Im Fegefeuer der Sprache

Über Ben Marcus’ enigmatische Parabel „Flammenalphabet“

Von Peter MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte der Dystopie ist in der Literatur noch verhältnismäßig jung. So gilt bei vielen „Wir“ von Jewgeni Iwanowitsch Samjatin aus dem Jahre 1920 als Genregründer, allerdings lassen sich erste Merkmale der Dystopie bereits bei E.T.A. Hoffmann und wahrscheinlich noch früher finden. Eines dieser klassischen Merkmale ist eine Gesellschaft, deren Freiheit etwa durch ein diktatorisches System stark eingeschränkt wird, was meist mit dem Verlust zwischenmenschlicher Kommunikation einhergeht.

Insofern lässt sich der Roman „Flammenalphabet“ („The Flame Alphabet“) von Ben Marcus vielleicht sogar die dystopischste aller Dystopien nennen, denn unvermittelt wirft der Autor den Leser in eine Welt, in der die Sprache selbst zum Diktator wird.

Die Epidemie beginnt in jüdischen Gemeinden, in denen Erwachsene durch die Sprache ihrer Kinder erkranken, dahinsiechen und letztlich sterben. Was auf den ersten Blick nach einer Art morbidem Generationenkonflikt klingt, nimmt nach und nach universalere Ausmaße an: Ausgestorbene Straßen, durch die nun Gruppen von ,marodierenden‘, sprich singenden und lärmenden Kindern marschieren, die ihre Macht über die Erwachsenen genießen; ein Staatsapparat, der die Schwachen und Kinder (als Gefahrengut) abtransportiert; Waldhütten, in denen die erwachsenen Juden versteckt ihrem Prediger aus einem Erdloch mit einem merkwürdig organischen Empfangsteil lauschen.

Exemplarisch folgt der Leser in diesem irritierenden Szenario dem Schicksal des Ehepaars Sam und Claire sowie deren Tochter Esther, wobei das ganze Ausmaß der Entfremdung insbesondere bei der pervertierten Geburtstagsfeier greifbar wird, als die beiden ihre Tochter unbemerkt aus einem extra dafür vorbereiteten Versteck heraus beim Verzehr ihres kargen Geburtstagskuchens beobachten.

Bei einem Ausflug durch die leeren Gassen trifft Sam schließlich auf Murphy, der ihm die Lehren von LeBov, einem Widerstandskämpfer, nahebringt. Nicht die Kinder seien das Problem, wie die Wissenschaftler den Menschen wahrmachen wollen, sondern die Sprache selbst, denn: „Warum zum Beispiel dauert die Übelkeit an, selbst wenn die Kinder schweigen?“ Er selbst sei „von Leuten fasziniert, die schmollen, wenn sie irgendwo weder Sinn noch Logik finden können […]. Verstehen hat seinen Preis. Es ist selbst eine verf… Krankheit.“ In diesem Gespräch erinnert sich Sam auch an eine Aussage des Predigers Burke über das Flammenalphabet, das Wort Gottes: „Wir konnten Gottes wahren Namen nicht aussprechen, noch konnten wir, wenn wir gläubig waren, von Gott überhaupt reden“, aber da „das ganze Alphabet Gottes Namen enthält, […] bedeuten alle Wörter Gott“ und deshalb „war die Sprache, per definitionem, tabu.“

Murphy macht Sam auf eine Einrichtung aufmerksam, in der LeBovs Helfer nach einer Heilungsmöglichkeit suchen. In der Hoffnung, seiner immer schwächer werdenden Frau Claire vielleicht noch helfen zu können, schließt er sich Murphy an und folgt ihm in LeBovs Reich. Was den Leser dort erwartet, erinnert aber eher an ein Konzentrationslager: LeBovs Wissenschaftler haben eine Möglichkeit gefunden, Kindern eine Essenz zu extrahieren, die das Sprachleiden zumindest zeitweise mildert – verteilt wird die Medizin aber nur innerhalb der Führungsriege. Der Rest führt ein zombiehaftes Dasein und verabredet sich bisweilen in der Kantine stumm zu unpersönlichem Sex. Sam selbst erhält die Aufgabe, aus den unterschiedlichsten Materialien neue Alphabete herzustellen, die anschließend an „freiwilligen“ Versuchskaninchen getestet werden, und es dauert eine ganze Weile, bis er erkennt, dass dies vielleicht nicht der wahre Grund für seine Anwesenheit ist.

Ben Marcus ist mit „Flammenalphabet“ ein verstörender und kräftiger Roman gelungen, der mehr Fragen aufwirft als er beantwortet. Geschickt greift der jüdische Autor dabei Mythologien und Erfahrungen seiner Religionsgemeinschaft auf, um diese stimmig mit der Handlung zu verknüpfen. Da Marcus dabei aber trotzdem auf Eindimensionalität verzichtet und die Sprache als generelles Kontroll- und Manipulationsinstrument – in Religion, Wissenschaft, Politik und Philosophie – interpretiert, bleibt der Leser durchaus nachdenklich zurück und wird den Roman sicherlich nicht allzu schnell vergessen.

„Wenn ich irgendetwas aus der Welt entfernen könnte, […] wäre das die Sprache, die in meinem Mund verfault.“ (Nietzsche)

Titelbild

Ben Marcus: Flammenalphabet.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Thomas Melle.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2012.
430 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783455403701

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