Mittelalter in Deutschland

Ylva Schwinghammer hat (angehende) Lehrkräfte zu ihrem unterrichtlichen Engagement zugunsten mediävistischer Inhalte befragt

Von Katharina MünstermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Münstermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ylva Schwinghammers Dissertation könnte ihrem Anspruch nach eine Forschungslücke schließen, denn die germanistisch-mediävistische Fachwissenschaft beklagt seit Jahren die Marginalisierung ihrer Gegenstände in Lehrerausbildung und Schulunterricht, ohne diesen Trend jedoch empirisch abgesichert quantifizieren zu können. Schwinghammers Arbeit setzt genau hier an: Im Rahmen ihrer Online-Fragebogenstudie „Mittelalter im Deutschunterricht“ (MIDU) hat die Grazer Mediävistin Lehrkräfte und Lehramtsstudierende aus Österreich, Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz befragt, ob und in welchem Umfang diese dem Mittelalter Raum im Unterricht einräumen würden, und ihre Ergebnisse in Relation zu diversen Parametern gesetzt (Alter, Dienstjahre, Geschlecht, Vorerfahrungen aus Schule und Universität et cetera).

Den ersten und größten Teil der Arbeit bildet auf den ersten 175 Seiten die grafische Auswertung der Fragebogenstudie in zahlreichen Balkendiagrammen, Tabellen und Abbildungen sowie deren zusätzliche Verbalisierung und Kommentierung. Schwinghammer konzentriert sich hierbei vor allem auf das Interesse, das Lehrkräfte und Studierende der Mediävistik im Studium im Vergleich zu den beiden anderen germanistischen Fachbereichen entgegenbringen, darauf, wie die Relevanz mediävistischer Inhalte eingeschätzt, in welchem Umfang diese in den Unterricht eingebunden werden, welche Autoren, Texte und Themen dabei eine Rolle spielen, inwiefern regionale Schwerpunkte gesetzt, fächerübergreifender und projektartiger Unterricht durchgeführt beziehungsweise als interessant angesehen werden. Dabei ergeben sich Unterschiede zwischen den drei untersuchten Ländern und auch Zusammenhänge zwischen den Einzelparametern, die statistisch signifikant und interessant scheinen. So scheint sich die Wahrnehmung der Mediävistik unter den Studierenden zunehmend zu verschlechtern; im Unterricht werden hauptsächlich ‚kanonische‘ Texte und Autoren behandelt, obwohl andere Texte und Gattungen geeigneter erscheinen. Die allgemeine Bereitschaft, die mittelalterliche Sprache und Literatur im Deutschunterricht zu berücksichtigen, hängt von der Einschätzung, deren Relevanz und diese wiederum massiv von den Erfahrungen mit der Mediävistik im Studium ab.

Leider liegen die Ergebnisse, zu denen Schwinghammer für den Deutschunterricht in Deutschland kommt, so weit jenseits der deutschen Unterrichtsrealität, dass jedem, der über eigene Erfahrung in diesem Bereich verfügt, klar sein dürfte, dass hier etwas nicht stimmen kann. So kommt Schwinghammers Studie zu dem Ergebnis, dass derzeit noch 94 Prozent der Deutschlehrkräfte am Gymnasium mittelalterliche Texte im Unterricht einsetzten, die Hälfte von ihnen sogar in der Sekundarstufe I, über 80 Prozent würden – in welcher Form auch immer – dabei gar ‚Originaltexte‘ einbeziehen, sodass 70 Prozent der deutschen Gymnasiasten im Laufe ihrer Schulzeit mit Walther von der Vogelweide und immerhin knapp 35 Prozent mit Wolfram von Eschenbach in Berührung kämen. Entsprächen diese Ergebnisse trotz oder gerade wegen des Fehlens mittelalterlicher Texte in den Lehrplänen der meisten deutschen Bundesländer den tatsächlichen Umständen, wäre vergleichsweise unverständlich, weshalb die Fachwissenschaft hierzulande zum Teil das nahezu vollständige Verschwinden des Mittelalters aus dem Deutschunterricht beklagt. Auch zu Befragungen ehemaliger Abiturienten bezüglich entsprechender Unterrichtserfahrungen aus der eigenen Schulzeit, zu Gesprächen mit Lehrkräften sowie der Tatsache, dass es Studiengänge für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen in Deutschland gibt, die bereits vollkommen ohne mediävistische Anteile auskommen, wollen Schwinghammers Ergebnisse nicht recht passen.

Ein derart verzerrtes Bild ist nur zu erklären, wenn man davon ausgeht, dass die Probanden, die den Online-Fragebogen ausgefüllt haben, nicht repräsentativ gewesen sind. Schwinghammer betont zwar, dass den Teilnehmern beim Mausklick auf die Fragebogenmaske zu einer allgemein als Studie zum Deutschunterricht ausgewiesenen Erhebung und auch während der Eingabe eher personen- als unterrichtsbezogener Fragen noch nicht bewusst gewesen sei, dass die Studie auf mediävistische Inhalte abzielt. Allerdings erfolgte die Akquise der Probanden in Deutschland teilweise über Berufsverbände und Tagungsverteiler, sodass sich die Frage stellt, ob Lehrkräfte, die hier aktiv und zusätzlich bereit sind, an einer solchen Studie teilzunehmen, nicht bereits nicht-repräsentativ für die Gesamtpopulation sind. Darüber hinaus ist die Rezensentin während der Erhebungsphase selbst im Internet auf die Studie gestoßen: auch ohne eine Teilnahme war aus dem Kontext heraus erkennbar, dass es nicht im Allgemeinen um Deutschunterricht, sondern um das Mittelalter im Speziellen ging. Diese Umstände sind sicher nicht der Autorin anzulasten, die Verbreitung im Internet entzieht sich schnell dem persönlichen Zugriff. Schwinghammer hat sich bemüht, solche Faktoren auszuschalten und reflektiert in ihrer Studie auch Probleme ihrer Daten, etwa wenn die Angaben mehrerer Probanden sich logisch ausschließen. Leider lassen die Bedenken bezüglich der Aussagekraft der deutschen Daten zum Unterkapitel zur mittelalterlichen Literatur und Sprache in der Unterrichtsgestaltung, auf die 17 der 42 Items abzielen, für die empirische Studie und damit für den ersten Teil der Arbeit insgesamt ein ungutes Gefühl hinsichtlich deren Aussagekraft und damit deren Nutzen beim Leser zurück.

Im zweiten Teil widmet sich Schwinghammer der Frage nach dem spezifischen Bildungswert mittelalterlicher Sprache und Literatur für die Schule; ausführlich geht sie dabei in einem Exkurs auf die Problematik des Paradigmenwechsels der letzten Jahre hin zur Kompetenzorientierung und -messung in vergleichenden Leistungsstudien ein. Insbesondere warnt sie unter Rückgriff auf einschlägige Literatur vor einer sich abzeichnenden Abkehr vom Literaturunterricht zugunsten basaler Inhaltsentnahmetechniken im Deutschunterricht und problematisiert die Messbarkeit zentraler Kompetenzen in ‚weichen‘ Fächern. Abschließend formuliert Schwinghammer Empfehlungen für Möglichkeiten, die unterrichtliche Auseinandersetzung mit mediävistischen Gegenständen in der Schule zu fördern. Dabei betont sie insbesondere, dass die Hochschulgermanistik in der Verantwortung stehe, sich mehr um eine Vernetzung mit Schule und Öffentlichkeit zu bemühen, und beispielsweise Lehrkräften mehr didaktisch unmittelbar nutzbares, fachwissenschaftlich gut gemachtes Unterrichtsmaterial inklusive moderner Übersetzungen zur Verfügung stellen müsse. Diesem Appell ist sicherlich mit Nachdruck zuzustimmen, allerdings geht der Abschnitt der Arbeit, der die Lernpotenziale mittelalterlicher Sprache und Literatur aufzeigt, über eine Zusammenschau bisheriger Meinungen zum Thema kaum hinaus. Als weitere Mängel kommen häufige Wiederholungen, eine extensive Arbeit mit teilweise fast halbseitigen Zitaten sowie einige Fehler, die durch ein sorgsameres Lektorat vermeidbar gewesen wären, hinzu. So endet die Arbeit dann auch, wie sie beginnt: Mit einem Zitat aus der insgesamt für eine Qualifikationsarbeit und insbesondere angesichts der Zitatdichte des Textes in äußerst überschaubarem Maße berücksichtigten Forschungsliteratur – das Literaturverzeichnis weist lediglich 48 Titel auf.

Sehr positiv fallen allerdings die vielen interessanten Fragen ins Gewicht, die Schwinghammer aufwirft und für künftige Untersuchungen anbietet. Darüber hinaus muss trotz der skizzierten Bedenken bezüglich der Repräsentativität zumindest eines Teils der empirischen Untersuchung hervorgehoben werden, wie sehr die Ergebnisse Anstoß und Anknüpfungspunkt sein können und sollten für die künftige Positionierung des Faches im Sinne einer Akzentverschiebung zugunsten der (Hochschul-)Didaktik. So ist es zwar kein sonderlich überraschendes Ergebnis, dass Lehrkräfte Inhalte, die ihnen im Studium selbst Freude bereitet haben und ihnen relevant erscheinen, eher an Schüler vermitteln als andere. Insbesondere das Kapitel der Arbeit, das eine Einzelauswertung für die Universitäten in Bochum, Frankfurt am Main, Graz, Paderborn und Wien vornimmt, untermauert jedoch eindrucksvoll, wie bedeutsam der Studienort und damit die dortige Lehre für die Interessensbildung der Studierenden und folglich deren spätere Neigung, das Mittelalter im Deutschunterricht zum Thema zu machen, zu sein scheint. Dazu – sich dies immer wieder mahnend ins Gedächtnis zu rufen – regt Schwinghammers Dissertationsschift nachhaltig an.

Titelbild

Ylva Schwinghammer: Das Mittelalter als Faszinosum oder Marginalie? Länderübergreifende Erhebungen, Analysen und Vorschläge zur Weiterentwicklung der Mittelalterdidaktik im muttersprachlichen Deutschunterricht.
Peter Lang Verlag, Frankfurt, M. 2013.
253 Seiten, 46,95 EUR.
ISBN-13: 9783631643969

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