Die Suche nach Tradition

Hyun Su Lees Roman „Die letzte Gisaeng“ erzählt vom Leben der Gesellschafterinnen im heutigen Südkorea

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn eine Gesellschaft sich schnell und erfolgreich modernisiert hat, so nimmt sie danach ihre Verluste wahr. Es ist dann gar nicht mehr so wichtig, ob die Vergangenheit wirklich so prachtvoll war wie in der Erinnerung. Vielmehr kommt es darauf an, etwas wie „Identität“ zu finden: Man weiß zwar nicht klar, was man will und wie man das erreicht. Aber wenigstens glaubt man zu wissen, wer man ist.

Die südkoreanische Autorin Hyun Su Lee hat sich den Gisaeng ihrer Heimat zugewandt. Gisaeng waren – im günstigen Fall – in Tanz und Gesang ausgebildete Gesellschafterinnen. Freilich war der Übergang zur Prostitution fließend, und neben einigen Dichterinnen, die auch heute noch in Korea bekannt sind, dürfte es viele Sexarbeiterinnen gegeben haben, die im Alter ein elendes Leben führten.

Auch in anderer Hinsicht war die Position der Gisaeng widersprüchlich. Zwar war im konfuzianistischen Staat die Tätigkeit auch ihres Standes streng geregelt. Doch entkamen sie immerhin einer Position in der Familienhierarchie, die stets eine untergeordnete war. Den erfolgreichsten unter den Gisaeng dürfte ihr Beruf ein relativ freies Leben und ein eigenes kleines Vermögen eingebracht haben. Die Laufbahn bot also gewisse Erfolgsaussichten bei hohem Risiko.

Derartige Kalkulationen stören natürlich nur bei Erzählungen von kultureller Tradition. Die Verfasserin hat für die deutsche Ausgabe ein Vorwort verfasst, in dem es heißt, dass die Gisaeng an der Kultur des alten Korea „wie die gelehrten Beamten und anderen Mitglieder der Oberschicht, denen sie zu Diensten waren, einen wesentlichen Anteil“ gehabt hätten. Und weiter: „Ich bin der Meinung, daß das heutige Korea noch von den leidenschaftlich gelebten Idealen und Opfern auch dieser Frauen zehrt, und ich bin auch der Meinung, daß junge Koreaner, die im kulturellen Bereich tätig sind, ihnen Dank und Anerkennung schulden.“

Das klingt schlimm. Wo von Idealen und Opfern die Rede ist, sollte Misstrauen einsetzen. Tatsächlich gibt es im Roman als eine der Hauptfiguren die Madame Oh, die schon fast zu alt ist für ihren Beruf und zudem säuft, die sich aber immer noch nicht die nötige Härte angeeignet hat und ihren Stammfreiern mehr Geld schenkt als sie von ihnen kassiert. Nach Kräften wird sie beschützt von der „Alten“, die kurz nach dem Jahr 2000 eines der letzten Gisaeng-Häuser geschäftstüchtig leitet und Wert darauf legt, sich von den neumodischen Bordellen abzusetzen. Tatsächlich besteht der Unterschied darin, daß es in den Bordellen nur Sex gibt, bei den Gisaeng aber vor dem Sex noch gutes Essen und ein wenig Kunst.

Es gibt noch eine dritte weibliche Hauptfigur, die junge Frau Min, die wie die beiden anderen eine ärmliche Kindheit durchlebt hat. Aufgrund ihrer opferbereiten Familie konnte sie zwar an einer Hochschule für traditionelle Künste Tanz studieren, doch entschied sie sich gegen den Weg in die Oberschicht, und das nicht nur, weil auch Südkorea ein Überangebot an künstlerischem Nachwuchs hervorbringt. Traditioneller Tanz, traditionelle Musik waren stets in eine Lebenspraxis eingebettet, und so ist es konsequent, wenn Min ihren Tanz mit einer solchen Praxis zu verbinden versucht. So gibt sie dem Buch den Titel und wird sie die „letzte Gisaeng“; die nicht eindeutig übertragbare koreanische Wortwahl könnte auch optimistischer mit: „Die neue Gisaeng“ übersetzt werden.

Madame Oh unterwirft sich ihrer Liebesbereitschaft und erklärt sich dabei auch noch für glücklich; die Alte geht in ihrer Arbeit auf und wird reich; Frau Min entdeckt das Feld ihrer eigentlichen Berufung: So könnte der Roman als Verklärung fragwürdiger Ideale gelesen werden. Tatsächlich beruht seine Wirkung auch darauf: Das Geschäft, um das es geht, bleibt grundsätzlich unhinterfragt. Allerdings wurde Oh nicht zufällig zur Trinkerin und werden nach und nach für alle Frauen Lebenserinnerungen enthüllt, die vor allem erfahrenes Leid dokumentieren. Dadurch wird die Wertung zweifelhaft: Gibt es nicht doch Opfer, die nicht zu rechtfertigen sind? Dominiert nicht männliche Gewalt die Biografien, oder Gewalt von Frauen, die patriarchale Regeln verinnerlicht haben?

Literarisch ist diese Ambivalenz von Vorteil. Die Hinter- und Beweggründe schichtweise aufzudecken, ohne dass dies zu einer eindeutigen Wertung führt, macht den sehr gemächlich einsetzenden Roman zuletzt zu einer spannenden Lektüre – auch dann, wenn man die zugrundeliegenden Ansichten nicht teilt. Die weiblichen Figuren wirken, so sehr sie am Ende für weiblich erklärte Pseudo-Tugenden wie Opferbereitschaft verkörpern, doch wenig schematisch, da sie alle eine Vergangenheit bekommen.

Dagegen die Männer! Ganz blass bleiben die Kunden, die von der Ordnung profitieren. Die Schwächlinge bekommen etwas mehr Raum. Da ist der ältliche Sexprotz Kim, der sich als „Beschützer“ aufspielt und hofft, sich den ganzen Betrieb aneignen zu können. Dieser Kleinverbrecher ist ohne jede Sympathie gezeichnet und stellt sich so hoffnungslos ungeschickt an, dass er gegen die Alte nie auch nur den Hauch einer Chance hat. Gegenbild ist der Hausmeister, der sich vor vielen Jahren in Madame Oh verliebt hat und seither im Gisaeng-Haus arbeitet, ohne Hoffnung, die Geliebte mehr als nur ansehen zu dürfen.

Tatsächlich handelt es sich insofern um einen Frauenroman, als die Männer – sofern sie nicht zahlen – wenig gebraucht werden. Die Psyche der Kunden erscheint als einfach strukturiert, das Seelenleben der Gisaeng dagegen als tief. Weil auch die Frauen in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander stehen und weil die Autorin die Zeitebenen ihrer Erzählung klug zu staffeln versteht, langweilt das Buch nicht. Auch die Übersetzung ist gelungen und wörtliche Nachahmungen von Wendungen aus der Vorlage, wie sie in Übersetzungen aus dem Koreanischen manchmal quälen, wurden durchgehend vermieden. So wird „Die letzte Gisaeng“ zu einem eindrucksvollen Beispiel dafür, wie in der geschichtslosen Welt der Gegenwart eine kulturelle Tradition konstruiert wird. Bei all dem aber bleibt es eine Tradition, die zu einer besseren Zukunft wohl kaum etwas beizutragen hat.

Titelbild

Hyun-Su Lee: Die letzte Gisaeng. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Youngsun Jung und Herbert Jaumann.
Iudicium Verlag, München 2013.
240 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783862052967

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch