Kleider machen Leute – Kleiderbeschreibungen machen Geschichte(n)

Anita Sauckels Studie über die ,Modebeschreibungen‘ in der isländischen Literatur des Mittelalters

Von Alissa TheißRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alissa Theiß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei „Die literarische Funktion von Kleidung in den Íslendingasögur und Íslendingaþættir“ handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Version der 2012 an der Universität München angenommenen Dissertation von Anita Sauckel, ihres Zeichens wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Fennistik und Skandinavistik der Universität Greifswald.

Die Arbeit untersucht Kleiderbeschreibungen in den mehr als 30 Werke umfassenden isländischen Prosaerzählungen des Mittelalters. Gesetztes Ziel der Arbeit war es, Erkenntnisse über die soziale und kulturelle Bedeutungsdimension von Kleiderbeschreibungen zu gewinnen. Was für die mittelhochdeutschen Epen gilt, trifft auch auf die Sagas zu: Die ältere Forschung maß Kleiderbeschreibungen keine großartige Relevanz bei. Sie galten meist lediglich als schmückendes Beiwerk, irrelevant für den Handlungsablauf. Sauckel legt in ihrer Untersuchung dar, dass dem widersprochen werden muss. Auch in der mythologischen Überlieferung des 13. Jahrhunderts spielt Kleidung eine zentrale Rolle, dient zur Charakterisierung von Figuren und wirkt identitätsstiftend. Daraus schlussfolgert die Autorin, dass es unwahrscheinlich ist, dass Kleiderbeschreibungen in den Íslendingasögur und Íslendingaþættir einzig zur Illustration der mittelalterlichen Umwelt dienten. Sauckel gelingt es, eindrücklich zu zeigen, dass Kleiderbeschreibungen in den untersuchten Sagas eine wichtige Bedeutung zukommt: Sie dienen einer erweiterten psychologischen Charakterisierung der Figuren sowie deren sozialer und geschlechtlicher Unterscheidung und können zum Ausdrücken innerer Zustände verwendet werden.

Die Autorin untersucht die Funktion von Kleiderbeschreibungen nach unterschiedlichen Gesichtspunkten. „Kleidung und soziale Distinktion“, „Kleidung und Geschlecht“ sowie „Kleidung und Emotionen“ stellen die drei übergeordneten Themen der Publikation dar, die zwischen der Einleitung und einer mit „Die Sprache der Kleidung“ überschriebenen Zusammenfassung der Ergebnisse eingebettet sind. Daran schließt sich das Literaturverzeichnis – eingeteilt in Quellen, Nachschlagewerke und Forschungsliteratur – sowie ein Glossar der Kleidertermini an. Es folgt die 66-seitige Belegstellensammlung, die den thematischen Gliederungspunkten der Arbeit folgt. Sie bietet die altisländischen Originalzitate mit deutscher Paraphrasierung.

Besondere Probleme bieten die Kleiderbeschreibungen beim Versuch, die wikingerzeitliche Tracht zu rekonstruieren, denn zwischen der Entstehung und der Niederschrift liegen 200 bis 300 Jahre. Sauckel kommt zu dem Ergebnis, dass die Kleiderbeschreibungen in den Íslendingasögur und Íslendingaþættir weniger der realen wikingerzeitlichen Tracht entsprechen, sondern vielmehr als Ausdruck der Schreibkunst der Verfasser zu gelten haben, die damit ihre Bildung und ihr Können unter Beweis stellten. Hierdurch ergeben sich natürlich Probleme beim Abgleich von Sachfund und literarischem Befund. Sauckel beschränkt sich deshalb auf die literarische Beschreibung und zieht keine archäologischen Funde zum Vergleich heran, verweist aber auf Untersuchungen, die Realien miteinbeziehen. Bei der Nomenklatur der Kleidung folgt die Autorin der grundlegenden Terminologie, wie sie Hjalmer Falk in seiner „Altwestnordischen Kleiderkunde“ von 1919 festgelegt hat. Sie geht zunächst auf Material, Farbe, Beschaffenheit und Herstellung der Textilien im mittelalterlichen Island ein. Die daran anschließenden Abschnitte zu „Kleidung des Mannes“ und „Kleidung der Frau“ beschreiben die in den Sagas vorkommenden Kleidungsstücke. Im Abschnitt „Kleidung und soziale Distinktion“ zeigt Sauckel, dass Kleidung nicht nur als Statusanzeiger dient – beispielsweise auf den Thingversammlungen – sondern Kleiderbeschreibungen auch zur psychologischen Charakterisierung der Figuren verwendet werden. Wie auch in der mittelhochdeutschen Epik existiert eine gedachte Kongruenz von Kleid, Körper und Charakter (schön = gut, hässlich = schlecht).

Besonders spannend und bisher viel zu wenig beachtet ist die symbolische Funktion von Kleiderfarben. So können Komplementärfarben der Gewänder oder Ausstattung von Kriegern deren Gefolgschaft bzw. gegenseitige Treue symbolisieren und eine innere Verbundenheit anzeigen. Außerdem konnte Sauckel feststellen, dass schwarz-blaue Kleidung häufig mit dem Tod in Verbindung gebracht wurde. So tragen Männer vor dem Begehen eines Totschlags oft blau-schwarze Kleidungsstücke.

Kleider können aber auch als Identifikationsmerkmale bestimmter Personen dienen. Kleidergaben werden in den Sagas häufig thematisiert. Die Autorin arbeitet unterschiedliche Felder der Kleidergeschenke heraus. So können Kleidergaben den Übergang vom Knabenalter zum Mann kennzeichnen, oder – zwischen Ebenbürtigen – die Aufrechterhaltung von Bündnissen oder die Bestätigung beziehungsweise Erneuerung von Freundschaften anzeigen. Kleidergaben kommen sehr oft aus Norwegen und dienen als Skaldenlohn oder symbolisieren den Eintritt in das Gefolge eines norwegischen Königs.

Anders als im übrigen Europa, gab es im mittelalterlichen Island keine Ständegesellschaft und keinen Adel, sondern lediglich eine gesellschaftliche Einteilung in Ober- und Unterschicht, was seinen Niederschlag in der Literatur findet. Auch der Klerus tritt fast nicht auf. Die in den Sagas beschriebene Kleidung der Oberschicht bedeutet mehr, als nur eine bloße Zurschaustellung von Reichtum: Sie repräsentiert den sozialen Status und zeigt zum Beispiel die Befähigung eines Mannes zum Häuptling an. Mit dem Verlust der Kleidung geht der Verlust des sozialen Ranges und damit letztlich der Verlust der Identität einher.

Obwohl die Textilherstellung im mittelalterlichen Island von großer Bedeutung war, findet sie kaum Niederschlag in der Literatur. Wenn Tätigkeiten wie Spinnen oder Weben in den Sagas vorkommen, dann stehen sie in der Regel im Zusammenhang mit magischen Praktiken und werden von zauberkundigen Frauen durchgeführt.

Alle hier genannten Aspekte belegt die Autorin mit zahlreichen Beispielen aus den Íslendingasögur und –þættir, teilweise geht sie auch darüber hinaus und zieht Vergleiche zur mythologischen Überlieferung Islands oder den mittelhochdeutschen Epen. Das Buch wird damit zu einer wahren Fundgrube für alle, die sich mit einer ähnlichen Thematik beschäftigen.

Sauckel kommt am Ende ihrer Untersuchung zu dem überzeugenden Ergebnis, dass die Kleiderbeschreibungen der Erweiterung von sozialer und psychologischer Figurencharakterisierung dienen. Sie veranschaulichen soziale wie geschlechtliche Distinktion und werden als Mittel zum Ausdruck von Emotionen verwendet. Kleiderbeschreibungen sind demnach als ein integrativer Bestandteil des Sagastils zu verstehen.

Wenngleich eigentlich nebensächlich, so doch für den Leser sehr erfreulich ist zudem die hervorragende Redaktion des Textes zu erwähnen, die leider in letzter Zeit bei DeGruyter nicht mehr als Vorraussetzung gelten darf. Ihr gesetztes Ziel, das Verständnis von Vergangenheitsadaption im mittelalterlichen Skandinavien zu erweitern, hat Anita Sauckel zweifelsohne erreicht. Auch für die Erfüllung ihres Wunsches, dass die Arbeit als Grundlage für Einzeluntersuchungen dienen und den Dialog über die Disziplingrenzen hinaus bereichern möge, sind mit „Die literarische Funktion von Kleidung in den Íslendingasögur und Íslendingaþættir“ alle Fundamente gelegt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Anita Sauckel: Die literarische Funktion von Kleidung in den Íslendingasögur und Íslendingaþaettir.
De Gruyter, Berlin 2014.
222 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110330816

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