Zwischen Fakten und Fiktionen

Artur Domoslawski demontiert den „Jahrhundertreporter“ Ryszard Kapuscinski

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „Der beste Reporter der Welt“: So betitelte das Magazin „Der Spiegel“ 2007 seinen Nachruf auf den eben verstorbenen Ryszard Kapuściński. Zu diesem Zeitpunkt war der Pole dem deutschsprachigen Publikum bereits ein Begriff. Bücher wie „König der Könige“ (deutsch 1984) über den früheren äthiopischen Herrscher Haile Selassie, „Schah-in-Schah“ (1986) über die iranische Revolution oder „Imperium“ (1993) über den Zerfall der Sowjetunion hatten den Reporter und Journalisten einer breiten Leserschaft bekannt gemacht.

Im Jahr 2010 veröffentlichte der polnische Journalist Artur Domosławski unter dem gleichermaßen bezeichnenden wie auch programmatischen Originaltitel „Kapuściński non-fiction“ ein Buch über seinen früheren Lehrer Kapuściński, das in Polen für großes Aufsehen und zum Teil gehässige Kritik sorgte. Domosławski selbst sieht sich auch nach der Publikation als Schüler und Freund Kapuścińskis – er bezeichnet letzteren im Buch wiederholt als „maestro“. Dabei verleiht er dem Wort jedoch auch einen ironischen Beigeschmack – wobei allerdings der Grad an Ironie von Verwendung zu Verwendung schwankt. Bereits hier wird deutlich, dass Domosławskis Annäherung an Kapuściński zwiespältig ausfällt. Es scheint, als sei sich der Biograf selbst nicht ganz sicher, wie stark er am Bild des „Jahrhundertreporters“ Kapuściński kratzen will.

Der durch das Buch ausgelöste Skandal entfaltete sich an zwei Hauptlinien entlang. Zum einen hat Ryszard Kapuścińskis Witwe Alicja bereits im Vorfeld über den gesetzlichen Weg versucht, das Erscheinen des Buchs zu unterbinden. Frau Kapuścińska machte dabei im Wesentlichen geltend, Domosławski habe ihr Vertrauen missbraucht. Er habe ihr nie gesagt, dass er eine Biografie schreibe; auch habe er Artikel und Material aus der Wohnung entwendet. Im Weiteren warf sie ihm die Verletzung ihrer Privatsphäre sowie derjenigen ihrer Tochter vor. In der Tat berichtet Domosławski auch einigermaßen ausführlich über das schwierige Verhältnis zwischen Tochter und Vater; aber auch von Kapuścińskis Frauengeschichten ist hie und da die Rede. Schließlich habe Domosławski die Publikationsrechte verletzt, da er in seinem Buch wiederholt längere Passagen aus den Werken des Reporters zitiere. Diese eine Hälfte des Skandals wurde zwar in Polen breit diskutiert, lässt aber die deutschsprachige Leserschaft wohl eher kalt – auch wenn es hier natürlich durchaus Anlass zu Grundsatzdiskussionen gäbe.

Interessanter, weil folgenschwerer, ist schon eher der zweite Teil des Skandals. Dabei geht es um die grundsätzliche Einschätzung von Kapuścińskis Lebenswerk. Domosławski betreibt nämlich eine gewisse „Demontage“ des Reporters, die sowohl dessen berufliches Renommee, als auch seine private Integrität betrifft. Dabei stehen zwei Aspekte im Vordergrund: Domosławski geht unter anderem der Frage nach, wie nahe Kapuściński dem polnischen Geheimdienst während der kommunistischen Zeit tatsächlich gestanden hat. Der Biograf stößt damit die Debatte nicht selbst an – bereits zuvor hat es in der Presse Veröffentlichungen zu diesem Thema gegeben. Die Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit – ob nun bewiesen oder „nur“ vermutet – ist in Polen (ähnlich wie in der ehemaligen DDR) ein äußerst heikles Thema, das zu einer nachträglichen Umbewertung ganzer Lebensläufe führen kann. Domosławski bemüht sich, die bisherigen Erkenntnisse zu vertiefen.

Wichtiger aber scheint der zweite Vorwurf, den der Biograf erhebt: Er weist nämlich nach, dass Kapuścińskis vorgebliche Begegnungen mit Leuten wie etwa Che Guevara, Salvador Allende oder Patrice Lumumba in Wahrheit nie stattgefunden haben. Auch andere „Fälschungen“, oder zumindest Übertreibungen und Ungenauigkeiten, meint Domosławski in Kapuścińskis Büchern zu finden. Er gelangt anschließend zu grundsätzlicheren Fragen, die er in seinem Buch ausführlich reflektiert: Darf ein Reporter in seiner Berichterstattung ganz bewusst fiktive Elemente verarbeiten? Und wenn ja, wie weit darf er dabei gehen? Ist es in diesem Fall überhaupt möglich, eine Grenze zu formulieren, die nicht überschritten werden darf? – Domosławski kreist immer wieder um diesen Fragenkomplex, er versucht zu verstehen, was Journalismus ist, was Literatur, und in welcher Beziehung die beiden Disziplinen allenfalls zueinander stehen. Man darf beruhigt festhalten, dass Domosławski hier durchaus vorsichtig und tastend argumentiert. Es es handelt sich also nun keine sensationslüsterne Demontage des ehemaligen „Lehrers“ kurz nach dessen Ableben. Domosławski ist sichtlich bemüht, Kapuściński ehrlich zu verstehen und ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Allerdings fällt dabei manches etwas gar repetitiv aus, die stets gleichen Argumente werden immer wieder aufgetischt. Das müsste nicht sein. Im Übrigen – und auch Domosławski gesteht das ein – hatte Kapuściński das Thema Fiktion versus Fakten in seinen Texten schon seit eh und je thematisiert, manchmal etwas deutlicher, meist aber in diskreter Art und Weise. Wer Kapuściński also genau gelesen hat, hat diese Töne sehr wohl vernommen und wird jetzt vielleicht vom Ausmaß von Domosławskis „Vorwürfen“ überrascht sein, nicht aber vom Thema an und für sich.

Man kann an dieser Stelle beispielhaft auf das oben erwähnte Buch über Haile Selassie verweisen, wo das Thema bereits in der Konzeption des Textes identisch wird. Kapuściński selbst nannte sein Buch eine Allegorie: Er wollte darin „den archaischen Charakter aller Autokratien zeigen“. Eine solche Umschreibung hebt die konkrete Geschichte von Haile Selassie ins Allgemeine. Es verwundert daher nicht, dass „König der Könige“ von der Leserschaft sogleich auch auf die Verhältnisse im kommunistischen Polen bezogen wurde. Im Hinblick auf die Gattung wurde das Buch als eine Mischung von Roman, politischer Reportage und Allegorie verstanden.

Artur Domosławski nähert sich Ryszard Kapuściński mit Hilfe einer kombinierten Methode und von verschiedenen Seiten her gleichzeitig: Durch ein close reading von Kapuścińskis Büchern und Artikeln, durch zahlreiche Gespräche mit Menschen im Inland und Ausland, die Kapuściński gekannt haben, aber auch durch eine Art breiter Rekonstruktion der Wirklichkeit, in der Kapuściński sich bewegt und gearbeitet hat.

Eine deutschsprachige Leserschaft wird aus Domosławskis Buch über Kapuściński nicht unbedingt den gleichen Gewinn ziehen wie die Polen. Das hat mit dem unterschiedlichen Erwartungshorizont zu tun, vor allem aber mit dem hierzulande doch geringeren Allgemeinwissen über die polnische Realität im 20. Jahrhundert. Für ein deutschsprachiges Publikum hätte das Buch, wie gesagt, doch um einiges gekürzt werden können. Von zentralem Interesse bleibt die schillernde und widersprüchliche Person Kapuścińskis. Aber auch die Einblicke in das Verlagswesen und die politische Realität Polens sind durchaus erhellend – sie bieten quasi nebenbei eine Lektion in polnischer Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Domosławski stellt Kapuścińskis Bücher bisweilen detailliert vor: Man erfährt so vieles über deren Inhalt, und die langen Ausschnitte animieren zur Lektüre der betreffenden Bücher. Zugleich wird man noch einmal an die Zeit der Entkolonialisierung in Afrika und Lateinamerika erinnert, deren Zeuge Kapuściński war: Man liest von der Hoffnung auf eine neue Epoche und der darauf folgenden Enttäuschung, man erfährt von der sowjetischen und amerikanischen Einflussnahme in der „Dritten Welt“. Nicht zuletzt lernen wir Leser aber auch einiges über die Arbeitsweise von Journalisten, Reportern und Korrespondenten im Ausland zu einer Zeit, die noch nicht die heute geläufigen Hilfsmittel und Möglichkeiten kannte. Etwas Aktualität gewinnt Domosławskis Buch auch durch den Tod von Gabriel García Márquez vor einigen Wochen – von ihm ist verschiedentlich die Rede, denn Kapuściński war mit ihm befreundet. Und nicht zuletzt interessiert natürlich vor allem die Grundsatzdebatte über das Verhältnis von Fakten und Fiktion.

An der Übersetzung sind leider einige Fehler und Nachlässigkeiten zu bemängeln. Korrekt ist „gang und gäbe“ (nicht „Gang und Gäbe“); der Plural von „Szenario“ lautet „Szenarios“ oder „Szenarien“ (und nicht „Szenario“); richtig ist Boogie-Woogie (nicht „Boogi-Woogi“). Die kolumbianische Hauptstadt wird auf Deutsch „Bogotá“ geschrieben (und nicht „Bogota“ – das ist die polnische Schreibweise). Aus dem „caudillo“ Juan Perón machen die Autoren leider einen „claudillo“, und russische Eigennamen werden in polnischer statt deutscher Schreibweise wiedergegeben („Fediaszyn“, statt korrekt „Fedjaschin“). Dazu gesellen sich doch zahlreiche Komma- und Druckfehler. – Kleinigkeiten? Das mag man so sehen. Aber die Genauigkeit ist nun einmal ein Grundpfeiler des Übersetzungshandwerks – und schließlich ja auch eines der wichtigen Themen in Domosławskis Annäherung an Ryszard Kapuściński!

Titelbild

Artur Domoslawski: Ryszard Kapuscinski. Leben und Wahrheit eines "Jahrhundertreporters".
Übersetzt aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasinska und Benjamin Voelkel.
Rotbuch Verlag, Berlin 2014.
688 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783867891851

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