Versuch einer persönlichen Antwort

Der Philosoph Michail Ryklin über den Tod seiner Frau, der russischen Lyrikerin Anna Altschuk

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als die russische Dichterin und Künstlerin Anna Altschuk am Karfreitag des Jahres 2008 in Berlin verschwand, dauerte es nicht lange – nämlich nur eine Woche, ehe die Polizei diese Information an die Presse weitergab –, bis Spekulationen über eine Entführung oder Ermordung der „Putin-Kritikerin“, der „Kreml-Kritikerin“ durch die Medien gingen. Im Januar 2003 war im Moskauer Sacharow-Zentrum die Ausstellung „Achtung, Religion!“, an der Altschuk beteiligt war, von orthodoxen Fanatikern angegriffen worden. Zahlreiche Kunstwerke wurden dabei zerstört, die Ausstellung geschlossen. Altschuk und andere Beteiligte – nicht etwa die Angreifer – wurden daraufhin wegen Schüren religiösen und nationalen Zwistes vor Gericht gestellt. Im März 2005 wurde sie zwar freigesprochen, doch der Prozess, bei dem sie permanent mit dem Hass derjenigen konfrontiert wurde, nach deren Meinung sie Russland und seine Regierung und das orthodoxe Christentum beleidigt hatte – immer wieder gab es Morddrohungen –, wirkte auf sie in hohem Maße traumatisierend.

Diese Erfahrungen bilden nicht zuletzt auch den Hintergrund für den Entschluss Altschuks und ihres Ehemanns Michail Ryklin, ihr Heimatland zu verlassen und nach Berlin überzusiedeln. Auf diese Weise konnten sie einem zunehmend als unerträglich empfundenen, die geistige und künstlerische Freiheit mehr und mehr einschränkenden gesellschaftlichen Klima entgehen, das sich seit Wladimir Putins Antritt als Ministerpräsident im Jahr 1999 beziehungsweise seiner ersten Wahl zum Präsidenten im März 2000 ausbreitete. Gerade im Kontrast zu einer unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin erfahrenen Phase relativer Freiheit musste diese jüngere Entwicklung die Entscheidung, Russland zu verlassen, begünstigen. Dass in Anbetracht von Altschuks Konfrontation mit dem russischen Staat und der orthodoxen Kirche, ihrer Rolle als „Kreml-Kritikerin“, in die sie mehr gedrängt wurde, als dass sie ihrem Inneren entsprang, Überlegungen aufkamen, sie sei ermordet worden, liegt nahe. Und in der Tat konnte ein Mord an Altschuk, auch nachdem ihre Leiche am Vormittag des 10. April 2008 an der Mühlendammschleuse in der Spree entdeckt wurde, nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Dennoch geht zumindest ihr Mann heute von einem Selbstmord aus, und der Auseinandersetzung damit hat er nun ein sehr persönliches Buch gewidmet.

Gerade diese persönliche Dimension hinter Altschuks Verschwinden und ihrem Tod blieb in der öffentlichen Wahrnehmung bisher weitgehend unbeachtet. Dies betrifft Altschuks Suizid nicht weniger als Ryklins Umgang damit. Was muss es für einen Partner nach 33 Ehejahren bedeuten, wenn seine Frau eines Tages mit den Worten „Ich gehe zu Kaiser’s Waschpulver kaufen“ die gemeinsame Wohnung verlässt und nie wieder zurückkommt? Von seinen Gedanken darüber, seiner Trauerbewältigung, legt sein „Buch über Anna“ nun Zeugnis ab. Im ersten Kapitel rekapituliert Ryklin die ersten Wochen nach dem Verschwinden seiner Frau und die Konfronation mit der Nachricht ihres Todes. Sie wurde in der Spree gefunden, mit Steinen in den Innentaschen ihres Mantels, ihrer Uhr und ihrem Ehering, ein Bild des Buddha Majushri bei sich tragend. Aber die Obduktion weist auch auf eine Verletzung am Kehlkopf hin, man findet eine in der Haut steckende abgebrochene Nadelspitze an der rechten Bauchseite und eine erhöhte Dosis Doxylamin in ihrem Blut. All dies berichtet Ryklin seinen Lesern – und zugleich, dass, obwohl ein Fremdverschulden nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden konnte, er selbst von ihrem Suizid überzeugt sei.

Was bleibt vom geliebten Menschen zurück? Es ist sein Archiv, wie Ryklin schreibt, und es sind in diesem Fall insbesondere Altschuks Tagebücher und ihre Traumaufzeichnungen. Ryklin fand diese nach ihrem Tod in der gemeinsamen Moskauer Wohnung – insgesamt 27 Hefte unterschiedlichen Umfangs. Zwar wusste er, dass sie Tagebuch schrieb, aber über den Umfang dieses Materials sei er doch überrascht gewesen, wie er mitteilt. Vor allem aber zeigt ihm die Lektüre die eigene Partnerin als einen Menschen, den man zu kennen glaubte, mit anderen, komplexeren seelischen Seiten. Und auch aus dieser Lektüre erwuchs bei Ryklin der Entschluss, seiner Frau ein Buch zu widmern: „Buch über Anna“. Es nimmt unter den bisherigen Werken des Philosophen schon thematisch eine Sonderstellung ein, insofern es ihn persönlich unmittelbar betrifft, nicht lediglich äußere Sachverhalte intellektuell reflektiert.

In Verbindung mit den ausführlichen Zitaten aus Altschuks Aufzeichnungen gewinnt das Buch dadurch eine doppelte Intimität, die es grundlegend auch von seinem 2006 in deutscher Sprache erschienenen Essay „Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der ‚gelenkten Demokratie‘“ abgrenzt. Auch darin befasste sich Ryklin bereits intensiv mit dem Zustand der russischen Gesellschaft – auch die Unterdrückung der Freiheit der Kunst im Namen von Staat und Orthodoxie kamen darin zur Sprache – und er wurde für dieses Buch unter anderem mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Auch in „Buch über Anna“ kommt die Situation in Russland erneut zur Sprache, die sich für die Kunst und ihre Freiheit, heute, bald zehn Jahre nach Zerschlagung der Ausstellung „Achtung, Religion!“ eher noch schlechter darstellt. Dies dokumentieren im Anhang des Bandes abgedruckte Dokumente, Anna Altschuks „Notizen von der Anklagebank“ sowie von Ryklin fünf beziehungsweise acht Jahre später geschriebene Essays anlässlich der Prozesse gegen die Organisatoren der Ausstellung „Verbotene Kunst“ und gegen die Aktivistinnen von Pussy Riot, die nun nicht mehr mit Freispruch endeten und – dies gilt insbesondere für Pussy Riot – nun auch offen die Konfrontation suchten.

Altschuk hingegen war keine Frau, die offen die Konfrontation suchte. Im Gegenteil beschreibt Ryklin sie als eine Person, die eng auf andere Menschen bezogen und deren Selbstwertgefühl stark von der Anerkennung durch andere abhängig war. Umso schwerer mussten sie die Ereignisse in der Folge der Ausstellung „Achtung, Religion!“ treffen, zumal sie sich gezwungen sah, in ein Land auszuwandern, dessen Sprache sie nicht verstand und wo sie vom unmittelbaren Kontakt mit ihrer russischen Heimat – die ihrer Lyrik zweifellos sehr wichtig war – abgeschnitten war. Altschuk unternahm den Versuch, den Prozess gegen sie in einem Video unter dem Titel „Responsible for Everything“ künstlerisch zu verarbeiten. Darin wurden etwa Stimmen aus den zu Zwecken ihrer Anklage gesammelten „Beschwerden von Werktätigen“ verwendet, in denen ihr vorgehalten wurde, sie habe den Glauben, die Gesundheit, das Vertrauen jener einfachen Werktägigen auf Russland, Putin oder die Kirche erschüttert – obschon diese die inkriminierte Ausstellung nie gesehen hatten, geschweige denn Altschuks Beitrag kannten. Wenn Altschuk sich in ihrem Video bei diesen Leuten entschuldigt, die Verantwortung auf sich nimmt, dann erscheint diese ursprünglich als ironische Geste wahrgenommene Aktion Ryklin retrospektiv in einem anderen Licht: Es dokumentiere sich darin ein Schuldbewusstsein, dass Altschuk tatsächlich entwickelt habe, ungeachtet des Irrsinns und der Bizarrerie der Vorwürfe und der Szenen im Gerichtssaal.

Ryklin lernte die 1955 auf Sachalin im Fernen Osten der Sowjetunion geborene Altschuk im Jahr 1973 in Moskau kennen. 1975 heirateten die beiden. Die Frage nach dem Sinn ihres Todes im Alter von 52 Jahren, nach bedingenden Faktoren für ihren Freitod, und ob es Vorzeichen gegeben habe, die er hätte erkennen können – Antworten darauf zu finden, auch darum geht es Ryklin in seinem Buch. Der Erfolg dieses Antwortversuchs kann gewiss nur ein relativer und sehr persönlicher sein. Nichtsdestoweniger ist es eine Auseinandersetzung mit einem individuellen Schicksal und dem eines Landes, das auch den Leser betrifft.

Titelbild

Michail Ryklin: Buch über Anna.
Übersetzt aus dem Russischen von Gabriele Leupold.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
334 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424346

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