Inklusion trotz Amt
Martin Keune schildert in „Vollspast“, wie er gegen behördlichen Widerstand einen behinderten Mitarbeiter einstellt
Von Laslo Scholtze
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMartin Keune ist Autor nur im Nebenberuf. Eigentlich ist er Chef einer Berliner Werbeagentur, die er gegründet hat und seit 20 Jahren durch den rauen Wind des umkämpften Kreativmarktes führt. Da die Werbebranche sehr beliebt bei Berufseinsteigern ist, hat Keune wöchentlich Bewerbungen von jungen Menschen, die ein Praktikum oder eine Ausbildung bei ihm machen wollen. Er hat die Qual der Wahl. „Alexander hatte auf den ersten Blick denkbar schlechte Voraussetzungen. Aber die wichtigste Frage, die ich mir als Chef immer stellen muss, war bei ihm schnell beantwortet: Der wollte wirklich. Wer in einer dynamischen und tempogetriebenen Branche wie der unseren den Mut hat, mit einem Rollstuhl durch die Tür zu rollen und nach einem Praktikum zu fragen, der muss sich seiner Sache ziemlich sicher sein.“
Alexander Abasovs Nabelschnur hatte sich bei seiner Geburt um seinen Hals gelegt. Die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn war zu lange unterbrochen. „Tetraspastik“ ist die medizinische Bezeichnung seiner Behinderung. Er kann vom Hals abwärts nichts bewegen außer seinen Händen und auch diese nur mühsam. Bisweilen wild anmutende Zuckungen werfen seinen Kopf beim Sprechen hin und her, die Worte ringt er seiner Sprachmuskulatur einzeln ab. Für seine Umwelt ist das stockende Sprechen und die schwere, sichtbare Behinderung oft Anlass, ihn für geistig eingeschränkt zu halten. Dabei ist sein Geist völlig klar und hellwach.
Er bekommt das Praktikum in der Grafikabteilung und bewährt sich. Sowohl die Arbeit als auch das kollegiale Miteinander funktionieren. Chef Martin Keune entschließt sich, ihm eine Ausbildung in seiner Firma anzubieten. Die Behördenvertreter sind voll des Lobes: „Unternehmer wie Sie müsste es mehr geben!“. An verbalem Schulterklopfen mangelt es nicht. Doch es gibt praktische und vor allem finanzielle Dinge mit den Behörden zu regeln: Ein Toilettenlifter muss eingebaut werden. Ein Fahrdienst muss Alexander zur Berufsschule bringen. Und vor allem braucht er täglich einen Assistenten, eine sogenannten Arbeitsassistenz, der pflegerische Aufgaben und andere Handreichungen übernimmt.
Einige nicht ganz bedeutungslose Schriftstücke geben der deutschen Verwaltung Leitlinien für den Umgang mit solchen Fragen vor. So steht beispielsweise im Grundgesetz Artikel 3: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Und wer selbst davon noch nicht ganz orientiert ist, kann in der UN-Behindertenkonvention von 2009 nachsehen. Dort wird der „gleichberechtigte Zugang zu Beruf und Ausbildung“ ganz explizit festgeschriebem. Unterzeichnet hat dieses Papier, neben vielen anderen, auch die Bundesrepublik Deutschland.
Doch Ämter können Rechte verweigern. Nicht grundsätzlich, aber de facto. Martin Keunes knapper Text gibt einen Eindruck davon, wie eine diffuse Mischung aus Ignoranz, Inkompetenz und vor allem „Nichtzuständigkeit“ dazu führt, dass ein höchst erwünschtes Ausbildungsprojekt gnadenlos abgewürgt wird. Bitter, bestürzend und immer wieder auch sehr komisch – lautes Auflachen inklusive – liest sich dieser Erlebnisbericht. Humor, Hartnäckigkeit und eine ans Kohlhaas’sche grenzende Empörung über die ungeheuerliche Verwehrung verbriefter Grundrechte haben Chef und Azubi offensichtlich in dieser bürokratischen Schlacht zur Seite gestanden. Für den Leser ist dies übrigens als Gewinn zu verbuchen.
Und spannend wird es auch noch, was Keune, nebenbei auch Krimi-Autor, sichtlich in die Schreiberhände spielt. Die finale E-Mail der Agentur für Arbeit kommt erst wenige Tage vor der Deadline des Ausbildungsbeginns. Der Bescheid lautet: Antrag abgelehnt.
Keune und Abasov sind gescheitert. Die Kosten werden nicht übernommen. Weitere Gründe, geschweige denn Vorschläge, nicht genannt. Die Ausbildung kann nicht begonnen werden. Weder die von der BRD ratifizierte Behindertenrechtskonvention noch ein außergewöhnlich engagierter Unternehmer noch die Tatsache, dass es für einen Menschen wie Alexander Abasov um eine existentielle Chance in seinem Leben geht, hat die „Bürohengste im Genehmigungstempel“ dazu veranlasst, einen Antrag abzustempeln. „Es gab keinen Gegner“, notiert Keune. Dennoch haben er und sein Azubi verloren.
Und dann, als alles vorbei ist, der Abspann durchgelaufen, der Held längst tot und im Kino die Lichter gerade wieder angehen, da geht es doch noch weiter. Denn Keune hat die Superwaffe. Er hat die Infanterie, mit der er ein ganzes bundesdeutsches Amt wegblasen kann. Er hat die Bazooka, die den „Teamleiter“ der Agentur für Arbeit noch vor der Mittagspause aus dem Sessel heben und dazu nötigen kann, innerhalb von Stunden zu veranlassen, was drei Monate lang verschleppt wurde. Er hat das eine und einzige, was in der bürokratischen Verwaltung seit je her schneidet wie ein heißes Messer durch Butter: Er hat den direkten Draht zum obersten Dienstherrn.
Und nur aus diesem Grund kann sich der Leser des Erlebnisberichts über ein Happy End freuen. Und freut sich doch nur für einen Moment, denn „was wir geschafft haben, ist die einzige verrückte Ausnahme […] Was aber hunderttausende Schwerbehinderte in diesem Land brauchen, ist das Ende von Ausnahmen“.
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