Familienbande

Jutta Ditfurth untersucht in „Der Baron, die Juden und die Nazis. Reise in eine Familiengeschichte“ die Rolle ihrer adligen Familie in der Zeit des Nationalsozialismus

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Nazi, Antisemit, kulturpolitische Strippenzieher, der jüdische Menschen aussortiert hatte und Fotos seiner geliebten Nazi-Führer sammelte, der mit NS-Verbrechern am Kamin geplaudert und in der Saale gebadet hatte, Goebbels, Hess und Frick angeschwärmt und mit ihnen völlig übereingestimmt hatte, zog sich zurück auf die Rolle des unpolitischen, christlichen Dichters, dem Politik fremd war. Die Ratte verließ das sinkende Schiff, auf dem sie so wohl genährt worden war.“ So resümiert Jutta Ditfurth die Entwicklung ihres Urgroßonkels Börries Freiherr von Münchhausen zum Ende des Nazi-Regimes hin.

Börries Freiherr von Münchhausen war Landadliger, Dichter, Senator der „Deutschen Akademie der Dichtung“ und wurde 1944 von Adolf Hitler in die „Gottbegnadeten-Liste“ der wichtigsten deutschen Künstler aufgenommen. Als Adliger repräsentierte Münchhausen eine gesellschaftliche Gruppe, die nach dem Versailler Vertrag an Relevanz eingebüßt und sich in der Weimarer Republik vom Schreckgespenst des Kommunismus und der Verstaatlichung von Großgrundbesitz als einer seiner Kernforderungen bedroht sah. Demzufolge bekleideten Adlige hohe Ämter in Militär und Verwaltung des Nazi-Regimes und waren wesentliche Stützpfeiler des nationalsozialistischen Apparates sowie relevante Multiplikatoren der kruden Nazi-Ideologie. Die Rolle ihres Vorfahren in der Zeit des Nationalsozialismus, seine Position in der Familiengeschichte und die sozio-historischen Bezüge stehen im Mittelpunkt von Ditfurths familiengeschichtlicher Untersuchung.

Jutta Ditfurth – streitbare ökosozialistische Linke, Gründungsmitglied der Grünen, dann im Jahr 1991 Partei-Dissidentin, Tochter des in den 1970er-Jahren bekannt gewordenen Populärwissenschaftlers und Fernsehmoderators Hoimar von Ditfurth – legte schon früh das „von“ in ihrem Namen ab, um auch nach außen hin zu demonstrieren, dass sie als Linke, deren Ideenwelt feudalen Grundprinzipien diametral gegenüberstand, sich von ihrer aristokratischen Herkunft distanzierte und jeglichen adligen Standesdünkel von sich wies.

Ihre Untersuchung ist ähnlich gelagert wie die jüngst diskutierte Aufarbeitung der Familiengeschichte des Industriellen Rudolf-August Oetker, dessen Nachfahren eine Historiker-Kommission beauftragt hatten, die Rolle von Rudolf-August Oetker in der Zeit des Nationalsozialismus zu untersuchen. „Nestbeschmutzer“ war unter anderem eine Bezeichnung, die innerhalb der Oetker-Familie denjenigen Familienmitgliedern zugedacht wurde, welche die Aufklärung maßgeblich vorantrieben. Ähnliches dürfte sich Ditfurth nach ihrem Buch innerhalb ihrer Familie auch anhören müssen. Sie beauftragte keine Historiker mit der Untersuchung, sondern machte sich, unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters, selbst auf, um – von Reisen an die maßgeblichen familiengeschichtlichen Schauplätze in der ehemaligen DDR inspiriert und sich immer wieder Erzählungen der Verwandten aus ihrer Kindheit ins Gedächtnis rufend – das Verhältnis ihrer Vorfahren zum Judentum zu beleuchten.

Die antisemitische Tradition ab dem Mittelalter aufgreifend – sichtbar etwa in Martin Luthers antisemitischen Ausfällen oder in der Entstehung des jüdischen Ghettos 1462 in Frankfurt am Main –, beginnt Ditfurth mit ihrer Recherche im frühen 19. Jahrhundert und konstatiert, sie habe in ihrer Familiengeschichte seit diesem Zeitpunkt kaum Angehörige gefunden, die keine dezidiert antisemitische Haltung gehabt hätten.

Im Zentrum ihrer Untersuchung steht ihr Urgroßonkel Börries Freiherr von Münchhausen, dessen Werdegang detailliert und quellenreich untersucht wird. Schon früh zeigte er, standes- und zeittypisch, ein distanziertes, aber zunächst immerhin noch wohlwollendes Verhältnis zum Judentum, was sich etwa in einem breiteren jüdischen Freundeskreis dokumentierte. 1900 verfasste er mit der Balladensammlung „Juda“ ein Werk, das fortan trotz oder auch gerade wegen der späteren Überarbeitungen das zentrale Werk sein sollte, mit dem er identifiziert wurde. Dieses thematisiert die Huldigung der jüdischen Kultur, die Münchhausen zu diesem frühen Zeitpunkt noch als geheimnisvoll und fremd, aber durchaus von Wert empfindet. Zugleich wendet er sich gegen eine Vermischung mit der deutsch-christlichen Kultur und wünscht sich die Entstehung eines zionistischen Staates, der die fremdartig erscheinenden Juden aufnehmen möge. Eine solche Haltung war im Grunde schon verbrämt antisemitisch, nur zu diesem Zeitpunkt noch nicht extrem oder gar pogromhaft geprägt. Später dann „säuberte“ Münchhausen seinen Freundeskreis von jüdischen Mitgliedern, kommunizierte offen antisemitisch und half mit anderen, die Dichterakademien, denen er angehörte, konsequent und ohne moralische Bedenken von jüdischen Mitgliedern zu „reinigen“.

Ditfurths Buch ist eingehend recherchiert, faktenreich, gut lesbar geschrieben und in der Darstellung unbestechlich. Meint man zunächst noch, die Darstellung beziehe ihr Momentum aus dem Spannungsverhältnis zwischen einer wie auch immer empfundenen Verbundenheit zur Familie und Familiengeschichte einerseits und dem unbedingten Aufklärungs- und Richtwillen andererseits, stellt man schnell fest: Dieses Spannungsverhältnis gibt es nicht, Ditfurth scheint kein für Apologien anfälliges emotionales Verhältnis zu ihrer Herkunft und ihren Vorfahren zu haben. Das Momentum der Darstellung speist sich vielmehr aus der Distanziertheit und dem unbedingten Willen, unbestechlich und unbarmherzig über ein Verhalten zu richten, dem letztlich auch nur unbestechlich und unbarmherzig im Sinne einer wissenschaftlich orientierten Aufarbeitung zu begegnen ist – verwandtschaftliche Beziehungen hin oder her. Somit geraten in ihrer Darstellung die Familienbande unversehens und schonungslos zur Familienbande. Dabei geht es Ditfurth ausdrücklich auch um die Entmystifizierung des adligen Widerstands gegen Hitler, kulminierend im Stauffenberg-Attentat: Die adligen Widerständler waren zwar aus politischen und militärischen Gründen gegen Hitler, aber in ihrer feudal-elitären, nationalistischen Geisteshaltung eben antisemitisch.

Auch wenn die Rolle des Adels im Nationalsozialismus mittlerweile generell gut erforscht ist, hat Ditfurth diesem Themenkomplex mit der Darstellung des Werdegangs von Börries Freiherr von Münchhausen eine weitere Facette hinzugefügt. Es ist aufschlussreich zu sehen, wie Ditfurth die krude Geisteshaltung ihres Urgroßonkels offenlegt, der unverblümt antisemitisch war und nach einer anfänglichen Tolerierung parallel zur Entwicklung der Politik des Nationalsozialismus dafür sorgte, dass aus seinem sozialen und kulturellen Umfeld alles Jüdische getilgt wurde, aber doch zuletzt noch voller Überzeugung äußerte: „Ich bin kein Antisemit“. In diesem Punkt transzendiert die Darstellung Ditfurths denn auch aus einer historisch abgeschlossen geglaubten Epoche in die heutige Zeit, denn die widersprüchliche Haltung Münchhausens ist von gegenwärtig anzutreffenden Meinungen nach dem Motto „Ich habe ja nichts gegen Ausländer (wahlweise: Asylanten, Homosexuelle, Farbige, Andersgläubige…), nur sollen sie dort bleiben, wo sie hingehören“ nicht allzuweit entfernt. Hier gelingt es Ditfurth, eine Haltung zu entlarven, die sich nach außen als offen und tolerant geriert, tatsächlich aber borniert, inhuman und damit latent gefährlich ist. Nicht nur, aber auch aus diesem Grund, ist Ditfurths Buch wichtig.

Titelbild

Jutta Ditfurth: Der Baron, die Juden und die Nazis. Reise in eine Familiengeschichte.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013.
400 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783455502732

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