Vom Versuch, das Überleben zu überleben
Christian Poetini untersucht in „Weiterüberleben“ die Werke von Kertész und Améry
Von Linda Maeding
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn seinem bekanntesten Essay „Der Holocaust als Kultur“ skizziert Imre Kertész die „Situation eines Überlebenden, der versucht hat, sein Überleben zu überleben, mehr noch: zu deuten“. Diesem Versuch, die existenzielle Begründung des Schreibens mit einer Hermeneutik des Überlebens zu verknüpfen, widmete sich neben Kertész vielleicht nur noch Jean Améry mit ähnlicher Intensität. So verwundert es nicht, dass sich der ungarisch-jüdische Schriftsteller in seinem viel diskutierten Aufsatz gerade auf Améry bezieht. Verbunden sind die beiden Autoren nicht nur durch ihre Zeugenkondition, sondern auch darin, das Überleben zum Dreh- und Angelpunkt des eigenen Schreibens gemacht zu haben. Ihr beider Gesamtwerk steht im Zeichen des Überlebens und des Versuchs seiner Deutung. Die Aufgabe der Deutung muss Kertész zufolge aber auch die Gesellschaft als solche übernehmen und sich dabei auch der Eigentümlichkeit der Zäsur Auschwitz bewusst werden; eine Zäsur, die „Bruch und Kontinuität zugleich“ ist – Leben wurde erschüttert und geht dennoch weiter. Auf dieses Paradox jedes Denkens über den Holocaust macht Christian Poetini gleich zu Beginn seiner „Weiterüberleben“ betitelten Studie über beide Autoren aufmerksam.
In der Einleitung legt er konzise grundsätzliche Problematiken der Holocaust-Forschung dar – etwa, was den Status von Zeugenberichten betrifft oder die mit Hayden White vollzogene Erkenntnis des fiktionalen Charakters faktualer Repräsentationen. Dafür zitiert er auch umfassend aus Standardwerken der sogenannten Holocaust-Literatur. Die Studie konzentriert sich dann auf die „Analyse der existenziellen, ethischen und ästhetischen Dimensionen der Darstellung des Überlebens der Shoah“ anhand der zwei angeführten Autoren, die für Poetini „exemplarischen wie repräsentativen Charakter“ haben: Améry und Kertész. Ersterer ist in den 1960er Jahren mit seinen autobiographischen Essays „Jenseits von Schuld und Sühne“ bekannt geworden, in denen er – bis dato unerhört – die Verfasstheit der Opfer zur Grundlage eines nicht-psychologisierenden Denkens über den Holocaust machte. Kertész wiederum gelang erst nach der Wende 1989 – die auch die eigene Annäherung an das Überleben als zugleich autobiographisches und literarisches Motiv beeinflusste – der Durchbruch.
Für Poetini ist das zentrale Thema beider Autoren durch zwei Verschiebungen gekennzeichnet, die auch seine Arbeit strukturieren: Dass „die Frage nach dem Weiterleben“ in seiner komplexen Problematik in den Mittelpunkt rückt, wird als erste Verschiebung des Überleben-Themas bezeichnet; die zweite besteht in der „literarischen Auseinandersetzung, die untrennbar mit den Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen sprachlicher Vermittlung verbunden ist.“ Prägnant gefasst geht es also um den „Übergang vom Überleben zum Weiterleben – als existenzielle Frage und als literarische Antwort“. Poetini sieht in dieser Thematik zu Recht eine Konfrontation zwischen der Positivität der Rede und der Negativität des Inhalts angelegt. Ihn interessiert dabei die diskursive Durchdringung des Überleben-Themas aus der Perspektive des Opfers, in den fiktionalen und essayistischen Texten der Autoren.
Das Weiterleben ist nicht nur retrospektiv angelegt, sondern immer auch um Hinterlassenschaft bemüht – eine Anstrengung, die der Germanist explizit anerkennt und damit gewissermaßen engagierte Literaturwissenschaft betreibt, die sich zur Annahme dieses Erbes bekennt. Der titelgebende Neologismus, „Weiterüberleben“, ist für Poetini keine Tautologie, „sondern ein Versuch, die unterschiedlichen Dimensionen des Überlebens und Weiterlebens zusammen zu denken.“ Diese Problematik sollte anhand der Autoren sowohl generationsübergreifend als auch transkulturell dargestellt werden. Letzteres fällt dann aber tatsächlich kaum ins Gewicht – und wenn der Autor nicht darauf verwiesen hätte, wäre wohl auch kaum einer darauf gekommen, das Schreiben zur Überlebensfrage beider Schriftsteller transkulturell fassen zu wollen.
Im ersten Teil „Jean Améry oder das uneinholbare Überleben“ zeichnet Poetini die Entwicklung „vom Essay über den Roman-Essay bis zum Suiziddiskurs“ nach: Die Frage „wie weiterleben?“ würde bei Améry, begründet durch die Irreversibilität der Foltererfahrung, zur Frage gewandelt, „wie sterben?“. Sowohl den berühmten „Tortur“-Aufsatz als auch den Roman-Essay „Lefeu oder Der Abbruch“ und „Hand an sich legen“ bestimmt Poetini als Schwellentexte, die über das Weiterleben hinausgehen und sich vor dem Hintergrund der Holocaust-Erfahrung mit dem Tod auseinandersetzen. Im zweiten Teil „Imre Kertész oder das unhintergehbare Überleben“ hebt er die radikale Fiktionalisierung und Transzendierung des Überlebensdiskurses hervor: ausgehend vom Essay „Der Holocaust als Kultur“, in dem Kertész‘ Auseinandersetzung mit Améry einsetzt und die Poetini „als poetisches Manifest und als intellektuelles Vermächtnis“ liest, bis hin zu „Liquidation“.
Wertvolle Einsichten vermittelt die aus einer Dissertation hervorgegange Studie vor allem da, wo darauf eingegangen wird, wie das Überleben von den Überlebenden selbst als Topos begriffen und eingesetzt wird. Dabei kommen neben den Parallelen, die eine komparatistische Studie dieser beiden Werke rechtfertigen, auch ganz unterschiedliche Herangehensweisen an das gleiche Thema zum Vorschein; insbesondere, was Bedeutung und Funktion der Vorstellungskraft – des Ästhetischen – betrifft: „Vom Holocaust, dieser unfaßbaren und unüberblickbaren Wirklichkeit, können wir uns allein mit Hilfe der ästhetischen Einbildungskraft eine wahrhafte Vorstellung machen“, schreibt Kertész. Er optiert anders als Améry für eine Ästhetisierung durch Fiktionalisierung, wobei das „Fiktionsbedürfnis“ für Poetini allerdings nie befriedigt, vielmehr ständig unterlaufen wird – weil das „Verstehenmüssen“ von Auschwitz sich ständig am „Nichtverstehenkönnen“ reibt. Sicherlich ließe die Frage, welche Rolle der Fiktion in beiden Werken zukommt, auch andere Deutungen zu, die weniger Gegensätzliches stark machen als vielmehr parallele Strategien hervorheben. Poetinis Studie aber beweist ihre Stärke darin, die „Aufwertung der kulturellen Funktion des Überlebenden“ bei zwei kanonischen Autoren der Holocaust-Literatur genau nachgezeichnet zu haben.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz