Die zweite Seite der Medaille

Der polnische Autor Andrzej Bart hat mit „Knochenpalast“ die Erzählung zu seinem erfolgreichen Drehbuch nachgereicht

Von Alexandra SauterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Sauter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer mit Ende 20 noch auf dem Markt erhältlich ist, erlebt auch heute mitunter noch mitleidiges Schweigen. Dramatisch allerdings ist Sabinas Schicksal im Polen der 1950er-Jahre: Fleißig, still, bescheiden lektoriert sie tagsüber in der Abteilung für polnische Poesie – zu Hause warten ihre Mutter Irena und die Großmutter mit Ratschlägen zur Lösung des existentiellen Dilemmas auf. Doch mit keinem der gelegentlich hereinschneienden Männer will Sabina unter die Haube passen – bis der ominöse Bronisław das Mauerblümchen vor Straßendieben rettet.

Der polnische Regisseur Borys Lankosz gewann im Jahr 2009 mit seinem Debüt „Rewers“ die wichtigsten Filmpreise seines Landes. Seine Stars lächelten wochenlang von den Titelseiten der Magazine. Die Geschichte über das verbreitete Leid einer jungen „alten Jungfer“ verband der Film mit dem ironischen Blick auf die stalinistische Repression. Durch „Rewers“ – das Wort bezeichnet die berühmte Kehrseite einer Medaille – bewegten sich überzeichnete Figuren und drangen jazzige Klänge. Den schwarzen Humor hatte Andrzej Bart, selbst Filmemacher und Autor, über das dunkelste Kapitel der polnischen Nachkriegsgeschichte gegossen. Mit dem Drehbuch zu „Rewers“ kehrte Bart zu einer Figur seines Romanerstlings „Rien ne va plus“ von Anfang der 1990er-Jahre zurück. Auf Deutsch erschien bisher von Bart vor rund drei Jahren der Roman „Fliegenfängerfabrik“. Mit „Knochenpalast“ liegt seit diesem Jahr nun seine Erzählung vor, die auf dem Drehbuch zu „Rewers“ gründet.

Rasch wie die Szenen im Film wechseln in „Knochenpalast“ die kurzen Kapitel: Genau halten sie fest, wohin die Augen und Hände der Figuren wandern, doch kaum, wie deren innere Regungen zustande kommen. Schon Lankosz’ Film war weniger psychologische Studie, denn Groteske und Satire. Doch Lankosz hatte Schauspieler wie die aus Andrzej Wajdas Filmen bekannte Krystyna Janda und Marcin Dorociński, Polens derzeit erfolgreichsten Darsteller für Figuren zwischen 30 und 40, die den szenischen Anweisungen einen lebhaften Ausdruck gaben. Der Retter Bronisław nämlich hat durchaus andere Absichten als die, ein graues Fräulein vor der Einsamkeit zu bewahren. Wie Sabinas Held allerdings von einer Minute zur nächsten zum Dämon wird, zeigt Andrzej Barts literarische Version allzu holprig. Bart hat sich entschieden, den Film eins zu eins nachzuerzählen, ohne sich um die sprachliche Darstellung zu kümmern.

Bedauerlich. Denn die Handlung fließt über von Momenten, die Andrzej Bart – als Autor in Polen durchaus geschätzt und mit Thomas Pynchon verglichen – hätte vertiefen können. Den Pragmatismus der polnischen Frauen etwa, die in Katastrophen einen überraschend kühlen Kopf bewahren und auf die ersehnten Männer – so zeigt sich – kaum angewiesen sind. Seinen Vater lernt Sabinas Sohn Marek dann auch nicht mehr kennen. Wie Bronisław hat nämlich auch Sabina zwei Gesichter. Ihr Schicksal nimmt einen anderen Lauf als das ihres Alter ego im Roman „Rien ne va plus“. Die Dame dort hatte den Freitod gewählt. Der Warschauer Kulturpalast, Stalins protziges Geschenk ans verbündete Polen, wird bei all diesen Kehrtwenden schließlich zum „Knochenpalast“.

Alles hat ein zweites Antlitz. Im Falle der Geschichte von Sabina bilden Verfilmung und Erzählung eine Medaille mit ungleichen Seiten: nur eine glänzt. Während man im Kino Nina Simones rauchige Stimme am Ende sinnlich wahrnimmt, versucht der Erzähler im Buch die Fantasie des Lesers anzuheizen, indem er sich vorstellt, dass Sabina „Kopfhörer trägt und Nina Simone für sie bei voller Lautstärke singt“. Literatur ist eben auch Inszenierung, eigentlich.

Titelbild

Andrzej Bart: Knochenpalast. Novelle.
Übersetzt aus dem Polnischen von Albrecht Lempp.
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2014.
192 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783895612961

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