Ein Künstlerviertel schreibt internationale Kunstgeschichte
Der opulente „Esprit Montmartre“ lädt zum Schauen und Lesen ein
Von Klaus Hammer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit der Ausstellung „Esprit Montmartre“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt (bis 1. Juni 2014) wird eine neue Perspektive auf den seit 1860 bestehenden und auf einem Hügel (Butte Montmartre) gelegenen Stadtteil eröffnet: damals ein Künstlerviertel, heute ein Vergnügungszentrum, in dem aber eine wichtige Epoche der Kunstgeschichte geschrieben wurde. Mehr als 200 Werke von 26 Künstlern werden aus dem Zeitraum von 1885 bis 1910 gezeigt. Verschiedene Phänomene der Epoche werden in nach inhaltlichen Gesichtspunkten gegliederten Sektionen untersucht: Der Montmartre – ein dörfliches Paris; Cafés, Varietés und Cabarets, Sänger und Tänzer, Trinker; Akte – vom Malermodell bis zu den verschiedenen Varianten der Prostitution; Zirkus mit Clowns und Gauklern; Montmartre als Ort der Außenseiter und sozialer Veränderungen (Arbeiter, Bettler, Clochards, Wäscherinnen, Demonstranten); das Netzwerk der Künstler, ihre gegenseitigen Porträts und Selbstporträts, das Aufkommen einer neuen Gruppe von Kunsthändlern; Plakatentwürfe als neue Kunstform jener Epoche, Illustrationen in Zeitschriften.
Diese für die internationale Kulturgeschichte bedeutende Periode in Paris wird im diese Themenausstellung begleitenden Katalog, der eine gelungene grafische Formfindung gefunden hat, in vielen Einzelbeiträgen untersucht. Eine historische Karte gibt zudem einen verdichteten Überblick über das Künstlerviertel.
In ihrem Leitaufsatz beschreibt Ingrid Pfeiffer, die Kuratorin der Montmartre-Ausstellung, ungeschminkt die Bohème des Montmartre, die sie von den überlieferten Klischees zu befreien sucht. Sie verweist auf die vielen Selbstdarstellungen der Künstler, die Absinthtrinker, die Prostitution, hebt die Rolle der Künstlerinnen, auch der Kunsthändlerin Berthe Weil wie der anderen Kunsthändler am Montmartre hervor und belegt diese Themen auch anhand der Bilder der Künstler. Markus A. Castor, Directeur de Recherche am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris, setzt sich mit der Vorgeschichte des Montmartre und seiner Topografie auseinander, die „früh schon in ein Amalgam zwischen Idyll und schönschauriger Stätte des Außergewöhnlichen mündete“. Vom Tempelberg, dem Benediktinerinnenkloster über den Gipsabbau, dem in Steinbrüchen abgebauten Gips, der die Zeichner zu mythischer Ruinenlandschaft oder erhabenen Bergformationen anregte, bis zu den „bals publics“, den Cabarets, zu einem „Panoptikum des Hässlichen“ schweift sein Blick, und er vergisst auch nicht, auf deren Widerspiegelung in der Kunst einzugehen.
Chloe Langlais, eine Spezialistin für die Soziologie und Geschichte des Montmartre, geht auf den sozialen und städtebaulichen Kontext des Montmartre um 1900 ein. Der Montmartre zog marginalisierte Bevölkerungsschichten verschiedenster Art an, keineswegs nur die Künstler der Bohème. Den Grund – dafür, dass die Künstler den Montmartre um 1910 wieder verlassen, sieht die Verfasserin auch darin, dass der Initiationscharakter den Ort zu einer Stätte des Übergangs macht: Er muss wieder verlassen werden, damit der Künstler seine Werke aus dieser Leidensphase danach um so erfolgreicher der Welt präsentieren kann.
Der in Paris lebende Kunsthistoriker Peter Kropmanns widmet sich den Tanzlokalen und Cabarets am Montmartre der Belle Epoque, erläutert deren kaleidoskopische Vielfalt, die pluralistisch-multikulturelle, freizügige Welt, den „Freizeitpark, der zeitweilig soziale Grenzen aufhob und gesellschaftliche Konventionen vergessen ließ“. Jedes Lokal hatte sein eigenes Konzept, das ständig verändert wurde, wenn Ermüdung beim Publikum eintrat.
Welche Rolle die Künstler des Montmartre bei der geradezu explosionsartigen Entwicklung der grafischen Künste – der Plakatkunst, der Künstlergrafik und der künstlerischen Buch- und Zeitschriftenillustration – spielte, arbeitet Phillip Dennis Cate, Kurator am Musée de Montmartre, heraus. Mit ihrer neuen Ästhetik ersuchte man ein stetig wachsendes Publikum anzusprechen. Der Einfluss Jules Chérets, des „Vaters der Plakatkunst“, wird genauso behandelt wie Toulouse-Lautrecs Farblithografien, die Radierwerkstatt von August Delâtre, das Zentrum der künstlerischen Radierung in Frankreich, genauso wie Charles Gillots Erfindung eines neuen Reliefdruckverfahrens, das erstmals ermöglichte, gleichzeitig Texte und einfache Abbildungen zu drucken. Die Buch- und Zeitschriftenillustration erlebte eine Blütezeit. Der Montmartre und die Druckgrafik wurden zu einem Synonym für die Moderne.
Danièle Devynck, Chefkonservatorin und Direktorin des Musée Toulouse-Lautrec in Albi, räumt Toulouse-Lautrec und seinen Lehrjahren auf dem Montmartre einen besonderen Platz ein. Hier fand er seinen unverwechselbaren persönlichen Stil. Er ließ sich von der Welt des Cabarets, in der sich Volkstümliches und Künstlerisch-Literarisches vermischen, vor allem im „Chat Noir“, ein ganzes Jahrzehnt zu seinen Werken inspirieren. Zu über 40 Chansonsammlungen entwarf er die Titelillustrationen. Mit Théophile-Alexandre Steinlen wurde er zum wichtigsten Illustrator der Chansons, die Aristide Bruant in seinem eigenen Cabaret „Le Mirliton“ vortrug. Er griff unerschlossene Sujets auf, die unmittelbar aus seinem Lebensumfeld auf dem Montmartre erwuchsen: die Nachtlokale und Vergnügungsstätten, die Künstler und Chansonniers. Er selbst war zu einer Gestalt der dortigen Bohème geworden. Der Auftrag zu einem Plakat für das „Moulin Rouge“ 1891 machte seinen Namen schließlich in ganz Paris bekannt.
Nienke Bakker, Kuratorin am Van Gogh Museum Amsterdam, schreibt über den wenig bekannten Aufenthalt Vincent van Goghs von 1886 bis 1888 im Künstlerviertel Montmartre, bevor er dann in das südfranzösische Arles auf der Suche nach Ruhe, besserem Klima und wärmeren Farben zog. Die Theorie der Komplementärfarben wurde ihm zum Leitprinzip – mit dem Koloristen Eugène Delacroix als leuchtendem Beispiel. Er ließ mehr und mehr Licht und Farbe in seine Gemälde. Er malte Straßenansichten und Landschaften in der unmittelbaren Umgebung seiner Wohnung. Das Nachtleben und Amüsement am Montmartre hat er im Gegensatz zu seinen Freunden Emile Bernard und Henri de Toulouse-Lautrec selten zum Gegenstand seiner Kunst gemacht.
Vinyet Panyella, Direktorin der Kunstmuseen von Sitges, beschäftigt sich mit den katalanischen Künstlern, die sich zwischen 1889 und 1905 auf dem Montmartre niedergelassen hatten. Für diese stand der Montmartre synonym für „ein dreifaches Geschenk, das es in allen Aspekten auszuschöpfen und auszuleben galt: die Jugend, das Leben der Boheme und die Kunst“. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Paris die Stadt Rom als Zentrum der modernen Impulse abgelöst. Der Montmartre bot ein freiheitliches Flair, das ihn zum Bezirk mit eigener Identität machte. Santiago Rusinol vermittelte als Korrespondent der Zeitung „La Vanguardia“ dem Publikum in Barcelona und Spanien ein Bild des Montmartre als einem typischen Leben der Bohème. Doch die wechselseitige Befruchtung zwischen Malerei und Literatur und das Gruppengefühl begannen zu schwinden. Die Künstler wurden zu Individualisten – in zunehmender Entfernung vom Leben der Boheme.
Anita Hopmans, Kuratorin zahlreicher Ausstellungen zu Kees van Dongen, behandelt die frühen Pariser Jahre dieses niederländischen Malers. Die Butte hatte für van Dongen eine andere Funktion als 20 Jahre früher für Toulouse-Lautrec. Er zeichnete als sozial engagierter Künstler Bettler, arme Straßenarbeiter, ausgemergelte Arbeitspferde und einsame Prostituierte – die Schattenseiten der Gesellschaft, das Los der Armen. Durch diesen aktualisierten „Montmartre“-Stil fand er Anschluss an die neue Avantgarde. Robert McDonald Parker, hervorgetreten durch zahlreiche Veröffentlichungen der Pariser Moderne, beschäftigt sich mit dem achtjährigen Aufenthalt Picassos auf dem Montmartre, der ihn zu Bildschöpfungen und Kunstformen anregte, die die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts kennzeichnen sollten. Das Bateau-Lavoir (Waschhaus-Schiff) wurde durch Picassos Anwesenheit zur Geburtsstätte der Avantgarde. Hier entstanden die Gemälde aus seiner Blauen Periode, die meist von Bettlern, verarmten Familien und Prostituierten bevölkert sind. Seine Geliebte Fernande Olivier – sie war sein wichtigstes Modell während der Montmartre-Jahre – und der Dichter Guillaume Apollinaire spielten beide während der Zeit im Bateau-Lavoir eine wichtige Rolle. Die Welt des Zirkus` wurde Picasso zu einer wichtigen Inspirationsquelle. Das kubistische Meisterwerk „Les Demoiselles d’Avignon“, heute immer noch ein bestürzendes Bild, fand beinahe zwei Jahrzehnte keinen Käufer. Picassos Abkehr vom analytischen zum synthetischen Kubismus fiel zusammen mit der Trennung von Fernande, so der Picasso-Experte John Richardson. Die Entdeckung des Kubismus im Bateau-Lavoir und Picassos weiterführende Experimente im analytischen Kubismus sind untrennbar mit seinen Jahren auf dem Montmartre verbunden.
Beschlossen wird der Band durch Kurzbiografien der ausgestellten Künstler (mit knappen Angaben zur Sekundärliteratur) und dem Verzeichnis der ausgestellten Werke. Eine Chronologie des Künstlerviertels mit entsprechenden Konkordanzen wäre wünschenswert gewesen.
Montmartre ist für uns heute nicht zu trennen von Renoir und van Gogh, von Suzanne Valadon und Degas, von Picasso, Max Jacob, van Dongen, Pascin, Berlioz, Gerard de Nerval und und und. Man hätte also durchaus noch weitere und spezifischere Beiträge schreiben können. Aber die in diesem Band vereinigten Aufsätze geben, begleitet von reichen Bildbeispielen, einen hervorragenden Einblick in das Laboratorium Montmartre, in dem nicht nur der Kubismus entstand, sondern in dem auch ein wichtiges Kapitel internationaler Kunstgeschichte geschrieben wurde.
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