Projektionen und Variationen eines Mythos

Christiane Hansens spannende Untersuchung zu „Transformationen des Phaethon-Mythos in der deutschen Literatur“

Von Stephan KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Titel dieser Besprechung würde die Autorin des Bandes „Transformationen des Phaethon-Mythos in der deutschen Literatur“ vermutlich die Verkürzung kritisieren, und zwar als Verkürzung in zweifacher Hinsicht: Denn der Mythos von Phaethon – dies ist schnell aus Hansens Schrift zu lernen – umfasst nicht nur den (bekannteren) Teil, in dem Phaethon, Sohn des Helios, den Sonnenwagen über das Firmament zu lenken versucht und die Pferde nicht im Zaum halten kann, sodass das Gespann vom Himmel auf die Erde stürzt; und – vor allem – Christiane Hansen interessiert sich in ihrer gut lesbaren Studie nicht allein für diesen Abschnitt des Mythos. Vielmehr bietet ihre Analyse der Transformationen des Mythos eine Reihe von nachhaltigen Einsichten, die gerade auf der Betrachtung unterschiedlicher mythischen Erzählungen in ihrer Gänze beruhen. Den leitenden Begriff der Transformation nimmt Hansen dabei wörtlich und ernst und setzt ihn produktiv ein, um in vier unterschiedlich umfangreichen Schritten darzulegen, auf welche Weisen der Phaethon-Mythos jeweils medialisiert und funktionalisiert wird.

So funktioniert der Konzern Volkswagen „Phaeton“ – die differenten Schreibungen werden auch von Hansen angemerkt – zur Bezeichnung für ein Auto um. Volkswagen baut seit 2002 eine schwere, Benzin schluckende Luxuslimousine, die diesen Produktnamen trägt. Zur Markteinführung des Fahrzeugs erschien auch eine umfangreiche Werbebroschüre, in der sich neben zahlreichen Hochglanzfotos auch eine verkürzte Erläuterung des Produktnamens fand. Phaeton sei der ehrgeizige Sohn des griechischen Sonnengottes Helios und habe den Sonnenwagen lenken wollen. Außerdem habe es vom Autobauer Horch bereits in den 1920er–Jahren ein Auto mit diesem Namen gegeben. Volkswagen knüpfe daran an und der Name stehe sinnbildlich für Kraft und Eleganz. Unerwähnt bleibt dort der folgenreiche Absturz des mythischen Namengebers aus dem Firmament. Vermuten lässt sich, dass die Namenswahl werbetechnisch zumindest ungeschickt war, auch da die aktuelle Broschüre kein Wort mehr über die Namenswahl verliert.

Christiane Hansen erwähnt die Karosse zwar, doch kommt ihre feingliedrige Untersuchung – wie zu lesen – sehr gut ohne die weitere Auseinandersetzung mit derlei banalen Marketingfragen aus. In ihrer Sicht dürfte es sich bei dieser Verwendung des Namens um eine „punktuelle Anspielungsrezeption“ des Phaethon-Mythos handeln, die Hansen zwar ausdrücklich berücksichtigt, jedoch im Falle des Autos treffsicher als „versatzstückhaft“ klassifiziert.

Hansen macht vielmehr – gewinnbringend – eine langfristige Perspektive stark, die ihre Untersuchung charakterisiert und zweifellos gegenüber an einzelne Epochen gebundenen Studien abhebt. Dies liegt auch an der Betonung des Transformationsbegriffes, den Hansen mythostheoretisch unterlegt: „Die einzelnen Transformationen versuchen nicht nur, dem durch die antike Literatur vermittelten Mythos in unterschiedlichen Kontexten und Kommunikationszusammenhängen neue Bedeutung abzugewinnen, sondern positionieren sich zugleich innerhalb rezeptionsgeschichtlicher und poetologischer Paradigmen.“

Hierauf baut Hansen auf und „verfolgt“ Phaethon von der Antike, über die Frühe Neuzeit und Klassik, Romantik, Historismus bis in die Moderne und Postmoderne. Die oft zu beobachtende antike Hervorhebung des Weltbrandes – infolge von Phaethons Sturz – werde in der Frühen Neuzeit zum Teil ironisch gebrochen, aber auch didaktisch – als Kritik an Hybris etwa – eingesetzt, während sich schon in der Aufklärung zunehmend ernste Rezeptionslinien ausmachen ließen, und zwar bis hin zu Ansätzen zur Psychologisierung des Phaethon-Mythos. Damit verschiebe sich die Gewichtung der Mythen-Stories hin zu einem märtyrerähnlichen Helden, was wiederum zu einer Verstärkung textueller Bezugnahmen auf die Prätexte und weitreichenden Differenzierungen führe. In Moderne und Postmoderne seien Umwertungen zwischen den Polen Phaethon als Opfer und als Täter bedeutsam sowie die Weltbranderzählung (im Zusammenhang des Mythos).

Anhand dieser Beispiele lässt sich gut die klare Ergebnisorientierung der Studie erkennen. Hansen gelingt es, die Umwertungsvorgänge im und am Phaethon-Mythos so darzustellen, dass sie wie der transformatorische Karriereweg der Figur erscheinen und je ersichtlich wird, auf welche Weise die Faszination in den einzelnen (Groß-)Epochen in die jeweilige einzelne literarische Aneignung eingegangen ist.

Titelbild

Christiane Hansen: Transformationen des Phaeton-Mythos in der deutschen Literatur.
De Gruyter, Berlin 2012.
419 Seiten, 109,95 EUR.
ISBN-13: 9783110289862

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch