durch das vollkommene Abstrahieren von allen mimetischen Aspekten dem Gedicht gleichsam die Emotionen herausoperiert werden. Das Gedicht ist in der Übersetzung kein Gedicht mehr.

2. Das von Ihnen bereits angesprochene verfremdende Modell, innerhalb dessen einerseits die archaisierende und andererseits die modernisierende Methode steht. Der Vorteil, den die Vertreter dieser beiden Schulen für sich reklamieren, soll darin bestehen, dass durch Ver­fremdung Befremden ausgelöst und der Leser zu einer neuen, gründlicheren Auseinandersetzung mit dem Text provoziert wird. Ich bin skeptisch, dass dies gelingt. Mein Eindruck ist vielmehr, dass bei beiden Spielarten dieses durch und durch verkopften Herangehens an das Übersetzen von Gedichten der Inhalt und die Form des Originals, will sagen die Intention des Autors, dem Selbstdarstellungswillen des Übersetzers untergeordnet werden. Ein Beispiel für Archaisierung wäre etwa Rudolf Borchardts Übersetzung der „Göttlichen Komödie“. Das Beispiel für die Modernisierung haben Sie bereits selbst zitiert mit Erckenbrechts konstruierter fünfter Version der ersten Zeile des 66. Sonetts: „Ich hab’ die Schnauze voll und mach’ die Fliege“. Neben der Vernachlässigung der Werktreue besteht ein weiterer Nachteil darin, dass die Archaisierung, indem sie auf eine überlebte Sprache setzt, eine leblose Übersetzung hervorbringt. Eine weitere Überlegung ist die, dass Übersetzungen selbst solchen unbestreitbar zeitloser literarischer Werke bekanntermaßen relativ schnell altern. Die Modernisierung arbeitet mit Jargon oder Soziolekt – beides a priori kurzlebige Erscheinungsweisen der Sprache. Das bedeutet, dass modernisierende Übersetzungen binnen kürzester Zeit veraltet sein werden.

3. Das synthetisierende oder Wirkungsäquivalenz anstrebende Modell, bei dem versucht wird, durch Treue zur im Original vorgegebenen Form bei größtmöglicher Annäherung an den im Original vorgegebenen Inhalt die Einheit von Inhalt und Form, die poetische Identität des Gedichts also, zu bewahren. Der Vorteil ist hier, dass die Übersetzung nicht nur die Semantik, sondern auch die Emotionen vermittelt, das Gedicht als Synthese von Inhalt und Form also erhalten bleibt. Der Nachteil ist hier, dass der formale Zwang verlangt, eine Auswahl aus dem semantischen Material zu treffen, wodurch gewisse Aspekte des Inhalts verlorengehen oder an Gewicht verlieren können. Das ist die Methode, für die ich mich entschieden habe, weil die Defizite, die hier entstehen, in meinen Augen geringer und eher auszuhalten sind als die bei Modell 1 und Modell 2 auftretenden.

Bei jedem literarischen Werk ist auch die Genese für die Beurteilung und Einordnung wichtig. Dies gilt m. E. auch für Übersetzungen. Vielleicht könnten Sie kurz die Entstehungsgeschichte skizzieren: Wie lange haben Sie an der Gesamtübersetzung gearbeitet? Gibt es verschiedene Versionen? Welches waren Ihrer Meinung nach die größten Probleme bei der Übersetzung?

Ich beschäftige mich seit 1964 mit Shakespeares Sonetten. Damals bekam ich die bei Fischer als Taschenbuch erschienene zweisprachige Ausgabe mit den Übersetzungen von Otto Gildemeister in die Hand und habe in der Tat begonnen, mir von der Übersetzung her das Original zu erschließen, denn in der DDR konnte man normalerweise mit 16 Jahren noch nicht so gut Englisch, dass man die Sonette ohne Hilfestellung verstanden hätte. Ich will nicht sagen, dass ich anhand dieser Übersetzung und der Urtexte von Shakespeare Englisch gelernt hätte, aber mein Englisch hat sich durch die wiederholte Lektüre erheblich verbessert, so dass ich irgendwann nicht mehr auf Gildemeisters Übersetzungen angewiesen war. Nun wollte ich wissen, ob es andere Übersetzungen gab. Ich begann, Übersetzungen der Shakespeare-Sonette zu sammeln und besitze mittlerweile eine stattliche Anzahl von Übertragungen, übrigens auch in andere Sprachen, etwa ins Französische, Russische, Bulgarische und Niederländische. Ich verglich die deutschen Übersetzungen miteinander und immer wieder auch mit dem Original und dachte oft, dass es doch möglich sein müsste, diesen oder jenen Vers im Deutschen genauer, zwingender, direkter zu machen. An den Donne-Übersetzungen habe ich mich, ohne dass ich es damals beabsichtigte, für die Sonette geschult. Kurz nach Erscheinen unserer Auswahl von Gedichten von John Donne beim Leipziger Reclam-Verlag machte ich einen ersten Versuch, einige Sonette zu übersetzen. Das war 1982. Diese Übersetzungen sind mir abhanden gekommen, wofür ich eigentlich sogar dankbar bin, denn vermutlich waren sie sehr stümperhaft. Im Sommer 1990 habe ich ernsthaft mit der Arbeit angefangen, die sich dann über vier Jahre hingezogen hat. Da ich zwischendurch immer wieder für meinen Lebensunterhalt andere Werke übersetzen musste, schrumpft die Zeit, die ich für die Sonette zur Verfügung hatte, im Grunde auf etwa anderthalb Jahre zusammen, aber alles in allem habe ich mich seit 1982 an das Projekt herangetastet, herangedacht, herangelesen, und vier Jahre waren es dann, in denen ich periodisch an diesen Texten gearbeitet habe. Diese Perioden waren stets außerordentlich intensiv. Wenn ich über den Sonetten saß, war ich weitgehend verloren für die Welt. Ich habe von Anfang an metrisch korrekte, durchgereimte Fassungen gemacht, und zum Schluss in einer Art Sabbatsemester von vier Monaten sämtliche Texte hintereinander in vier Redaktionsgängen überarbeitet. Der dritte Durchgang war zugleich der, in dem meine Verlegerin und mein Lektor ins Spiel kamen. Die Entscheidung, die Übersetzung im Straelener Manuskripte Verlag herauszubringen, fiel 1992, nachdem eine ernstzunehmende Menge an Texten in Erstfassung vorlag und die Verlegerin sich, nachdem sie zirka vierzig dieser Erstfassungen gelesen hatte, von der Qualität der Übersetzungen und von meinem Konzept überzeugt war. Es gibt von fast jedem Sonett mehrere Versionen, die sich mitunter nur geringfügig, manchmal nur in ein, zwei Wörtern voneinander unterscheiden. Bei der Redaktion ging es im wesentlichen darum, Enjambements einzusparen, unreine Reime, wo es möglich war, durch reine zu ersetzen, Formulierungen inhaltlich immer weiter zu präzisieren und den Versen durch den gezielten Gebrauch einsilbiger Wörter noch mehr Dichte zu geben.

Das größte Problem war eigentlich, dass ich immer wieder wochen- oder gar monatelang aus der Arbeit an den Sonetten „aussteigen“ musste, um meinem Broterwerb nachzugehen. Das hängt natürlich damit zusammen, dass Lyrik-Übersetzungen bei uns extrem schlecht bezahlt werden.

Welche Hilfsmittel haben Sie benutzt?

Ich habe mit verschiedenen Wörterbüchern gearbeitet, in erster Linie mit dem OED. An zweisprachigen Wörterbüchern habe ich vor allem den vierbändigen Muret-Sanders von 1900 und das Englisch-Deutsche Wörterbuch von Thieme benutzt. Außerdem das Shakespeare-Lexikon von Alexander Schmidt und verschiedene kommentierte Originalausgaben, primär die von John Dover Wilson. Ältere deutsche Übersetzungen sind mir zum großen Teil bekannt, doch spielten diese im direkten Arbeitsprozess keine Rolle. Deutsche Synonymwörterbücher und Reimlexika habe ich so gut wie gar nicht verwendet.

Wann entstand der Plan, fünfzig der Sonette als CD herauszubringen? Wer legte die neue Reihenfolge fest; warum wurde sie im gedruckten Text nicht geändert? Wurde die Übertragung der Sonette durch ihre Rezitation entscheidend geprägt?

Die Übersetzung war natürlich vor der Rezitation da. Insofern hat die Rezitation nicht die Übertragung, sondern diese allenfalls die Rezitation geprägt. Die Idee, dem Buch eine CD mit fünfzig Sonetten hinzuzufügen, entstand, als meine Verlegerin Renate Birkenhauer und ich im Juni 1994 die Voraufführung des Abends Alles Lügen der bremer shakespeare company besuchten und vom Konzept dieser Inszenierung gleichermaßen begeistert waren. Die Reihung der Sonette auf der CD ist kein verschlüsselter Hinweis darauf, dass ich die in der First Quarto Edition der Sonette von 1609 gegebene Reihenfolge nicht für authentisch halte. Die CD ist insofern eigenständig, als sie sich im Wesentlichen nach der Dramaturgie von Alles Lügen richtet, in der wir gleichsam einen anderen Aspekt meines Konzepts für die Übersetzung sahen. Sie erzählt die Geschichte der „Two loves (…) of comfort and despair“, die Geschichte der Sonette also, noch einmal verdichtet und aus einem anderen Blickwinkel, nämlich unter dem Aspekt, dass da jemand ist, der seine Gefühle für einen Jüngling und eine Schwarze Dame einerseits wahrhaftig erlebt und erleidet, sie aber gleichzeitig auch immer wieder instrumentalisiert, um mit dem Treibstoff seiner aufrichtigen Emotionen die Flamme seiner Dichtung zu nähren. Das ist auch der Grund, weshalb wir Renato Grünig als den Schauspieler, der diese Inszenierung trägt, und Rainer Iwersen als deren Regisseur gebeten haben, die Sonette auf der CD zu sprechen. Bei Alles Lügen werden 35 Sonette auf der Bühne gespielt; für die CD mussten es mindestens 50 sein, weil eine CD nun einmal eine Stunde Spieldauer hat. Wir haben deshalb, der Dramaturgie des Bremer Abends folgend, 15 weitere Sonette hinzugenommen und außerdem das Geräusch des Zerreißens, Zerknüllens und Wegwerfens von Papier einmontiert – eine akustische Gestalt, die als Metapher dafür steht, dass  in den Sonetten neben vielem anderen auch das Schreiben selbst thematisiert wird. Ein letzter, aber nicht unwichtiger Grund für den Entschluss, das Buch mit einer CD herauszubringen, war, dass Verlag und Übersetzerin die Auffassung teilen, dass man Gedichte nicht nur stumm lesen, sondern auch hören muss, um sie sich ganz erschließen zu können.

Alles Lügen heißt der provozierende Titel der Sonettaufführung der bremer shakespeare company. Alles Lügen – ist das die Quintessenz des ganzen Zyklus’?

Der Titel der Bremer Inszenierung ist vom Regisseur Rainer Iwersen gewählt worden, um ein potentielles Theaterpublikum neugierig zu machen. Sicher ein provozierender Titel, der dem Zweck und dem Konzept dieser Inszenierung angemessen ist. Ich selbst bin durchaus nicht der Meinung, dass dieser Titel dem ganzen Zyklus der Shakespeare-Sonette gerecht wird. Ich meine aber, dass der Aspekt der Lüge, meinethalben auch des Zweifels an der Aufrichtigkeit der eigenen Empfindungen, schon eine Rolle spielt. Immerhin war Shakespeare eben nicht der Gott oder der Halbgott, zu dem ihn die romantische Rezeption seiner Werke stilisiert hat, sondern, wie wir ja auch im Festvortrag von George Steiner bei den Shakespeare-Tagen in Weimar 1995 gehört haben, ein Mensch und überdies ein Mann und obendrein ein Dichter. Dass Menschen sich in ihren eigenen Gefühlen verfangen können, weiß man. Dass Männer unter dem Druck emotionaler Konflikte dazu neigen, es mit der Wahrheit nicht allzu genau zu nehmen, ist auch bekannt. Und Dichter und Schriftsteller leben ja geradezu davon, dass sie die Wahrheit ausschmücken oder umformen, was weniger literarische Gemüter durchaus dazu veranlassen könnte, sie der Lüge zu bezichtigen.

Es haben sich nur wenige Frauen mit den Sonetten beschäftigt: 1824/25 fertigte Dorothea Tieck als erste eine komplette Version an, 170 Jahre später erscheint die komplette Übertragung von Christa Schuenke. Gibt es so etwas wie einen weiblichen Übersetzungsstil? Ist das sehr in Mode gekommene Wort vom „weiblichen“ bzw. „männlichen Blick“ auch übertragbar auf das Übersetzen der Sonette?

Ich glaube nicht, dass es einen weiblichen Übersetzungsstil gibt. Hingegen glaube ich, dass gewisse Verse sich mit weiblichem Auge anders lesen als mit männlichem. Dass diese Verschiedenheit des Blicks sich auf die Übersetzung auswirkt, scheint mir auf der Hand zu liegen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass beispielsweise ein Mann den Anfang des 10. Sonetts ebenso übersetzen würde wie ich.[11] Aber hier kommt noch etwas anderes ins Spiel, was mit meinem Dasein als professionelle literarische Übersetzerin zu tun hat. Ich bin Übersetzerin mit Leib und Seele, und als solche kann ich nur dann gut übersetzen, wenn ich den Autor liebe oder ihn im Verlaufe der Auseinandersetzung mit seinem Werk lieben lerne. Ich meine, es gibt so etwas wie einen poetischen oder meinethalben kreativen Eros, der seine Pfeile abschießt, wenn eine Frau das Werk eines Mannes übersetzt. So entstehen Werktreue und zugleich wirkungsäquivalente Übersetzungen aus der Spannung zwischen der Liebe zum Autor, die zur Treue gegenüber dem Original verpflichtet, und der Kreativität des Übersetzers oder der Übersetzerin, die dem eigenen Stilwillen zwar nachgibt, aber nicht zulässt, dass dieser den des Autors überwuchert.

Welche Gründe wären zu nennen, warum keine der bisherigen Sonettübersetzungen den klassischen Status der Schlegel-Tieck-Übersetzung erreicht hat? Ist dies überhaupt anzustreben?

Aus allem bisher Gesagten ergibt sich, dass ich den, wie Sie sagen, klassischen Status der Schlegel-Tieck-Übersetzungen nicht angestrebt habe. Diese Übersetzungen stellen für ihre Zeit und darüber hinaus eine bewundernswerte Leistung dar, aber die Zeit ist über sie hinweggegangen, die Sprache ist über sie hinweggegangen, und vor allem sind die Sonette in meinen Augen eben nicht das Werk eines Klassikers, eines Olympiers, sondern eines jungen Dichters, der die emotionale Zerreißprobe einer bestimmten Phase seines Lebens schreibend reflektiert und vielleicht bis zu einem gewissen Grade auch bewältigt. Es kann sein, dass ich mich irre, aber mit meinen (möglicherweise eben weiblichen) Augen betrachtet, sind die Sonette mit Abstand die privateste Dichtung, die Shakespeare hinterlassen hat.

Arthur Schopenhauer hat einmal in Parerga und Paralipomena  gesagt, dass Gedichte unübersetzbar seien. Man könne sie nur umdichten, „welches allezeit misslich“ sei. Welche Assoziationen verbinden Sie mit dem Begriff „Umdichtung“? Was würden Sie Arthur Schopenhauer entgegnen?

Da fällt mir natürlich sofort Stefan George ein, der seine Übersetzung der Sonette dezidiert als Umdichtung bezeichnet hat. Und eine solche ist es wohl. Meine ist nicht einmal eine Nachdichtung, jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem ich diesen Begriff verstehe, sondern wirklich eine Übersetzung. Was aber Schopenhauers Vorurteil in puncto Übersetzbarkeit von Gedichten angeht, so würde ich um eine differenziertere Betrachtung bitten. Es gibt durchaus Gedichte, die ich persönlich für unübersetzbar halte, weil mein Können nicht ausreicht, um sie zu übersetzen. Ein Beispiel dafür ist in meinen Augen William Blake. Oder Emily Dickinson. Beide sind übersetzt worden, ebenso der gleichfalls nahezu unübersetzbare William Wordsworth. Auf die Gefahr hin, arrogant zu wirken, und obwohl ich mich den Kollegen Thomas Eichhorn (Blake) und Wolfgang Schlüter (Wordsworth) seit vielen Jahren freundschaftlich verbunden weiß und Gunhild Küblers (Dickinson) Übersetzung sogar streckenweise als Mentorin begleiten durfte, muss ich gestehen, dass mich keine dieser Übersetzungen zufriedenstellt. Da geht – notwendigerweise – zu viel verloren. Das ist bei den Shakespeare-Sonetten nicht anders. Nur lassen die Verluste sich dort vielleicht besser wettmachen. Ich denke immer, je strenger die Form – und es gibt wenige Formen, die strenger sind als das Sonett –, desto mehr „Halt“ hat man als Übersetzer. Das Korsett von Reim und Metrum zwingt einen zu konzentriertem Vorgehen bei der Auswahl aus dem gesamten poetischen Material jedes einzelnen Sonetts, die man als Übersetzer immer treffen muss. Meine Erwiderung an Schopenhauer lautet bei allem schuldigen Respekt: Eigentlich sind Gedichte durchaus übersetzbar – nur eben längst nicht alle.

Rolf Breitenstein sagt in einer Rezension zu Ihrer Übersetzung: „Das sind einfühlsame, eingängige Verse mit einem aktuellen Klang, mit hohen und frivolen Tönen, wie sie auf Shakespeares breiter Klaviatur angelegt sind.“[12] Haben musikalische Assoziationen für Sie bei der Übersetzung der Sonette eine Rolle gespielt und wenn ja, welche?

Oh ja! „All art constantly aspires towards the condition of music, because, in its ideal, consummate moments, the end is not distinct from the means, the form from the matter, the subject from the expression“, sagt Walter H. Pater. Diesem Ideal der Einheit in Vollkommenheit, die Pater der Musik konzediert, kommt die Lyrik von allen anderen Künsten vielleicht am nächsten. Das Wort Sonett kommt vom italienischen Verb sonare, ein Sonett ist also ein Kling-Gedicht. Ich bekenne mich, wie Pater, dazu, dass die Form die Form des Inhalts ist, Inhalt und Form einander also bedingen. Insofern kam für mich von vornherein nur eine formal treue, um größtmögliche inhaltliche Annäherung bemühte Übersetzung in Betracht. Und dass diese Übersetzung im Nachhinein eine ganz stattliche Reihe von Komponisten und Sängerinnen zu höchst unterschiedlichen Vertonungen und Interpretationen meiner Übersetzung inspiriert hat, ist mir eine große Freude. Besonders spannend finde ich die musikalische Umsetzung durch den kanadischen Singer-Songwriter Rufus Wainwright. In einem Radio-Interview berichtet Wainwright, wie er zunächst aus dem Text von Shakespeares XX. Sonett („A woman’s face, with nature’s own hand painted / Hast thou, the master-mistress of my passion“) eine Song gemacht und dann für die Inszenierung, die Robert Wilson 2009 am Berliner Ensemble herausbrachte, ca. 25 Sonette in der Originalsprache vertont hat. Seine Musik ist also auf das Original bezogen, und da, wo sie auf der Bühne mit einem deutschen Text gesungen wird, verändert sie diesen fast automatisch, weil weder Wainwright noch Wilson gut genug Deutsch können, um einen Unterschied, der für mich als Autorin der deutschen Übersetzung ganz wichtig ist, auch nur zu bemerken. So singt der Chor der Schauspieler im vorletzten Bild bei Sonett LXXXVII „Nur dir verdanke ich, dass ich dich hab, / Doch wie verdien ich dieses reiche Glück? / Ich blieb den Anlass schuldig für die Gab, / Drum geht mein Privileg an dich zurück.“ Für mich ist es eine Qual, das zu hören! In meiner Übersetzung heißt das Reimpaar selbstverständlich „habe – Gabe“, denn obwohl ich mich grundsätzlich bemüht habe, in Annäherung an das Original möglichst wenige weibliche, also auf eine unbetonte Silbe endende Reime zu verwenden, war hier der weiche Ausklang dieser beiden Verse ganz unverzichtbar für den melodischen Bogen des Gedichts. Die Musik ließ sich nicht mehr ändern, die Schauspieler hatten gelernt, die deutschen Verse bewusst falsch zu betonen, damit sie auf Wainwrights Musik passten. Aber zum Glück geht der wunderbare Jürgen Holtz in dieser Szene durch den Chor seiner Kollegen und spricht den Text noch einmal, während die anderen ihn singen. Auch er sagte am Anfang „ich hab“ und „die Gab“, verstand aber auf der Stelle meinen Einwand und änderte auf meine Bitte hin seinen Text, sodass nun wenigstens er spricht: „Nur dir verdanke ich, dass ich dich habe, / Doch wie verdien ich dieses reiche Glück? / Ich blieb den Anlass schuldig für die Gabe, / Drum geht mein Privileg an dich zurück.“

Ihre Übersetzung wurde auch mehrfach auf CD aufgenommen, so erschien 2005 im Hoffmann und Campe-Verlag die Hör-CD „Leitstern, der verirrte Schiffe lenkt“. Es wurden für die Aufnahme einige wenige Veränderungen vorgenommen. Wurden Sie vorher von diesen Veränderungen unterrichtet? Können Sie auf einige Varianten eingehen?

Ich war entsetzt, als ich die CD gehört habe, denn keine dieser gar nicht so wenigen Änderungen war mit mir abgesprochen worden, und ich hätte zu keiner einzigen mein Einverständnis gegeben. Bei einem Sonett fehlte das Couplet, bei einem anderen war aus dem „Freund“ eine Freundin, aus dem „Gott der Liebe“ eine Göttin geworden, und ganz arg hat man es bei Sonett CXVI getrieben, wo aus dem im Original und auch bei mir männlichen lyrischen Ich ein weibliches gemacht wurde. Hinzu kamen mehrere Versprecher und „verschluckte“ Konjunktionen – Schlampereien, die bei einer so strengen Versform leider ganz schnell sinnentstellende Wirkung haben können. Alles in allem lag hier eine massive Urheberrechtsverletzung vor, gegen die ich erfolgreich gerichtlich vorgegangen bin. Der Verlag durfte die CD zwar mit allen Änderungen weiter vertreiben, musste allerdings dem Booklet eine im selben Design gestaltete Liste mit allen Abweichungen von meiner Übersetzung beifügen. Es passiert leider immer wieder, dass Verlage oder andere Verwerter die eigenständige schöpferische Leistung von Übersetzern nicht anerkennen und sich deren Arbeit aneignen, um damit nach ihrem Belieben zu verfahren.

Bei der Übersetzung von Gulliver’s Travels war es Ihr Anliegen, die Übersetzung im Stil des Originals zu gestalten, also z. B. keine Wörter, die es damals noch nicht gab, zu benutzen. Was würde dagegen sprechen, dieses Übersetzungsprinzip auch für die Sonette anzuwenden?

Die Konsequenz, mit der ich beim Gulliver nur solche Wörter verwendet habe, die erst seit ca. Mitte des 18. Jahrhunderts im Deutschen gebräuchlich sind, wäre bei den Sonetten kontraproduktiv gewesen. Bei Swift wollte ich eine Übersetzung schaffen, die den Sprachstand des Deutschen um die Entstehungszeit des Originals erkennbar macht. Bei Shakespeare ging es mir um eine Übersetzung der Sonette in – und für – unsere Zeit. Was Swift im Gulliver über die condition humaine schreibt, das altert nicht und trifft auch auf uns heute zu, weil es eben mit den ewigen Stärken und vor allem Schwächen unserer Spezies zu tun hat. Aber die Geschichte selbst, die Kulturtatsachen, die Swift beschreibt, sind obsolet. So einen Roman könnte heute nicht der kühnste Fantasy-Autor mehr schreiben. Was aber Shakespeare in den Sonetten mitteilt, das hat ein für allemal Bestand. Es wäre also töricht, es heute in einer antiquierten Sprache nachzuerzählen. Mir ging es ja bei den Sonetten gerade darum, ihre Modernität zu zeigen.

Rainer Kirsch spricht in seinem gleichnamigen Buch[13] über das Wort und seine Strahlung. Spielt für Sie das Wort in der Lyrik-Übersetzung eine andere Rolle als bei einem Prosa-Text?

Oh ja. Gedichte bestehen aus Wörtern, Prosa besteht aus Sätzen. Verse sind natürlich oft auch Sätze, aber keineswegs immer, und vor allem ist das Wort im Gedicht die entscheidende Größe, der Satz, die Syntax, ist immer untergeordnet. Das arbeitet Kirsch in diesem schmalen Essayband, den ich seit Jahrzehnten zu meinen wichtigsten Lehrbüchern zähle, sehr genau heraus.

Ihre Übersetzung ist auch für zahlreiche Theaterinszenierungen (u. a. in Berlin, Bremen, Stuttgart, Ingolstadt, Zürich usw.) und andere (z. B. musikalische Produktionen) benutzt worden. Wie erklären Sie sich das? Gab es für Sie auch unerfreuliche Ereignisse im Zusammenhang mit diesen Produktionen?

Einige dieser Produktionen kenne ich gar nicht. Nicht immer sind Theaterleitungen und freie Gruppen so freundlich, sich mit der Lizenzabteilung meines Verlags in Verbindung zu setzen, und immer wieder kommt es vor, dass ich nur durch Zufall (z. B. weil eine freundliche Kollegin in einer Vorstellung im Globe Theatre in Neuss war, dort Senta Berger meine Übersetzungen vortragen hörte und mich informiert hat) von Inszenierungen oder Veranstaltungen erfahre. Das ist immer ärgerlich. Ich informiere meinen Buchverlag und meinen Bühnenvertrieb, die müssen sich mit den Verwertern ins Benehmen setzen, und das alles für ein paar Euro, wahrlich keine großen Summen. Ich bin immer wieder erschrocken darüber, wie gering der Respekt von Künstlern gegenüber Kollegen in einem anderen Fach ist. Literarisches Übersetzen ist eine Kunst, genauso wie das Vortragen von Gedichten oder das Malen eines Bildes. Aber abgesehen von der CD bei Hoffmann und Campe hatte ich keine unerfreulichen Erlebnisse mit der inhaltlichen oder ästhetischen Umsetzung meiner Übersetzung. Es käme mir freilich auch nicht zu, mich in die Konzepte von Regisseuren oder Komponisten einzumischen. Die Übersetzungen sind in der Welt und dürfen gebraucht werden.

Halten Sie es für sinnvoll, Sonettübersetzungen untereinander zu vergleichen?

Sehr. Vorausgesetzt, Menschen interessieren sich fürs Übersetzen, für Gedichte und womöglich auch noch für Shakespeare. Ich habe immer wieder Workshops und Vorträge gehalten, bei denen ich selbst solche partiellen Vergleiche bestimmter Passagen vorgeführt habe. Dabei habe ich jedes Mal gesehen, dass die Teilnehmenden etwas darüber gelernt haben, wie Verse funktionieren, welchen Regeln gebundene Sprache folgt und worin sich Lyrik von Prosa unterscheidet. Das könnte man natürlich auch mit anderen Lyrikübersetzungen machen, nur ist es bei den Sonetten besonders interessant, weil hier so viel Vergleichsmaterial vorhanden ist.

Nach Ihrer Übersetzung gab es weitere Neuübersetzungen des ganzen Zyklus. Eine davon in Prosa, drei andere im Dialekt. Wie stehen Sie zu dieser Möglichkeit der Sonett-Übersetzung?

Wenn man gereimte, streng metrisch organisierte Gedichte, egal ob Sonette, Oden, Vilanellen, Ghaselen oder was auch immer, ihrer Form entkleidet, sind es keine Gedichte mehr. Für mich gibt es nicht ein einziges Argument, das für eine Prosaübersetzung spräche, denn das ist in jedem Fall eine Zerstörung des Gedichts. Ich liebe Gedichte zu sehr, als dass ich es übers Herz brächte, sie zu zerstören. Was Dialektübersetzungen angeht, so möge jeder tun, was er für richtig hält. Mein Zugang ist das nicht. Dialekt ist etwas Wunderbares, und eine Übersetzung in einen Dialekt kann etwas sehr Ehrenwertes sein, wenn es wirklich darum geht, ein Werk Menschen zugänglich zu machen, die tatsächlich nur ihren eigenen Dialekt und keine Hochsprache beherrschen. Aber wo gibt es in Deutschland noch solche Populationen? Also ist stets die Gefahr da, dass die Texte im Dialekt ironisiert oder humorig dargeboten werden. Damit kann ich nicht viel anfangen. Vielleicht auch, weil das, wovon die Sonette sprechen, so ernst ist und weil ich es so wichtig finde.

Viel ist schon über das Veralten von Übersetzungen gesprochen worden. Ihre Übersetzung ist nun auch schon 20 Jahre alt, andere Übersetzungsversuche sind schon längst vergessen, die Ihrige hat sich als Kunstwerk durchgesetzt. Worin sehen Sie hauptsächlich die Gründe für diesen schönen Erfolg?

Ich denke, das liegt einfach daran, dass ich mit dieser Übersetzung irgendwie einen Nerv getroffen habe – und, ganz wichtig, dass sie sprechbarer ist als die meisten anderen und sich daher besser zum Bühnenvortrag eignet. Dass meine Übersetzung einen Nerv getroffen zu haben scheint, dafür kann ich nichts. Es ist halt passiert, und es freut mich natürlich. Aber die Sprechbarkeit war Programm. Gedichte leben davon, dass man sie laut liest. Das war mir von Anfang an sehr wichtig

Keine der älteren Komplettübersetzungen (mit Ausnahme der von Gottlob Regis und Stefan George) hat eine so große Auflagenzahl erreicht wie die Ihrige. Verraten Sie uns die letzte Auflagenzahl? Was bedeutet dieser enorme Erfolg für Sie? Könnte man schon von einem Klassiker sprechen – haben die Deutschen nun endlich ihre klassische Sonett-Übersetzung so wie viele in Schlegel-Tieck immer noch Ihren Shakespeare sehen?

Über meine Übersetzung geht die Zeit genauso hinweg wie über jede andere. Das liegt in der Natur der Sache. Übersetzungen altern. Aber manchmal braucht es eben mehr als 20 Jahre, bis sie obsolet sind. Aber auch die alten – Eduard Sänger, Terese Robinson, Otto Gildemeister, Stefan George sowieso – sind ja nicht untergegangen. Sie werden immer noch neben meiner und anderen neuen Übersetzungen gedruckt, performt oder was auch immer. Ich bin sehr glücklich darüber, dass meine Übersetzung neben denen der großen Kollegen vergangener Zeiten bestehen kann. Es gab drei kleine Auflagen von jeweils zwei- bis dreitausend im Straelener Manuskripte Verlag, in dem das wunderschöne Hardcover 1994 erschien, und es gibt bei dtv mittlerweile die sechste oder siebente Auflage seit 1999. Bei dtv umfasst eine Auflage natürlich erheblich mehr Exemplare. Jedenfalls kann ich ohne Übertreibung sagen, dass keine meiner insgesamt ca. 150 literarischen Übersetzungen mir so viel Tantiemen eingetragen hat wie die der Sonette. Die anderen haben mir nämlich mit ein, zwei Ausnahmen gar nichts an Beteiligungen eingebracht, weil sich nur ganz wenige mehr als zehntausend Mal verkauft haben. Mit den Sonetten bin ich keineswegs reich geworden, aber es tröpfelt immer noch – seit 20 Jahren, und das ist schon erstaunlich.

In seiner Rede anlässlich der Wieland-Preis-Verleihung am 18. November 1997 in Biberach/Riss sagte der damalige Bundespräsident Roman Herzog u. a. über den Übersetzerberuf: „Daß man mit einem der wichtigsten Berufe, die unser Geistesleben kennt, seinen Lebensunterhalt in der Regel nicht bestreiten kann, ist im Grunde skandalös. Die prekäre finanzielle Situation, in der die allermeisten von Ihnen leben, kann einen nur traurig stimmen. Wahrscheinlich gibt es im gesamten kulturellen Leben kaum einen Beruf, der sich so unterbezahlt vorkommen muß.“ Hat sich die Situation seit 1997 für die Übersetzer/innen in Deutschland geändert. Was wäre noch zu tun?

Es gibt geringfügige Verbesserungen, kaum bei den Seitenhonoraren, wohl aber, wenn auch wirklich nur in bescheidenem Maße, bei den Erfolgsbeteiligungen. Nachdem die Verlage zunächst gar nicht bereit waren, mit dem Übersetzerverband ernsthaft über eine allgemeingültige Vergütungsregel zu verhandeln, wie es uns der Gesetzgeber nach der Reform des Urheberrechts von 2002 aufgetragen hatte, sind einige Übersetzer erfolgreicher Unterhaltungsliteratur vor die Gerichte gezogen. In der Folge kam es 2008 zu einem Urteil des BGH, wonach den Übersetzern ab dem 5.001. verkauften Exemplar eines Buches eine Umsatzbeteiligung von 0,8 Prozent vom Nettoladenpreis zusteht. Nun liegt auf der Hand, dass man von Juristen weder literarische Kompetenz noch ein tieferes Verständnis für die spezifischen Probleme des literarischen Übersetzens erwarten kann. Eine verbindliche gemeinsame Vergütungsregel, die auch bei den Seitenhonoraren zumindest ein erster Schritt zu einer Verbesserung unserer Einkommenssituation gewesen wäre, wurde 2007 von einer Mehrheit innerhalb des VdÜ als nicht weitreichend genug abgelehnt. Seither sind wir auf diesem Gebiet nicht sehr viel weitergekommen. Von politischer Seite hat sich das Interesse in puncto Urheberrecht inzwischen auf das Internet verlagert, was natürlich ebenso wichtig ist. Der VdÜ hat gerade erst den Abschluss einer „Gemeinsamen Vergütungsregel“ mit einigen Verlagen bekannt gegeben. Mit einigen Abstrichen ist das eine gute Grundlage, das Problem ist aber, dass sich nur wenige Verlage dieser Übereinkunft angeschlossen haben und der Börsenvereins als Branchenvertretung der Verleger rundheraus ausschließt, das ihr weitere – vor allem die großen Publikumsverlage – beitreten werden. Man kann also aus meiner Sicht nicht von einer allgemein verbindlichen gemeinsamen Vergütungsregel  sprechen, wie sie 2007 möglich war, sondern allenfalls von einer Art erweitertem Hausvertrag, der zwischen einer Gruppe von Verlagen und dem Berufsverband der literarischen Übersetzer ausgehandelt wurde. Aber trotz der erklärten Zurückhaltung des Börsenverbandes ist diese neue Vergütungsregel zu begrüßen, weil damit eine viel zu lange Zeit des Stillstands beendet wird und sich die in ihr festgelegten Konditionen möglicherweise günstig auf künftige Gerichtsverhandlungen auswirken. Schließlich sollte auch den Konzernverlagen an Rechtssicherheit bei ihren Übersetzungsverträge gelegen sein.

Deutlich verbessert hat sich im Vergleich zu damals, Anfang der 90er Jahre, allerdings die sonstige Situation. Der Deutsche Übersetzerfonds, der 1997 auf Initiative der Übersetzerin Rosemarie Tietze, seinerzeit Präsidentin des Freundeskreises zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen gegründet wurde, schreibt nicht nur zweimal im Jahr Arbeits-, Reise- und Weiterbildungsstipendien aus, sondern bietet eine Vielzahl von themenspezifischen Weiterbildungsseminaren an, die von renommierten Übersetzern gemeinsam mit Verlagslektoren oder anderen Spezialisten geleitet werden. Und auch in der öffentlichen Wahrnehmung der literarischen Übersetzer hat sich etwas gebessert. Aber trotz allem sind noch viele Wünsche offen. Das A und O sind angemessene Seitenhonorare und faire Beteiligungen, denn nur so lässt sich der Altersarmut freiberuflicher Literaturübersetzer vorbeugen. Ich selbst habe z. B. nach über 40 Arbeitsjahren und ca. 150 übersetzen Büchern eine Monatsrente von unter 600 € und kann nur hoffen, dass ich noch lange in der Lage sein werde, ein, zwei Bücher im Jahr zu übersetzen, um meine Miete zahlen zu können. Und das ist heute noch genauso skandalös wie vor 17 Jahren, als Roman Herzog diesen Zustand beklagte.

[1] Johann Joachim Eschenburg, „Shakspeare’s Sonnete“, in: Ders. Ueber W. Shakspeare (Zürich: Orell, Geßner, Füßli und Comp., 1787), S. 571-633.

[2] Vgl. hierzu die Besprechung von Geret Luhr unter: https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=144 (Zugriff: 01. März 2014).

[3] William Shakespeare, The Sonnets. Die Sonette. Übersetzung und Nachwort von Christa Schuenke. Mit einer CD Fünfzig Sonette zum Hören (Straelen: Straelener Manuskripte Verlag, 1994).

[4] Basler Zeitung, zitiert nach: http://www.christa-schuenke.de/kritik/kr_shakespeare.htm (Zugriff: 1. März 2014).

[5] „Ein Gespräch mit Christa Schuenke. Sprachpflegerisch unterwegs“, Bücher Magazin, 3 (2012), S. 100. http://www.buecher-magazin.de/magazin/besondere-buecher/botschaften-aus-babel/sprachpflegerisch-unterwegs (Zugriff: 1. März 2014).

[6] Christa Schuenke, „Liebe ist nicht der Narr der Zeit. Dankrede der Preisträgerin anläßlich der Verleihung des Wieland-Übersetzerpreises“, http://www.christa-schuenke.de/aktuelles/wieland_preis.htm (Zugriff: 1. März 2014).

[7] Vgl. auch die Rezension von Sophia Willems, „Himmel, der in die Hölle zieht. Christa Schuenkes wunderbare Neu-Übersetzung von Shakespeares 154 Liebes-Sonetten“, Westdeutsche Zeitung, 31. Dezember 1994, o. S. Besonderes Lob zollt die Rezensentin auch der „erlesenen Schlichtheit von Druck und Design“ des Graphikers und Künstlers Klaus Detjen. Es sei „ein Buch, wie es im Buche steht“. 

[8] 25 Sonette (43 [=Prolog/Akt I.1], 148, 76, 53, 18, 10, 121, 91, 20, 40, 143, 102 [=Akt I], 29, 23, 144, 127, 147, 66, 113, 107, 71, 44, 129, 87 [=Akt II], 154 [=Epilog]). Außer Sonett 23 (Übersetzung von Martin Flörchinger) sind alle Sonette von Christa Schuenke übersetzt.

[9] Anne Peter, „Shakespeares Sonette – Ein neuer einnehmender, schönfarbiger Robert-Wilson-Abend“, http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=2679%3Ashakespeares-sonette-ein-neuer-einnehmender-schoenfarbiger-robert-wilson-abend&catid=50&Itemid=40 (Zugriff: 1. März 2014).

[10] George Steiner, After Babel. Aspects of Language and Translation. Second Edition (Oxford: Oxford University Press, 1992); 1. Auflage, 1975.

[11] Sonett 10, Z. 1-4:
For shame deny that thou bear’st love to any
Who for thy self art so unprovident.
Grant if thou wilt, thou art beloved of many,
But that thou none lov’st is most evident:

Christa Schuenke:
Willst du noch leugnen, daß du nichts liebst, keinen?
Du, der kein Fünkchen Eigenliebe kennt!
Daß dich die andern lieben, will ich meinen,
Doch daß du niemand liebst, ist evident;

Vgl. etwa Hanno Helbling:
So leugne: keinem kannst du sie gewähren,
die Liebe, die du auch dir selbst nicht gibst;
gestehe nur, daß viele dich verehren,
erwiesen ist, daß du nicht eine liebst.

[12] Rolf Breitenstein, „Die neue Lust auf die Sonette“, HNA, 1./2. Mai 1995, o. S.

[13] Rainer Kirsch, Das Wort und seine Strahlung, Essays zur Dichtungstherorie, Aufbau Verlag, Berlin 1976.

Dies ist eine revidierte und erweiterte Fassung des Beitrags „‚Damit die Rose Schönheit nie verdorrt’ Christa Schuenkes neue Gesamtübersetzung der Shakespeareschen Sonette“, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 232 (1995), 163-173. Mit freundlicher Genehmigung des Erich Schmidt Verlags.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz