Der allmächtige Arzt

In ihrem Roman „Wakolda“ verfolgt die argentinische Autorin Lucía Puenzo einen Mann namens José alias Josef Mengele

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zuneigung, die der ältere Herr für die kindliche Lilith hegt, erinnert an Vladimir Nabokovs „Lolita“-Roman. In Lucía Puenzos Roman „Wakolda“ aber verhält sich alles ganz anders, wenngleich irgendwie ähnlich. Dass die 12-jährige, für ihr Alter eher kleinwüchsige Lilith mit dem unbekannten José schäkert und um seine Gunst wirbt, ist fernab von mädchenhafter Erotik. Und der ältere Herr seinerseits sucht in dem Kind etwas ganz anderes: Erkenntnis. Ende 1959 begegnen sie sich in einem Kaff in der Einöde Patagoniens. Lilith ist mit ihrer Familie auf dem Weg nach Belgrano bei Bariloche, wo die Eltern die Pension der Großmutter übernehmen werden. José Mengele ist auf der Flucht in den Süden, in Buenos Aires hat er sich nicht mehr sicher gefühlt. Irgendetwas fasziniert ihn an Lilith: „Die Kleine hatte einige arische Gene in sich aufgenommen, doch nicht genug, um ihre tierischen Züge ganz verschwinden zu lassen.“

Dazu kommt, dass ihre Mutter, die offenkundig deutscher Abstammung ist, ein Kind erwartet: Zwillinge, wie der geübte Blick des Arztes zu erraten scheint. Das Interesse des Rassenhygienikers und Reinheitsfanatikers ist geweckt, die nächsten Monate würde er davon nicht mehr ablassen, selbst wenn er sich dadurch gefährdet, und selbst wenn es früher in den Konzentrationslagern einfacher war, an den machtlosen Probanden sein Erkenntnisinteresse zu stillen. José mietet sich in der Pension der Familie ein, zeigt sich behilflich und zerstreut so die anfängliche Skepsis über die eisige Art, die ihn auszeichnet. Die Eltern von Lilith wundern sich auch nur diskret darüber, dass dieser Fremde in der Umgebung etliche Menschen zu kennen scheint – vornehmlich deutsche.

Lucía Puenzo greift in ihrem Buch mitten in die Legenden um den NS-Arzt und Kriegsverbrecher Josef Mengele ein, die sich teils bis heute gehalten haben. Das klingt nach Sensation. Puenzo tappt nicht in diese Falle. Ihr Roman hält sich mit historischen Reminiszenzen zurück und stellt vielmehr einen Menschen in den Vordergrund, der schwer greifbar bleibt, weil er gänzlich widersprüchliche Züge in sich vereint. Er kann charmant sein und gnadenlos herablassend, er gibt sich tatkräftig und fühlt sich zuweilen elend einsam und stets auf der Hut vor seinen Nachstellern. Puenzo rückt nicht einen Massenmörder ins Zentrum ihres Romans, sondern einen kalten Idealisten, der sich selbst in Gefahr bringt, nur um sich um die frühgeborenen Zwillinge von Liliths Mutter zu kümmern. Die Zwillingsforschung ist sein Elixier und zusammen mit ihr Fragen nach Vererbung und Erbgutmischung. Wie würden sich blaue Augen als Kennzeichen des arischen Menschen künstlich erzeugen lassen? Solchen hirnrissigen wie auch albernen Ideen hängt er nach, in Lilith glaubt er ein natürliches Opfer gefunden zu haben, das er mit seinen Hormon-Spritzen zum Wachsen bringen könnte.

Puenzo erzählt die Begegnung zwischen José und Lilith ebenso einfühlsam, glaubhaft wie spannend, dicht und offenkundig gut recherchiert. Ihr Roman beschönigt nichts, doch er beteiligt sich auch nicht an der Legendenbildung. Die Autorin folgt eher den Einschätzungen von Mengele als einem ehrgeizigen, skrupellosen Forscher, der auf seiner Flucht ein dankbares Opfer findet. Wie weit darf einer gehen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen, klingt unterschwellig als Frage mit. Womöglich ist Mengele nur die Spitze eines Eisbergs. José beantwortet die Frage unzweideutig: sehr weit.

„Wakolda“ ist da differenzierter; der Roman trifft feine psychologische Zwischentöne, die der Situation zwischen José und Lilith angemessen sind. Lilith schwankt zwischen grenzenlosem Zutrauen in einen Menschen, der sie vorbehaltlos zu mögen scheint, und einer wachsenden, aber sprachlosen Abneigung, weil sie infolge der Hormonbehandlung körperlich leidet, nur damit sie ein paar Zentimeter größer würde. Das Kind kann nichts entscheiden, weil José alles im Griff hat, zu guter Letzt und zu Allerletzt, als ihm die neuerliche Flucht vor den Häschern gelingt. Es hätte ihm im Gebirge gefallen, deshalb ist er so lange wie möglich geblieben. Im Süden dagegen erwarten ihn nur Armut und tropische Temperaturen, die er gar nicht mag. José fühlt, vom Schicksal geschlagen, dass er ein einsamer Mann ist – aber er würde auch da seine Forschungen irgendwie weiter führen.

Titelbild

Lucia Puenzo: Wakolda. Roman.
Übersetzt aus dem argentinischen Spanisch von Rike Bolte.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013.
208 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783803127150

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