"Mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens"

Siegfried Unselds Goethe-Bücher

Von Manu SlutzkyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manu Slutzky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Goethe und seine Verleger", die Monographie des Frankfurter Verlegers Siegfried Unseld, ist ein wissenschaftliches und zugleich ein persönliches Werk: "Ein heutiger Verleger, mit der heutigen Problematik der Autoren-Verleger-Beziehung vertraut, und also mit Erfahrungen, die er in seiner Arbeit zu verwirklichen sucht, wirft von heute aus sein Augenmerk auf Goethes besonderen Umgang mit den Verlegern seiner Zeit." Es ist eine Goethebiographie am Leitfaden der Erfahrungen, die der wichtigste Autor seiner Zeit mit seinen Verlegern gemacht hat. Erfahrungen, die andere Autoren mit anderen Verlegern so oder ähnlich wiederholt haben. Die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen mögen sich ändern, bestimmte ›menschliche‹ Verhaltensweisen und daraus sich ergebende Fehler, Probleme und Schwierigkeiten wiederholen sich. Oder, weniger apodiktisch ausgedrückt: Man postuliert ahistorische Konstanten, glaubt, sich in ihnen widerzuspiegeln, projiziert die eigenen auf die fremden Beziehungen und wird dadurch selber lesbar und entzifferbar: "Wer über Goethe arbeitet, wird Fragen an Leben und Werk, an dessen innere und äußere Welt stellen, und diese Fragen sind notwendig an den gebunden, der sie aus seiner Sicht heraus stellt und deutet."

Die wichtigste und umfassendste Publikation Siegfried Unselds zu Goethe hat durchaus mit seiner Profession zu tun. Durch den Erwerb des Insel Verlages 1963 hat Unseld gewissermaßen das Erbe Anton Kippenbergs angetreten, der Goethes Werk zum Zentrum seines Verlagsprogrammes gemacht hat und der ein bedeutender Goethe-Forscher und Sammler war.

Die lange Lebens- und Schaffenszeit Goethes läßt auf dementsprechend langjährige und vielfältige Erfahrungen mit Verlegern schließen, noch dazu in einer Blütezeit der deutschen Literatur. Die Verlegerpersönlichkeiten, die dieses schöpferische Leben begleitet haben, sind - dem Autor entsprechend - ebenfalls herausragend gewesen, in ihren Vorzügen wie in ihren Fehlern. Und aus großen Fehlern lassen sich die Maximen geglückter Verlagsarbeit vielleicht noch am besten ableiten. Ein wichtiger Punkt ist auch, daß Goethe sein Werk in einer Phase verlegen läßt, als sich die Einstellung zu geistiger Urheberschaft und zu ihrem Besitz im umfassendsten Sinne des Wortes ändert. Als Goethe zu schreiben anfängt, sind das Urheberrecht und seine Nutzung noch nicht allgemeinverbindlich geklärt, Autoren wie Verleger haben gleichermaßen unter den Nachdruckern zu leiden. Selbst in vertraglich geregelten Beziehungen sind Autoren ihren Verlegern häufig ausgeliefert. Mit Goethe bekommt der Begriff des ›Autors‹ neues Gewicht und neue Qualität, er ist es, der - "lakonisch, imperativ, prägnant" - seinen Verlegern seine Vorstellungen diktiert, und er ist es, dem es 1825 gelingt, über die Gesandten des Bundestages das Privilegium seiner "Ausgabe letzter Hand" für alle deutschen Länder und Freien Reichsstädte zu erringen. Dies hat, nicht nur für Goethe selbst, weitreichende Folgen: "Gilt einmal ein solcher Schutz für das Werk eines Autors, kann er auch für andere Auoren gelten, und es könnte sich das entwickeln, was dann später tatsächlich erreicht wurde, nämlich ein allgemeines Urheber- und Verlagsrecht." Goethe hatte also nicht nur das eigene Werk und die eigenen Autor-Verleger-Verhältnisse im Blick, sondern er beabsichtigte, "auch die Situation des Autors in seiner Zeit neu zu bestimmen, des Autors, der sein Schreiben als Beruf ansieht." Siegfried Unseld sieht Goethe, nicht zuletzt deshalb, als Autor sui generis: "Goethe, was immer er tat, war Schriftsteller. Er war zum Schriftsteller geboren, und er starb schreibend."

Der Suhrkamp-Chef hat vermutlich niemals offener über das problematische Autor-Verleger-Verhältnis gesprochen als in seinem Goethebuch. Am historischen Gegenstand läßt sich über die Konflikte, die Verleger und Autoren miteinander auszutragen haben, auch leichter sprechen. Ein Autor-Verleger-Verhältnis ist trotz aller Differenzen ein Vertrauensverhältnis. Aktuelle Probleme sind diskret zu behandeln und zu lösen. Öffentlich schmutzige Wäsche zu waschen steht weder einem Autor noch einem Verleger gut an. Für die Öffentlichkeit besteht das Bild schlicht aus Erfolg und Harmonie. "Die Beziehung eines Autors zum Verleger" aber, wie auch die "des Verlegers zum Autor ist vielschichtig und kompliziert und selten auf das Manuskript beschränkt." Dem Satz von Horaz, daß Schriftsteller "problematische Naturen" seien, zum "genus irritabile vatum" gehörten, kann sich Unseld in seiner Goethe-Studie vorbehaltlos anschließen: diese "Zuordnung" gelte "bis zum heutigen Tage". Und er fügt hinzu: "Doch vielleicht sind auch Verleger problematische Naturen."

In seiner Goethe-Monographie schildert Unseld den Fall des Verlegers Göschen, der Goethe, Schiller und Wieland zu seinen Autoren zählen durfte, seinen Einsatz für Wieland aber derart übersteigerte, nämlich durch "eine gleichzeitige Veröffentlichung von vier separaten Ausgaben sämtlicher Werke Wielands in je 30 Bänden", daß seine beiden anderen Hausautoren, Goethe und Schiller, erkannten, wem sein eigentliches Interesse galt: "Göschen hielt nun einmal Wieland für den größten Dichter der Zeit, und er war unvorsichtig genug, diesen Superlativ öffentlich auszusprechen." Der Verleger Unseld, durch die ›Frankfurter Ausgabe‹ im Deutschen Klassiker Verlag selber zum bedeutenden Goethe-Verleger geworden, appelliert an die ›Gemeinschaft der Autoren‹, die vieles möglich macht, was sonst nicht möglich wäre. Bei Autoren, mit denen er Geld verdient, wird er nicht selten auch mehr Geld investieren, als bei solchen, mit denen er nichts verdient oder gar Verluste macht. Er wird versuchen, dafür auch bei jenen Autoren um Verständnis zu werben, die nicht im Zentrum seines verlegerischen Interesses stehen. Konflikte, Kränkungen, Eifersüchte, die bis zum Abbruch der Beziehungen führen können, sind hier fast vorprogrammiert.

Grundsätzliches Mißtrauen bezüglich der Honorare ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Regel: Die deutschen Autoren müssen ihre Werke häufig honorarfrei oder gegen dürftiges Entgeld verlegen lassen; hat ein Werk Erfolg, so ist bald den Raubdruckern kaum mehr beizukommen, die gar keine Honorare abführen; nicht selten betätigen sich die Verleger selber als Raubdrucker ihrer eigenen Autoren, und eine "sehr unschöne Usance" sind die sogenannten Doppeldrucke, also Auflagen, die "in Schüben verschiedener Drucke" zustande kommen. Für den Autor ist das Verfahren undurchsichtig und nachteilig, wenn er "für eine Auflage ein pauschales Honorar" erhält, aber nicht festgelegt ist, wie hoch die Auflage sein darf. Da außerdem jeder Nachdruck neu gesetzt werden mußte, schlichen sich auch neue Fehler ein. Angesichts dieser Bedingungen kann es nicht verwundern, daß die Autoren "ihren sehr mäßigen, wo nicht ärmlichen Zustand mit dem Reichtum der angesehenen Buchhändler" verglichen und auf die Idee verfielen, "sich von Verlegern unabhängig zu machen."

Die Beziehung Göschen-Goethe, die nach fünf Jahren scheiterte, gibt Unseld Anlaß zu grundsätzlichen Überlegungen über die Voraussetzungen für ein glückendes Verleger-Autor-Gespann. Die erste Maxime, die "Trennung des Geschäfts vom Leben", stammt von Goethe selbst: "Die Geschäfte müssen abstract, nicht menschlich mit Neigung oder Abneigung, Leidenschaft, Gunst p. behandelt werden, dann sezt Man mehr und schneller durch. Laconisch, imperativ, prägnant." Die Beziehungen sollten eng sein, die Kommunikation regelmäßig, die Verbindung direkt, die Geschäfte, bis zum Erweis des Gegenteils, auf der Basis gegenseitigen Vertrauens getätigt werden, wobei: "Vertrauen ist gut, die exakte Befolgung eines Vertrages jedoch das Bessere." Dazu sollte es selbstverständlich sein, daß der Verleger seinen Autor über den Fortgang der Verlagsgeschäfte informiert, Belegexemplare schickt usw.: "Aufgabe eines Verlegers ist nicht nur das Herstellen und das Verbreiten von Büchern, sondern auch der ständige Kontakt mit dem Autor, ihn zu informieren und ihn von wichtigen Begebenheiten in Kenntnis zu setzen."

Die jüngste Goethe-Publikation Siegfried Unselds ist mittelbar dem "Divan" gewidmet: "Goethe und der Ginkgo. Ein Baum und ein Gedicht". Das Buch beginnt mit einer Baumstudie: Der Ginkgo ist so alt, daß die Dinosaurier ihn gesehen haben müssen. Der Fächerblattbaum ist vermutlich die älteste Baumpflanze der Erde. Bis vor etwa 250 Jahren war er in Europa ausgestorben. Erst durch Engelbert Kaempfer kam der Ginkgo (vermutlich 1691) wieder in die alte Welt. Kaempfer kreierte auch die Schreibweise: gin = Silber, kyo = Aprikose, ginkyo = Silberaprikose. Durch einen Druckfehler ging die Schreibweise "Ginkgo" ins Linnésche System ein, das bekanntlich keine Änderung duldet. Goethe-Leser verbinden den Ginkgo mit einem der berühmtesten Gedichte aus dem "West-östlichen Divan": "Gingo biloba". Goethe hatte Marianne Willemer ein Blatt des Ginkgo-Baumes als "Sinnbild der Freundschaft" (Sulpiz Boisserée) geschickt und die besondere Form des Blattes in einem Vers umschrieben: "... daß ich eins und doppelt bin". Denn das Blatt des Ginkgo ist der Gestalt, daß man nicht weiß, "ob es eins" ist, "das sich in 2 teilt, oder zwei die sich in eins verbinden." Marianne Willemer (geboren 1884) war in der hohen Zeit des "West-östlichen Divans" Goethes Muse. Gemeinsam spielten sie das Hatem- und Suleika-Spiel - ein poetisches Gespräch, ein Wechselgesang.

1815 wird das Ginkgo-Blatt zum Symbol der Liebe des 66jährigen zu der jungen Frau, die seit 1814 mit dem Direktor des Frankfurter Theaters verheiratet ist. Beider Wechselgesang beginnt am 12. September 1815. Goethe spürt "Frühlingsrausch und Sommerbrand". An diesem Tag erhält Marianne das erste an sie gerichtete Gedicht, das Gedicht "Hatem". Marianne, und dies sei, so Unseld, "das Wunder ihrer Existenz", antwortet vier Tage später mit "Suleika". Goethe korrigiert den Text leicht, schreibt ihn ab und legt ihn zu seinen Manuskripten. Am 23. September zeigt er Marianne im Heidelberger Schloßgarten den dortigen Ginkgo-Baum. Marianne übergibt Goethe einen zweiten Suleika-Text, den sie auf der Fahrt geschrieben hat: Ein Lied an den Ostwind. Am 26. September trennen sie sich - und werden sich nie wiedersehen. Noch ein drittes Gedicht, das Lied an den Westwind, erhält Goethe aus Mariannes Feder. Texte, die seinen eigenen ebenbürtig sind. "Goethe klebt die Reinschrift der Gedichte ›Ostwind‹ und ›Westwind‹ in sein Manuskriptoriginal des ›Divan‹ ein". Dort liegt schon Mariannes Gedicht "Hochbeglückt in deiner Liebe". Er selbst schickt die erste Fassung seines Gedichts "Gingo biloba" am 27.9.1815 via Rosine Städel an Marianne.

Unselds Ginkgo-Buch ist insofern aufschlußreich, als es Einblick gibt in sein Verständnis von weiblicher und männlicher Produktivität. Der Verleger,von dem über zahlreiche Autoren umfangreiche Essays vorliegen, hat - soweit ich sehe - über keine Frau bisher so emphatisch geschrieben wie über Marianne Willemer: "Fraglos sind es bedeutende Gedichte, die Frau, die sie schrieb, eine Dichterin." Alle Essays, die Unseld Frauen gewidmet hat, stehen - dies wäre meine These - unter einem Vorbehalt: die "geniale Frau" kommt nur in relativierenden respektive distanzierenden Anführungszeichen vor. Und selbst bei Marianne ist spürbar, daß es - für Unseld - letztlich allein Goethe ist, "der schafft, schreibt, der schöpferisch ist", zugleich "eins und doppelt", der "großartige Regisseur seines eigenen Lebenskunstwerks". Goethe allein löst Mariannes Produktivität aus und beendet sie wieder.

In der Goethezeit waren die Verleger-Autor-Beziehungen in der Regel rein männlicher Natur. Aber auch sie bedurften der Pflege: Daß Göschen und Goethe einander persönlich nie gesehen haben, daß die einzige Begegnung Ungers und Goethes eher zufällig zustande kommt, ist Unseld sicher unbegreiflich. Denn es dient der Herstellung einer Vertrauensbasis, daß man einander persönlich spricht. Atmosphärische Störungen und bestimmte Konfliktsituationen lassen sich leichter, bisweilen ausschließlich lösen, wenn eine solche persönliche Verbindung einmal hergestellt worden ist und man gemeinsam um die Bewahrung dieser Basis kämpft. Immer wieder plädiert Unseld in seinem Goethebuch für Treffen von Autor und Verleger. Zwar gewinnt man bei Goethe und Cotta "den Eindruck einer außerordentlich fruchtbaren, soliden Verbindung", doch läßt in Unselds Augen das Verhalten des Verlegers auch zu wünschen übrig. So wichtige gemeinsame Pläne wie die Vorbereitungen zu einer "Ausgabe letzter Hand" und die Einholung der Privilegien zu ihr bespricht man nicht in Briefen. Sie sind nur persönlich zu lancieren, und doch kann sich Cotta zu einem Besuch bei Goethe nicht durchringen. Goethe ist verärgert, daß sich Cotta Mitte der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts mehr seinen politischen Ämtern und diversen wirtschaftlichen Unternehmungen widmet als seinen verlegerischen Pflichten: "für einen Verleger ein gefährliches Verhalten".

Mangelnde Sorgfalt und minderwertige Qualität bei der Herstellung ›unsterblicher Werke‹ sind oftmals Ursache unnötiger Gereiztheiten. Unseld erwähnt Goethes Ärger beim Anblick von "Das Römische Carneval", 1789 von Johann Friedrich Unger in Kommission bei Carl Wilhelm Ettinger gedruckt. "Ich habe diese kleine Schrift", schreibt Goethe an Johann Friedrich Reichardt, "mit der größten Sorgfalt gearbeitet und ein sehr schön geschriebnes Exemplar zum Druck gesandt, nun sind die abscheulichsten Druckfehler in den paar Bogen, die ich gar nicht mehr ansehn mag." Noch dazu hat der "Kleinmuth der Entrepreneurs [...] zu einer kleinen Auflage gerathen", die bald vergriffen ist und heute zu den bibliophilen Raritäten der Goethe-Literatur zählt.

Zu den bibliophilen Goethe-Publikationen Siegfried Unselds gehört - neben der "Ginkgo"-Schrift - auch der Band 1000 der Insel-Bücherei, ">Das Tagebuch< Goethes und Rilkes ›Sieben Gedichte‹" (1978, fünfte Aufl. 1995). Ein Band, der auf knapp 200 Seiten erotische Gedichte interpretiert. Die schöne Reihe hat ebenfalls mehrere Goethe-Unseld-Publikationen aufzuweisen: Band 2000 versammelt hundert von Siegfried Unseld ausgewählte Gedichte ("Das Leben, es ist gut"). "Goethe, unser Zeitgenosse. Über Fremdes und Eigenes" (it 1425) enthält Goethes Einsichten "über das Ausländische, das Fremde, das Andere". Der Insel-Almanach auf das Jahr 1999 schließlich bietet einen Aufsatz über ›Goethes Produktionsweise‹: "Mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens". Das Goethe-Zitat, das dem Aufsatz seinen Titel gibt, kann ebensogut auch auf Siegfried Unseld selbst gemünzt werden.

Titelbild

Siegfried Unseld: Goethe und seine Verleger.
Insel Verlag, Frankfurt 1998.
792 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3458342001

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