Literaturtheorie im Vormärz

Eine Anthologie zeigt, wie sich Berthold Auerbach eine zukünftige Volksliteratur vorstellte

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Inzwischen hat sich die „kleine Renaissance“, die Hermann Kinder im Hinblick auf die Beschäftigung mit dem Werk Berthold Auerbachs in der Germanistik, den Kulturwissenschaften und den Jüdischen Studien 2011 konstatierte, erfreulicherweise weiter verstetigt. So erschienen zum 200. Geburtstag des Autors im Jahr darauf neben Zeitungsartikeln oder auch einem thematischen Schwerpunkt in dieser Zeitschrift weitere Forschungsarbeiten, darunter auch ein umfangreicher Sammelband mit neuen Studien zu Auerbachs Werk. Allerdings gibt es bis heute keine kritische Gesamtausgabe der Schriften Auerbachs und auch von seinen im 19. Jahrhundert so populären „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ finden sich aktuell nur Auswahlbände im Buchhandel. Die für ein Verständnis des liberalen Aufklärers und Humanisten Auerbach besonders aufschlussreichen Briefe an seinen Freund Jakob Auerbach, die dieser 1884 in zwei Bänden veröffentlichte, wurden danach nie wieder aufgelegt. Das allerdings wird sich nun ändern. Nachdem vor drei Jahren bereits Hermann Kinders Collage mit kommentierten Ausschnitten aus den Briefen veröffentlicht wurde, ist für November 2014 bei De Gruyter die 1000-seitige, von dem renommierten Auerbachspezialisten Hans Otto Horch edierte und aufwändig kommentierte Neuedition der Briefe angekündigt.

Anfang des Jahres erschien zudem der hier anzuzeigende Band mit „Schriften zur Literatur“ von Berthold Auerbach im Göttinger Wallstein Verlag. Es handelt sich dabei um eine Auswahl von Auerbachs literaturprogrammatischen Schriften, die neben den beiden zentralen Texten „Das Judenthum und die neueste Literatur. Kritischer Versuch“ (1836) und „Schrift und Volk. Grundzüge der volksthümlichen Literatur, angeschlossen an eine Charakteristik J.P. Hebel’s“ (1846) auch einige ausgewählte Literaturbesprechungen, einen Brief des Autors sowie eine bislang unveröffentlichte autobiografische Quelle umfasst. „Das Judenthum und die neueste Literatur“ hat schon Auerbach nicht in die zu seinen Lebzeiten erschienenen Werkausgaben aufgenommen; ebenso wenig seine Rezensionen, die er 1838/39 in August Lewalds Kulturzeitschrift „Europa“ veröffentlichte.

Zusammengestellt und herausgegeben wurde die Anthologie von dem Konstanzer Privatdozenten Marcus Twellmann, der diese als Leseausgabe verstandene Edition mit einem vorzüglichen Nachwort versehen hat. In erster Linie ging es dem Herausgeber darum, den wichtigsten und umfangreichsten literaturtheoretischen Text Auerbachs, „Schrift und Volk“, wieder zugänglich zu machen. Daher erklärt sich, dass dieser, entgegen der chronologischen Ordnung, die Sammlung eröffnet. Twellmann entschied sich dafür, Auerbach als einen Autor des Vormärz zu präsentieren, was sich in der Auswahl spiegelt, die mit Ausnahme des Kindheitserlebnisses, das Auerbach erst 1881, wenige Monate vor seinem Tod, niederschrieb, keine nach 1848 entstandenen Aufsätze oder Reden zur Literatur enthält.

Eine weitere, glückliche Festlegung betrifft die Berücksichtigung der von Auerbach im Anschluss an die europäische Aufklärung und die mit ihr verbundene Religionskritik aufgenommenen Bemühungen um die Artikulation eines deutsch-jüdischen Selbstverständnisses, die in Auswahl und Nachwort zu Auerbachs vormärzlicher Literaturtheorie mitreflektiert wurden. Vor allem während der ersten Jahre seiner schriftstellerischen Tätigkeit hatte sich Auerbach ganz explizit jüdischen Themen zugewandt und antijüdische Vorstellungen zurückgewiesen. In der ebenfalls in Twellmanns Ausgabe enthaltenen Schrift „Das Judenthum und die neueste Literatur“ setzte sich Auerbach, abgesehen von einer Kritik an Börne und Heine, von dessen sensualistischer Literaturauffassung er sein eigenes Schreiben abgrenzt, vor allem mit der modernen, nationalen Judenfeindschaft auseinander, die ihn sein ganzes Leben lang beschäftigte und ihn 1835 durch die Angriffe Wolfgang Menzels auf das „Junge Deutschland“ zu einer Antwort herausforderte.

In seinen beiden ersten Romanen, „Spinoza. Ein Denkerleben“ (1837) sowie „Dichter und Kaufmann. Ein Lebensgemälde aus der Zeit Moses Mendelssohns“ (1840), behandelte Auerbach dann die enormen Veränderungen, die sich durch die gesellschaftliche Öffnung im Zuge von Aufklärung, Haskala und Emanzipation für jüdische Individuen ergaben. Paradoxerweise trug er mit diesen Romanen über den Ausgang aus dem Ghetto wesentlich zur Etablierung der Gattung der Ghettoerzählung bei. Er selbst dagegen wandte sich ab 1842 den „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ zu, die ihm einen nachhaltigen Erfolg als Schriftsteller sicherten.

Gerade darin aber, kommentiert Twellmann zutreffend, habe Auerbach „sein Selbstverständnis als deutscher Jude zum Ausdruck“ gebracht. Dieser Wechsel hin zu einer „volksthümlichen“ Literatur in deutscher Sprache, die sich an die gesamte Bevölkerung als Adressaten richtete, war der Versuch des „Volksaufklärers“ und liberalen Autors, darin Heinrich Heine durchaus ähnlich, die partikulare Emanzipation der Juden über eine Befreiung der deutschen Bürger von Bevormundung und Zensur zu erreichen. „Nicht vor den Juden sollte er predigen, sondern vor einem deutschen Volk“, heißt es dazu im Nachwort.

Twellmann gelingt es insgesamt überzeugend, zwei in der Forschung zu Auerbach bisweilen gegeneinander ausgespielte Aspekte miteinander zu verbinden: Einerseits das vor allem im Bereich der Jüdischen Studien naheliegende Erkenntnisinteresse an Auerbachs jüdischem Selbstverständnis und seiner Auseinandersetzung mit der jüdischen religiösen Tradition sowie andererseits die literaturwissenschaftliche Analyse insbesondere der „Schwarzwälder Dorfgeschichten“, bei der mitunter stillschweigend mit der identitären Zuschreibung des „deutschen Heimatdichters“ oder ähnlichen Kategorien operiert wird. Twellmann zeigt hingegen, wie Auerbachs jüdisches Selbstverständnis und seine Literaturtheorie und -praxis zusammenhängen.

Ausgehend von einer schon in der handschriftlichen Fassung von „Schrift und Volk“, die im Auerbach-Nachlass des Deutschen Literaturarchivs Marbach einzusehen ist, gestrichenen Passage mit dem Titel „Die Juden in der Volksschrift u. in ihrem Verhältnis zum Volksthum“, gibt Twellmann eine Erklärung für die Vermeidung jüdischer Themen in Auerbachs Publikationen seit Beginn der 1840er-Jahre, die seine Literaturtheorie genauso betrifft wie seine Erzählungen. Im Kern ist dies Auerbachs Hoffnung auf eine gesellschaftliche Integration der Juden in den enstehenden deutschen Nationalstaat, die an der „Idee eines über alle gesellschaftlichen Besonderheiten hinausgehenden universellen Menschentums“ orientiert bleibt. Diese Hoffnungen Auerbachs sollten sich bekanntlich nicht erfüllen.

Auerbach übernahm für seine in „Schrift und Volk“ vorgelegte Literaturtheorie einen aus der Aufklärung stammenden Volksbegriff, der darunter die Menge jener fasste, „deren Bildung nicht vermittelt ist durch die Schrift“, und maß der Literatur eine wichtige Funktion zur Bildung breiter Volksschichten bei. Ästhetik und Politik im Sinne eines Kampfes gegen Zensur und für die Erreichung staatsbürgerlicher Rechte kommen hier zusammen. Auerbach beteiligte sich, wie Twellmann nachweist, mit seiner Schrift an einer Debatte um „Volksschriften“, über die das liberale Bürgertum in Opposition zum Feudalstaat im Vormärz auf die unteren Leserschichten Einfluss zu nehmen versuchte. Im Unterschied zur Ästhetik autonomer Kunst verfolgte Auerbach mit seiner Poetik entsprechend „das Ziel, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu verändern“. Dabei hielt er allerdings insofern auch am Kunstpostulat der Weimarer Klassik fest, als er aus „den untergeordneten Gestalten aus der wirklichen und gewohnten Welt den Widerschein des allbeherrschenden ewigen Geistes“ poetisch zu gestalten erhoffte, durch den dann diese Gestalten „in ihrer Verklärung wieder in das Volk zurückkehren“ sollten. Mit dem Konzept der „Verklärung“ weist Auerbach zudem bereits auf den poetischen Realismus voraus, worauf Twellmann ebenfalls hinweist. Pointiert ausgedrückt versöhnte Auerbach, unter gewandelten historischen Bedingungen, den Gegensatz zwischen Schiller und Bürger, weil er zugleich für eine breiten Leserschichten zugängliche Literatur plädierte, deren Stoffe aus der Wirklichkeit der Leser entnommen werden sollten, und den Kunstanspruch aufrecht erhielt.

Den politisch engagierten und literaturtheoretisch avancierten Auerbach in zentralen Texten wieder zugänglich gemacht zu haben, ist die nicht gering zu achtende Leistung dieser erfreulichen Edition. Eingeschränkt auf den politischen Literaturtheoretiker im Vormärz hat auch die im Klappentext behauptete „Wiederentdeckung“ eine Berechtigung, die im Hinblick auf Auerbachs Gesamtwerk freilich inzwischen überzogen klänge.

Titelbild

Berthold Auerbach: Schriften zur Literatur.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Marcus Twellmann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
304 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835314184

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