Melancholisches Heimatlied einer DDR-Familie

„Von der langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr weiten Strecke“ von Henriette Dushe

Von Lisa EggertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa Eggert

Der mit 5000 Euro dotierte „Stück-Auf“-Preis, verbunden mit einer Uraufführung in der nächsten Spielzeit, geht im Jahre 2014 an „Von der langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr langen Strecke“ von Henriette Dushe. In der Preisbegründung heißt es: „Henriette Dushe nimmt uns mit auf eine packende Reise durch die Zeit und in das Innenleben ihrer Figuren. Besonders fasziniert hat uns die musikalische Struktur der Sprache dieses ‚Bühnentextes für fünf Frauen‘ – eine wahre Wortpartitur“.

Die „Musik“ dieses Stückes ist, anders als in der Slapstick-Groteske „Hiroshimaplatz“, kein Feuerwerk der guten Laune. Sie untermalt eher melancholisch die Geschichte einer Familie aus der ehemaligen DDR.

Die Mutter und ihre vier Töchter erinnern sich: „an die Geräusche der Tauben im Wintergeruch“ in ihrer ehemaligen Heimatstadt; an das „Scheiß-Gärtchen“ des Großvaters und daran, wie der Vater, der sich für sich und seine Familie ein besseres Leben erträumt, minutiös die Ausreise mit dem Zug plant. Sie rekapitulieren die langen Vorbereitungen, die Inventur aller Habseligkeiten und schließlich die traumatische Ausreise. Die fünf Frauen verhandeln aber vor allem, wie der Vater, obwohl er dieses Überschreiten der Grenze von allen am meisten gewollt hat, die neue „Heimat“ nicht finden kann und so innerlich nie im Westen ankommt.

Aber was ist diese Heimat eigentlich? Etwas, das man in Kisten und Koffer packen kann, das zählbar ist? Sind „23 Bettbezüge, 4 Kinderbademäntel, eine Wolldecke, 4 Paar Schlittschuhe, 4 Paar Rollschuhe, eine Kinderschaukel, 15 weiße Tischdecken, 12 bunte Tischdecken, 12 Couchtischdecken, 6 Servietten aus Stoff, 4 Leinenschlafsäcke“ Heimat? Oder muss man über die Heimat Geschichten erzählen können, wie über den Hof, auf dem man mit den „Enricos und Ronnys“, den „Peggys und Grits“ immer gespielt hat? Vielleicht ist Heimat auch ein Gefühl?

Hintergründig mitgestellt werden diese Fragen in der psalmenhaften Melodie vom Gesang der Mutter und Gegengesang der Töchter, die das Drama bestimmt. Diese von der Jury gelobte Musikalität der Sprache mutet dem vorurteilsbehafteten Zuschauer aus „dem Westen“ zunächst etwas fremd an – widersetzt sie sich doch dem Stereotyp von der atheistischen DDR. Hier wird schon auf der Ebene der Textgestaltung eine Grenze im Kopf des Zuschauers überschritten. Denn gerade diese Diskrepanz von Fremd- und Selbstzuschreibungen, von eigenen Wünschen und Vorstellungen und denen anderer, von innerer und äußerer Heimat, macht den diesjährigen Gewinnertext so spannend. Neben dem verhandelten innerfamiliären Konflikt zeigt der Text über verschiedene Momente der Distanzierung die Auswirkungen des Grenzübertritts bzw. des Heimatverlusts – sowohl für die Eltern als auch für die Töchter. Aufzählungen, rhythmische Wiederholungen und die Unmöglichkeit eine der Töchter im Text oder auf der Bühne während der Chorpassagen zu individuieren, zeigen, wie sich aus Heimatverlust ein Identitätsverlust generieren kann.

Das ist alles nicht neu und im Zuge der Verarbeitung der deutsch-deutschen Geschichte schon häufig und vielseitig bearbeitet worden. Aber Henriette Dushe gelingt mit „Von der langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr weiten Strecke“ eine ästhetisch ausgefeilte, tiefgründige Umsetzung der Thematik. Die szenische Lesung greift, neben den detaillierten Regieanweisungen der Autorin, vor allem die Musikalität des Textes auf, ohne die anderen Aspekte aus dem Blick zu verlieren. Eben das Fehlen persönlicher Merkmale, die mangelnde Tiefe der einzelnen Figuren bei gleichzeitiger Komplexität des Stoffs, zeichnet die Darbietung besonders aus. So können Text und Lesung gleichermaßen überzeugen. Es ist sicherlich kein unverdienter Sieg für die fünf Frauen aus der DDR und ihre Autorin, aber bei der großen Dichte sehr guter Texte und schöner Inszenierungsideen zumindest ein knapper.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen