Popliteratur-Archäologie

Björn Weyands Studie „Poetik der Marke“ hebt Schätze aus der Literaturgeschichte der Konsumkultur

Von Marc ReichweinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Reichwein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während sich die sogenannte Popliteratur als Feuilletonthema vor rund zehn Jahren erledigt hat und während sich zuletzt auch die Popliteratur-Wissenschaft (nach einer Phase höchster Produktivität) etwas erschöpft zu haben scheint, zumal mit Titeln wie „Die Popliteratur nach ihrem Ende“, schlägt Björn Weyand einen erfrischenden Bogen in die quasi-prähistorische Vorzeit des Genres.

Seine Studie „Poetik der Marke“ begründet eine eine Art Archäologie der Popliteratur, denn sie beobachtet „Poetiken der Katalogisierung und Fetischisierung, der Zirkulation und der Hyperrealisierung“ von Konsumkultur auch in solchen Werken, bei denen man gemeinhin nicht von Popliteratur spricht – und es auch künftig nicht tun wird, aber könnte, wenn man die Definition von Moritz Baßler ernst nimmt, wonach das enzyklopädische Verfahren, etwa durch die Archivierung von Markennamen, ein konstitutives Merkmal von Popliteratur ist.

Weyands Ausgangsargumentation ist plausibel: Seit 1894, also seit 120 Jahren, gibt es in Deutschland ein „Gesetz zum Schutze der Warenbezeichnungen“. Sprich: Mindestens so lange existiert ein juristisches Bewusstsein dafür, dass Konsumprodukte über einen konnotativen Mehrwert verfügen, den man als Markenkultur kennt. Und mindestens so lange könnte sich theoretisch auch die Literatur mit ästhetischen Warenphänomen befasst haben, oder? Weyand prüft, inwieweit die Literaturgeschichte Belege kennt, die entsprechend weit zurückdatieren.

Es sind konkret fünf Werke, die er in den Blick nimmt – und mit ihnen jeweils eine historische Entwicklungsphase der Markenkultur in Deutschland: Edmund Edels „Berlin W.“ (1906) spiegelt die Kultur der Neureichen wieder, die sich im Gefolge der Gründerzeit im Wilhelminischen Kaiserreich etabliert hatte. Thomas Manns  „Der Zauberberg“ (1924) und Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“ (1932) vermitteln einen Eindruck von ihrer Entstehungszeit in der konsumorientierten Weimarer Republik. Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ (1951) wiederum erzählt von einem Konsum-Versprechen, das dem eigentlichen Wirtschaftswunder der Bonner Republik vorausgeht. Schlusspunkt der Studie ist ein Kapitel zu Christian Krachts Roman „1979“, der 2001 veröffentlicht wurde und mit einer Codierung und Recodierung von Markenzeichen spielt, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ihresgleichen sucht.

So wie es Weyands Studie keineswegs positivistisch darum geht, das bloße Vorkommen von Markenprodukten zu belegen, so wenig sind Markennamen in der Literatur als reine „Realitätsvokabeln“ oder Zeichen eines banalen Produkt-Realismus zu lesen. Im Gegenteil: Sie sind Objekte vielschichtiger Aneignungs- und Austauschprozesse zwischen Literatur und Warenästhetik. Wer Markenkonnotationen wahrnimmt, hat (durchaus im Sinne von Roland Barthes) „Lust daran […], den Alltag einer Epoche, einer Person dargestellt zu sehen“ und entwickelt womöglich auch eine „Neugierde nach winzigen Details“, die sich in „Gewohnheiten, Mahlzeiten, Wohnungen, Kleidern usw.“ zeigt.

Wenn Edmund Edel in „Berlin W.“ eine satirische Katalogisierung der Konsumgewohnheiten in den neureichen Bezirken West-Berlins vornimmt, dann weiß er mit bestimmten Marken synekdochisch nicht nur ganze Milieus in Schöneberg, Charlottenburg oder Wilmersdorf zu typisieren, sondern auch zu parodieren. Schon Theodor Fontanes Buch „Frau Jenny Treibel“ hatte dieses Stilmittel angewandt, indem es die Widersprüche zwischen dem Berliner Bildungs- und Besitzbürgertum auf metonymische Weise verhandelte. Etwa, wenn vom Bourgois die Rede ist, „der von Schiller spricht und Gerson meint“. Ein „Umhang von Gerson“ war im Besitzbürgertum Berlins um 1900 ungefähr das, was in der Yuppie-Kultur des Romans „Faserland“ die Barbourjacke ist. Ein distinktives Zeichen.

Edmund Edels „Berlin W.“ beschreibt, wie das Gesetz der Markenkenntnis (anstelle klassischer Warenkenntnis) sich nicht nur auf klassische Konsumgüter wie Sekt (Henckel Trocken) erstreckt, sondern eben auch auf Marken des geistigen Lebens: So taugen Nietzsche und Heine als Trophäen für die Bücherwand.

Weyand geht nicht so weit, ein Werk wie „Berlin W.“ ernsthaft als „Popliteratur avant la lettre“ zu etikettieren – dafür hat sich der distinktive Charakter des Schlagworts doch verflüchtigt. Aber er weist zu Recht auf unsere Ausblendungsmechanismen hin. Einerseits huldigen wir (mit Moritz Baßler) dem neuen Archivismus um das Jahr 2000, andererseits haben wir den frühen Archivismus eines Edmund Edel um 1900 womöglich nie richtig zur Kenntnis genommen. Genauso wenig ist uns bewusst, dass auch ein Thomas Mann oder ein Wolfgang Koeppen sich die Alltagswirklichkeit von Markenwaren ihrer Zeit literarisch angeeignet haben. Letzterer fängt mit der Marke Coca-Cola, obwohl sie in seinem Roman „Tauben im Gras“ überhaupt nur dreimal vorkommt, eine Wohlstandsinsignie ein, die pars pro toto für den american way of life und seine Attraktivität im Nachkriegsdeutschland steht.

Es geht aber nie nur um die bloße Existenz oder schiere Häufigkeit von Markenprodukten in literarischen Texten. Vor allem ihre Gestaltung durch unterschiedlichste „rhetorische, narratorische und poetologische Mittel und Verfahren“ hält Weyand für literaturwissenschaftlich interessant und relevant, zumal die literarischen Texturen von Markenprodukten und warenästhetischen Phänomenen oft „ein Gutteil ihrer poetologischen Energie aus ihrem Gegenstand selbst beziehen“.

So spielen im „Zauberberg“ Schokoladensorten, Zigarrenmarken und der Apparat der künstlichen Höhensonne eine metonymische Rolle. Schokoladenmarken wie Milka-Nut stehen für narkotische Übersättigung (ein klassisches Décadence-Motiv), Maria-Mancini-Zigarren für einen sexuell konnotierten Fetisch, und die Apparatur einer künstlichen Höhensonne, mit dem das berühmte „Schnee“-Kapitel eröffnet, für die perfide Tatsache, dass selbst ein lebenserhaltendes Lungensanatorium am Ende „wie ein Konsumartikel beurteilt wird“, nämlich nach den Heilerfolgen und Wetterversprechungen des Werbeprospekts. Obwohl der „Zauberberg“ zu den meist erforschten Werken der klassischen Moderne gehören dürfte, gelingt es Weyand mit seiner warenästhetischen Lesart, die Markenfetische als konstitutives Element der „Zauberberg“-Welt zu charakterisieren.

Ähnliches gilt für die Faszinationsproduktion durch den Medienverbund. Mit Blick auf „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun macht Weyand deutlich, wie der in den 1920ern empfundene Glanz und Glamour der Filmbranche eben nicht nur durch die Leinwände der Lichtspielhäuser zustande kommt, sondern auch durch ihre Außenwerbung, die Auratisierung von Filmstars als Testimonials der Konsumgüter-Werbung und Homestorys in den Illustrierten. Ein Buch, das die Verbundkraft der sozialen Medien im Digitalzeitalter noch nicht mal ahnt, und dennoch viel über die Anfälligkeit des modernen Menschen für Kollektivsymbole erzählt.

Im Kapitel zu Krachts Roman „1979“ konzentriert sich Weyand auf den Widerspruch, mit der die Ebene der histoire an die Tiefe der Lagerliteratur des 20. Jahrhunderts gemahnt, während auf der Ebene des discours ein scheinbar popliteraturtypisch oberflächlicher Erzähler inszeniert wird. Die flottierende Verschränkung von hoch- und popkulturell kontaminierten Zeichen nimmt in „1979“ eine mehrfachcodierte Dimension an, die sich jeder klassischen Tiefenhermeneutik verweigert, weil sie nurmehr mit Versatzstücken agiert – für Weyand symbolisiert im Filz, dem einzigen Textil, das dem Ich-Erzähler nach Verlust seiner Berluti-Schuhe und dem Verschenken seiner Brooks-Brothers-Boxer-Shorts bleibt.

Die Verfilzung traditioneller Zeichen des kulturellen Kanons mit denen der Marken-, Medien- und Popkultur steht für die sprichwörtliche Verfilzung von Kultur und Kommerz, die sich im Kapitalismus nicht mehr auflösen lässt. „Wenn alles nur noch Zeichen, nur noch Simulakrum ist, besteht die Aufgabe darin, diese Zeichenprozesse offenzulegen“, lautet Weyands Einschätzung zu „1979“. Bei aller enigmatischen Leere, die der Roman inszeniere, rechne er nämlich doch mit einer festen Größe: dem Leser als zeichenkundigen Subjekt, das „gleichermaßen philologisch wie warenästhetisch geschult, bereit ist, diesen inszenierten Zeichenprozessen nachzugehen“.

Das warenästhetische 20. Jahrhundert, das Weyands Studie mit gut ausgewählten Prosatexten schlaglichtartig in den Blick nimmt, kannte nicht nur Bedingungen des Kapitalismus. Es wäre, wie Weyand selbst anregt, weitergehend zu fragen, ob auch im Sozialismus Konsumkulturen entstanden und literarisch verarbeitet worden sind – mit Annett Gröschners „Moskauer Eis“ (2000) spricht einiges dafür. In Bezug auf die globale und lokale Verschränkung von prägenden Orts-, Dialekt- und Konsummarken könnten Werke wie Ulf Erdmann Zieglers „Autogeographie“ (2007) oder Thomas Medicus’ „Heimat“ (2014) Vorlagen für eine komparatistische Erforschung von räumlich differierender Markenkultur sein.

Weyands gründliche Studie im Stil des New Historicism dürfte auch dem letzten Kritiker, der Popliteratur mit „Geschmacksterrorismus“ assoziiert, deutlich machen: Kein Markenkult ist Zufall. Vielmehr passiert beim Einsatz distinktiver Zeichen aus der Waren- und Konsumwelt nichts anderes als beim Aufbieten klassischer Topoi aus der Hochkultur, wie es etwa ein Wieland mit seinen Verfahren der Überformung und Anspielung geradezu klassisch beherrschte (seine Popkultur war eben die Antike!): Man formuliert bedeutungsschwanger, indem man Namen und Begriffe synekdochisch und metonymisch, enigmatisch und paradigmatisch gebraucht. Der Einsatz von Markenassoziationen steht für ein literarästhetisches Verfahren, bei dem man sich eigentlich nur wundern kann, dass es erst mit der Popliteratur der 1990er-Jahre so richtig ins allgemeine Bewusstsein eingedrungen ist. Der Literaturwissenschaftler kann sich nicht mehr herausreden, er muss Markenwelten genauso studieren wie klassische Mythen und Topoi.

Titelbild

Björn Weyand: Poetik der Marke. Konsumkultur und literarische Verfahren 1900-2000.
De Gruyter, Berlin 2013.
405 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110301175

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