Siegeszug der Ödnis

Die Autorin Hannelore Schlaffer beschreibt in ihrem Essayband „Die City“ gekonnt den Untergang der modernen Großstadt

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hannelore Schlaffer ist Professorin für Neuere deutsche Literatur, Schriftstellerin und Publizistin. Und sie ist wütend. In ihrem Essay-Band „Die City. Straßenleben in der geplanten Stadt“ seziert sie die Strukturen der modernen Großstadt und identifiziert sie als einen angepassten, langweiligen und oftmals herzlosen Ort. Grund ist die gnadenlose Ausrichtung auf Touristenbedürfnisse aus dem Umland. Schlaffers Überlegungen mögen nicht ganz neu sein. Ihr Ansatz aber ist es: Denn sie geht von der Stadt als Ort der Literatur aus. Ihr Maßstab ist das Paris des 19. Jahrhunderts – eine Fundgrube für Schriftsteller ihrer Zeit. Aus der Ödnis der modernen City dagegen, so ein Fazit, lassen sich keine guten Geschichten gewinnen. Und somit ist ihre Schilderung der Stadtentwicklung auch ein Abgesang auf die Kultur, wie wir sie kennen.

Ausgangspunkt ihrer literarischen Ortsbegehung ist die Identifizierung zweier Arten von Stadtplanung. Die erste ist eine primär architektonische. Und Schlaffer lässt kaum ein gutes Haar an modernen Immobilienentwürfen. Genormte Blöcke aus Glas und Stahl, formelhaft entworfen werden von Unternehmen und Marketing-Experten, die der Stadt und ihren Bürgern in den meisten Fällen in keinster Weise verbunden sind, ersetzen zunehmend das individuelle, historische Stadtbild. Profitgier führt zu Austauschbarkeit.

Neben der rein architektonischen Gestaltung der Metropole setzt Schlaffer eine zweite Form der Stadtplanung: die „geheime Steuerung von alltäglichen Verhaltensweisen“. Die meisten Neubauten, die auf den immer teurer werdenden Grundstücken in Zentrumsnähe entstehen und die das alte Stadtbild zunehmend überlagern, dienen dem Zweck, das Umland, die Provinz, in die Stadt zu holen, zu einem „Tummelplatz mit Großstadtgefühl für den Großraum der Region“ zu werden. Wie ein Geschwür breite sich in der City das Konsumangebot aus. Als Krönung dieser Entwicklung benennt Schlaffer die moderne Shopping-Mall, die in vielen Städten den Schloß-, Markt- oder Kirchplatz als zentralen Treffpunkt und Aushängeschild längst abgelöst hat – eine Folge des sozialen Wandels des produzierenden Arbeiters zum konsumierenden Kunden. In diesen Centern werden am Massengeschmack orientierte Kettengastronomien und -händler untergebracht. Einzelhändler mit Bedarfsangeboten für den Alltag der Bewohner finden dort keinen Platz.

Eine Entwicklung, deren Folgen die Autorin als dramatisch skizziert: Nicht nur werden die angestammten Einwohner durch die steigenden Immobilienpreise an den Stadtrand vertrieben. Auch das subkulturelle Leben, das Identität und Ruf einer Stadt oft entscheidend (mit)prägt, wird systematisch erlahmt. Die Sünde und die Schönheit werden verbannt – und damit alles Interessante. Am Ende dieser Entwicklung steht eine City, die in ihrer Sterilität, Ordnung und Sittlichkeit dem Ort ähnelt, aus dem seine Besucher geflohen sind – nämlich der Provinz. Schlaffer bezeichnet die Entwicklung der Städte hin zu reinen Konsumzonen als überwiegend deutsches Phänomen. Nirgendwo sonst in Europa seien die Bedingungen für diesen Trend durch die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg so geeignet. Mittlerweile jedoch greife das Phänomen auch auf Resteuropa über.

Der Befund ist gnadenlos, die Lektüre dennoch ein Genuss. Auffällig angenehm ist etwa Schlaffers Sprache, die es vermag, ihrem deutlich spürbaren Sarkasmus einen eleganten Ausdruck zu verleihen. Auch die Herleitung ihrer Thesen kann überzeugen. Jede Kernaussage unterfüttert die Autorin – je nach Bedarf – mit theoretischem Background oder mit eigenen Beobachtungen. Ihre Schilderungen sind so präzise und zutreffend, dass sie das Stadtleben vor der eigenen Tür plastisch vor Augen führt und somit spürbar dringlichen Handlungsdruck ausüben. Das Buch „verbinde in künstlerisch ausgefeilter Form und Sprache Beobachtung, Definition und Analyse und werfe in indirekter aber immanenter Form Fragen auf, die von hoher gesellschaftspolitischer Relevanz seien“, heißt es im Begründungstext der Jury zur Auszeichnung „Das politische Buch“ 2014 der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Auch dass sie am Ende ihrer Ausführungen weder einen Aufruf zur Revolte noch eine Neigung zu Betroffenheit äußert, macht diesen Essayband zu einer dringenden Lese-Empfehlung. Die Schlussfolgerung bleibt so allein dem Leser überlassen. Es kann aber niemand sagen, Hannelore Schlaffer hätte uns nicht gewarnt.

Titelbild

Hannelore Schlaffer: Die City. Straßenleben in der geplanten Stadt.
zu Klampen Verlag, Springe 2013.
169 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783866741881

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