Und sie bewegt sich doch

Auf der Suche nach den Grenzen der Meinungsfreiheit findet Thilo Sarrazin in „Der neue Tugendterror“ vor allem sich selbst

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thilo Sarrazin hat schwer gelitten. Der vehemente Widerstand und die Ablehnung, die ihm von den Medien und Teilen der Politik nach der Veröffentlichung von „Deutschland schafft sich ab“ entgegengebracht wurden, der öffentliche Druck, der ihn zur Aufgabe seines Vorstandspostens bei der Deutschen Bundesbank zwang oder auch das (später eingestellte) SPD-Parteiausschlussverfahren – all diese Vorgänge haben tiefe Spuren hinterlassen. Das sei an dieser Stelle ausdrücklich festgehalten, denn die psychologische Grundkonstitution, aus der heraus Sarrazins Buch „Der neue Tugendterror“ entstanden ist, ist bestimmend für die Schreibmotivation und determiniert auch letztlich ihre Ergebnisse.

Sarrazin stellt seinen Fall in das Zentrum des Buches. Seine Erlebnisse lassen ihn zu folgender These kommen: Die Vertreter einer von linksorientierten Kräften dominierten Medienlandschaft sowie die Repräsentanten eines nach links driftenden Politikbetriebs lassen bestimmte Diskussionen gar nicht erst zu, indem bei gewissen Themen durch willkürliche moralische Aufladung nur eine ganz bestimmte Lesart gestattet ist. Wer sich dennoch öffentlich mit anderen Lesarten beschäftigt, wird durch einen medialen Kreuzzug unter dem Banner des Moralischen mundtot gemacht. Dieser „Tugendterror“ führt nach Sarrazin zu einer systematischen Einschränkung der Meinungsfreiheit in Deutschland. Ziel jener Vertreter – im naiven Glauben, alle Menschen seien gleich – sei die „Gleichmacherei“: Das Verwischen von Religionen, Kulturen, nationalen Identitäten und die Einebnung von Bildungsgefällen münden in die von Sarrazin beschworene Horrorvision eines Deutschlands, in dem der Islam dominiert, die Bildung auf Tiefstniveau absinkt, Eliten abgeschafft sind und demzufolge die wirtschaftliche Zukunft des Landes auf dem Spiel steht.

Ist jemand, der aus der Position des Betroffenen, des Geprügelten, ja des Traumatisierten heraus schreibt, der geeignete Beobachter, die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland auszuloten? Halbwegs objektiv, unvoreingenommen, unbestechlich in der Analyse? Zunächst einmal erfährt man über die Grenzen der Meinungsfreiheit im Buch eher wenig. Auch wenn Sarrazin – breiter ausholend – auf die Französische Revolution, die Hexenverbrennungen oder die Religionsausübung im Römischen Reich zurückkommt oder im Vorbeigehen den frühen Politiktheoretiker Niccolo Machiavelli zitiert, um seiner Argumentation den Anstrich des Allgemeingültigen zu geben, ist Flucht- und Angelpunkt doch immer wieder sein eigenes Schicksal. Seitenlang referiert er in einem dezidierten Kapitel die eigenen Positionen, die er schon in „Deutschland schafft sich ab“ vertreten hatte, und seziert die überwiegend negative Rezeption dazu. Letztlich geht es ihm darum, seine Positionen zu wiederholen und die seiner Meinung nach falsch verstandenen Aussagen – etwa die zur unterschiedlich vererbten Intelligenz bei Völkern – richtigzustellen.

Die vordergründige Darstellung der Grenzen der Meinungsfreiheit bleibt immer wieder seltsam durchwoben von Polemiken, subjektiv geprägten Grundannahmen oder tendenziös präsentierten Statistiken. Und was ist mit den Vertretern der linken Medienlandschaft, die ihm so zusetzten? Die hält Sarrazin für unqualifizierte, praxisferne Schöngeister, denn sie hätten „Politikwissenschaft, Germanistik oder Geschichte studiert“ und sind somit keinesfalls „Experten […] für Problemlösungen in der sozialen und physischen Wirklichkeit“. Letztlich sind sie „Verharmloser und Schönfärber im harmoniefreudigen Müsli-Milieu“, die das Volk der „Bio-Deutschen“ medial regieren. Und was ist mit den Politikern – quer durch alle Parteien – die ihm während der ganzen öffentlichen Auseinandersetzung die Rückendeckung verweigerten? Für Sarrazin sind sie alle geistlose Provinzler: „Politiker lesen nämlich in der Regel keine Bücher, dazu haben sie keine Zeit. Sie lesen Zeitung, bevorzugt das Regionalblatt ihres Wahlkreises […]. Ihre historischen und wirtschaftlichen Kenntnisse sind meist überschaubar, ihre Allgemeinbildung auch.“ Diese Polemiken zeigen, wie tief der Stachel sitzt bei Sarrazin; sie zeigen aber auch die Grenzen des Weitblicks, der Argumentationstiefe und der Sachlichkeit.

Das Buch wird seinem im Titel formulierten Anspruch letztlich nicht gerecht. Es gelingt nicht, das Individuelle des Falles ins Exemplarische zu heben und nachvollziehbar nachzuweisen, dass genau die Mechanismen, die in der Causa Sarrazin griffen, grundsätzlich jene Verfahrensweisen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit sind. Die Argumentation will nicht richtig zünden, bleibt wenig stimmig, zumal in ihr das Ergebnis bereits stets vorweggenommen ist. „Der neue Tugendterror“ ist vielmehr eine Fortsetzung – besser: Bekräftigung – von „Deutschland schafft sich ab“. Zentrale Positionen werden nochmals festgeschrieben: die konservative Haltung zur Homo-Ehe, zu Unterschieden zwischen Mann und Frau, zum Islam, zu Multi-Kulti allgemein, zur Überlegenheit bestimmter „Ethnien“ gegenüber anderen. Das ist Sarrazin in seiner gewohnt kontroversen, aber eben auch sattsam bekannten Form. Dieses immerwährende Referieren der eigenen Positionen macht den Nachweis zu den Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland – den man durchaus führen könnte, Beispiele gäbe es genug, und beileibe nicht nur aus der linken Ecke – zu einer Argumentationskette mit ornamentalem Charakter, während sich die eigentliche Aussage des Buchs zu einem trotzigen „Und-sie-bewegt-sich-doch“ verdichtet.

Titelbild

Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014.
400 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783421046178

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