Fiktionen archiviert und Fakten erzählt

Elliot Perlmans „Tonspuren“ ist eine hoch spannende Mischung aus Roman und Geschichtsvorlesung

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elliot Perlman verknüpft in seinem neuen Roman „Tonspuren“ mit der Rassentrennung und dem Holocaust zwei der sensibelsten Themen historischer Erinnerung. So unvergleichbar sie als düstere Wahrheiten erscheinen mögen – an den Parallelen zwischen den Gedächtnisstrukturen, die sie auf kultureller und individueller Ebene nach sich ziehen, gibt es ohne Frage ein künstlerisches Interesse. Quentin Tarantino hat nacheinander in seinen Filmen „Inglorious Basterds“ und „Django Unchained“ beide Themen in ähnlicher Weise – als kontrafaktische Geschichtsschreibungen – bearbeitet und plant nach eigenen Angaben einen dritten Teil, der sie zu einer Trilogie ergänzen soll. Der US-amerikanische Autor William Styron hat unter anderem in seinem Roman „Sophie’s Choice“ (1979) Perspektiven von jüdischen und afroamerikanischen Opfern einander angenähert und damit kontroverse Reaktionen ausgelöst. Dass Perlman abermals solch scheinbar gewagte Verbindungslinien zieht, schockiert zwar nicht; lässt aber die Kritiker schärfer beobachten: „Tonspuren“ erscheint manchen zu glatt, zu unterhaltsam und zu einseitig. Andererseits ist es ein Roman, der gelesen und verstanden werden will – und das nicht nur von einer geistigen Elite. 

Der Roman handelt zu gleichen Teilen von Problemen der Geschichtsschreibung und der individuellen Erinnerung der Opfer. Zunächst scheinen die Geschichten der beiden Protagonisten Lamont Williams und Adam Zignelik voneinander unabhängig. Ersterer kann als Opfer des heutigen Rassismus bezeichnet werden. Unschuldig hat er eine mehrjährige Gefängnisstrafe hinter sich gebracht, weil nicht einmal sein eigener Anwalt ihm glauben wollte: Von den Plänen seines Freundes hatte er nichts gewusst, bevor dieser ihn plötzlich nach einem Raubüberfall als Fluchtfahrer missbrauchte. Im Rahmen einer Wiedereingliederungsmaßnahme in einem Krankenhaus begegnet Lamont dem Patienten Henryk Mandelbrot, mit dem er Freundschaft schließt. Von nun an besucht er diesen regelmäßig und erfährt, dass er nicht nur Holocaust-Überlebender ist, sondern in Auschwitz an den Aufständen des Sonderkommandos vom 7. Oktober 1944 teilgenommen hat.

Perlman hat nicht nur die Hintergründe exakt recherchiert, wie die ausführliche Bibliographie am Ende zeigt, sondern auch persönliche Interviews mit Überlebenden geführt, darunter mit Henryk Mandelbaum, dem Vorbild für seine Romanfigur. Lamonts naives Nachfragen, das auch die Verantwortung Mandelbrots für die Tötungen seiner Leidensgenossen zum Thema einschließt, lässt die Gesprächssituation als Identifikationsangebot für einen ebenso unwissenden Leser erscheinen. Das ist wohl auch der Grund, weshalb die Beschreibung der ungewöhnlichen Freundschaft zuweilen ein wenig zu süßlich, fast kitschig wirkt: Die gutmütige Einfachheit scheint Lamont zu einem emotionalen Verständnis des Geschehenen eher zu befähigen als Mandelbrots eigene Familie, die sich wenig interessiert und der er sich nicht mitteilen will. Lamont gegenüber besteht der alte Mann beharrlich darauf, er müsse sich an alles genau erinnern. Es dürfte auch Perlmans Interesse ausdrücken, dass hier ein anekdotisches – und sei es pathetisches – Erinnern gefordert wird, das einen großen Leserkreis anzusprechen vermag; nicht nur eine intellektuelle Elite.

Eine solche Perspektive scheint dagegen von dem Historiker Adam Zignelik repräsentiert zu werden. Dessen Karriere an der Columbia University neigt sich dem Ende zu. In seiner Dissertation hat er sich mit den Wegbereitern der als „Brown versus Board of Education“ bekannten Gerichtsverhandlungen zu Beginn der 50er Jahre beschäftigt, die zur Abschaffung der Rassentrennung an Schulen geführt hat. Sein eigener Vater war als Anwalt maßgeblich daran beteiligt. Doch seit seiner Doktorarbeit hat er keine neuen Forschungsideen mehr entwickelt. Die berufliche Krise zeigt Auswirkungen auch auf sein Privatleben, als er sich von seiner langjährigen Partnerin trennt, weil er meint, keine finanzielle Sicherheit für eine gemeinsame Familienplanung mehr garantieren zu können. Wenn auch Adams Sicht auf Geschichte eine wissenschaftliche ist, so kann er doch wie alle anderen Figuren auch als Beispiel für die enge Verzahnung geschichtlicher Ereignisse und privater Biographien gelten. Er selbst macht das in seinen Vorlesungen deutlich, wenn er anhand kurzer Erzählungen historische Ereignisse neu beleuchtet. So erklärt er, dass Dietrich Bonhoeffer in Harlem die Kultur und Musik der afroamerikanischen Gemeinden kennen gelernt und ihren Status als Unterdrückte mit angesehen habe. Unter anderem deshalb habe er sich dem Nationalsozialismus in Deutschland entgegengestellt. Noch in den dreißiger Jahren, so erzählt Adam, habe Bonhoeffer mit den Schülern seines Priesterseminars Spirituals gesungen. „Sie wissen nie, welche Verbindungen zwischen Dingen, Menschen, Orten oder Ideen bestehen. Aber es gibt Verbindungen“, bläut Adam seinen Studenten ein – und traut sich selbst dabei nicht mehr ganz zu, solche Verbindungen noch erkennen zu können.

Er bekommt seine Chance wenig später in Form eines außergewöhnlichen Funds. Dem Ratschlag eines Freundes folgend will er in Chicago nach der Beteiligung afroamerikanischer Soldaten bei der Befreiung des KZ Dachau forschen, die offiziell nie bestätigt worden sei. Dabei entdeckt er die titelgebenden „Tonspuren“ – Interviews eines Psychologen mit zahlreichen jüdischen KZ-Häftlingen kurz nach ihrer Befreiung. Zum wiederholten Male im Roman bestätigt sich, dass das Interesse der Öffentlichkeit unerwartete Grenzen hat, wenn es um die Aufarbeitung der Opferperspektive geht. Offenbar hat die Bedeutung der Tonaufnahmen vor Adam niemand erfasst oder gewürdigt. Immer spannender wird die Angelegenheit: Der Leser begleitet den Historiker bei seinen Entdeckungen und plötzlich laufen zahlreiche Geschichten und Zeitebenen zusammen. Gerade aufgrund der emotionalen Involviertheit saugt der Leser Informationen auf – dass er sich daran erinnern wird, ist Perlmans wohlverdiente Belohnung.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Elliot Perlman: Tonspuren. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Grete Osterwald.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013.
694 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783421043733

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